Der Gestrandete. Volker Kaminski

Der Gestrandete - Volker Kaminski


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Ja, genau, als wäre ich nicht mehr Teil dieser Welt.“

      „Schon merkwürdig“, sagte ich, „du hättest dich doch eigentlich um deine Schauspielerei kümmern sollen. Hast du dort nichts dafür unternommen?“

      „Alles, was es in Teneriffa in dieser Hinsicht gab, waren die Hotelbühnen fürs Unterhaltungsprogramm. Dort waren Zauberer oder Sänger mehr gefragt als Schauspieler. Ich traf in all den Jahren eigentlich nur einen einzigen Menschen, der sich überhaupt für Kunst interessierte. Der war allerdings ein spezieller Typ, ein Holländer aus Amsterdam, der früher Drogen nahm und oft ein wenig abwesend wirkte. Ich habe später erfahren, warum. Er hatte im Streit einen Mann umgebracht.“

      „Was? Ein Mörder?“

      „Ein Totschläger. Es war Totschlag, nicht Mord. Das hat es mir versichert. Jan, hieß er.“

      „Und was ist da genau passiert?“

      „Das weiß ich nicht. Jan wollte nicht darüber sprechen. Er machte bloß ein paar Andeutungen, dass es vor einer Kneipe passiert ist.“

      „Und wurde er gefasst?“

      „Nein, ich glaube, er hat sich der Strafe entzogen. Jan war total okay, wirklich, ein absolut gutmütiger Kerl. Wenn du ihn gekannt hättest, hättest du ihm eine solche Geschichte nicht zugetraut.“

      Beim Verabschieden fragte ich ihn, wo er zurzeit wohne. Er nannte eine Adresse in der Nähe des Bahnhofs. Mir fiel ein, dass er in der Galerie in Begleitung von Frau Hauser gewesen war.

      „Frau Hauser wohnt auch dort, soviel ich weiß. In einer dieser schönen Seitenstraßen unweit des Hauptbahnhofs.“

      „Ja, stimmt. Sie ist übrigens meine Tante. Zurzeit habe ich noch ein Zimmer bei ihr, aber ich suche nach einer kleinen Wohnung. Also, wenn du mal etwas hören solltest.“

      4

      Meine Stimmung war in diesen Wochen vor allem von den düsteren Bildern der Katastrophe im Indischen Ozean geprägt. Doch manchmal kam mir selbst meine Arbeit als Journalist wie die Tätigkeit eines Bestatters vor. Wurde nicht täglich vom Sterben der Zeitungen berichtet? Geisterten nicht Totengräber durch die Redaktionen, die auf diesen, auf jenen und einen dritten Stuhl zeigten, woraufhin der betreffende Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zur Monatsfrist „freigesetzt“ wurde?

      Verglichen mit der Wucht eines Tsunamis, war das Zeitungssterben natürlich sanft; aber wem sein Job gekündigt, wem von heute auf morgen gesagt wurde, er werde im Haus nicht mehr gebraucht, der fühlte sich unter Umständen auf andere Weise wie weggespült und rang verzweifelt um Atem.

      Hauptsächlich belieferte ich mit meinen Artikeln eine große Tageszeitung, nachdem meine Arbeit für die übrigen Blätter im Lauf der Jahre unsicherer geworden war. Die verbliebene Zeitung lag jedoch ihrerseits im Sterben, und wenn wir freien Schreiber uns nicht sehr anstrengten und durch unsere schlecht bezahlten Beiträge ihren Zustand stabilisierten, drohte bald die letzte Ölung. Insgeheim plante ich eine Existenz jenseits des Journalismus. Meine Arbeit für ReFuge wies ja bereits in diese Richtung; dort durften die Gedanken frei schweifen, ohne Zwang zur Aktualität. In dieser Zeitschrift ging es nicht darum, Informationen zu vermitteln, die jeder schon irgendwo aufgeschnappt hatte und die am Abend niemand mehr interessierten. Wichtiger war hier, dass eine schöne Sprache gefunden wurde, eine Sprache, die sowohl jedem zugänglich als auch einprägsam war. Informationen und Faktenwissen waren überall zu erhalten, dagegen gab es kaum etwas zu lesen, das die emotionale Seite im Umgang mit Katastrophen und Verheerungen beschrieb.

      Ich betrachtete am frühen Nachmittag die Bäume in unserem Garten und entdeckte an den Zweigen sprießendes Grün. Ich saß auf einem gepolsterten Stuhl am Rand des Rasens und rauchte eine Zigarette. Mich packte wie jedes Jahr eine Art Frühlingsschwermut angesichts dieser naiven Kraft, die überall im Garten bemerkbar wurde. Ich wurde dieses Jahr dreiundvierzig, aber das scherte diese gierig strotzenden Pflanzen überhaupt nicht, der Garten würde wieder genauso schön werden wie im vergangenen Sommer. Die Natur funktionierte wie eine Maschine, die ewig läuft, ohne zu altern. Sie sorgte für Vermehrung und Ausdehnung, ließ Blüten und Früchte entstehen, doch genauso gefiel es ihr manchmal, alles wegzufegen, was ihr im Weg stand, und das Leben auszulöschen. Das Ganze hatte so wenig Sinn und Bedeutung wie eine Ziffer im Weltall.

      Wer je versucht hat, unsere Abhängigkeit von der Natur zu beschreiben, der ist auf seinem Stuhl melancholisch geworden. Ich wusste, wie leicht sich Resignation in die Arbeit daran mischte, darum räumte ich den Autoren, die für ReFuge zum Thema Naturkatastrophe schrieben, große Freiheiten ein. Zwischen Hymnus und Pamphlet, zwischen Schmähung und Vergötterung sollte alles erlaubt sein. Ich wollte lesen, was die Natur denkenden und schreibenden Menschen heutzutage erzählte.

      Die Arbeit an der ReFuge erlöste mich manchmal vom Betteljournalismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Natur konnte kaum erbarmungsloser sein als der Abstieg, den die Zeitungen derzeit erlebten. Der Stand des gründlich Lesenden, in den Rubriken Blätternden, stundenlang darin Verweilenden, schien auszusterben. Mit dem Rascheln der Seiten erstarb auch die Tragweite von Nachrichten und Kommentaren, und zurück blieb die blinkende Fülle von Skandälchen und Sensationen. Eine solche „Sensation“ war natürlich auch jenes spektakuläre Unglück vom 26. Dezember 2004, das zwar heute fast schon wieder vergessen war, aber dennoch zu den furchtbaren Großereignissen der jüngsten Geschichte zählte.

      Ich hatte schon etliche Texte der Autoren ausgedruckt und trug sie in einer Mappe bei mir. Ehe ich sie Alexander Mill schicken konnte, musste ich sie aber redigieren. Diese Arbeit erledigte ich zu Hause, wo ich es bequemer hatte. Ich las und korrigierte eine Stunde im Garten, bis mir kühl wurde, dann setzte ich mich ins Wohnzimmer an den niedrigen Tisch, dessen schwere Platte aus einem bunten Mosaik bestand.

      Kurz nach acht hörte ich den Schlüssel in der Wohnungstür. Eveline kam mit Frank ins Wohnzimmer, wo ich noch am Tisch saß und in den Manuskripten blätterte.

      Es war Donnerstag, der Abend der Theatergruppe. Frank sah in seinem Sweatshirt ein wenig verschwitzt aus.

      „Habt ihr Hunger?“, fragte sie. „Ich richte uns ein paar Tapas!“

      Während ich das Papier wegräumte und Eveline anfing die Sachen aus dem Kühlschrank zu holen, setzte sich Frank auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters. Es war einer unserer „Biedermeierstühle“ aus dem Familienbesitz.

      „Woran arbeitest du gerade?“, fragte er.

      „Ach, es geht um die neue ReFuge. Ich habe mir einen Überblick über die aktuellen Einsendungen verschafft.“

      „Was ist ReFuge?“, fragte er.

      „Eine Literaturzeitschrift.“

      Wir setzten uns an den Tisch und begannen uns die Teller mit Tapas zu belegen. Ich entkorkte die Rotweinflasche und füllte die Gläser.

      Frank hatte sich mit an den Tisch gesetzt, als würde er zur Familie gehören.

      Ich war noch gedanklich bei einem der Texte, in dem das dramatische Geschehen auf Sumatra und die brutale Welle aus der Sicht einer Zwölfjährigen beschrieben worden waren.

      Frank fragte mich nach meiner Funktion bei der Zeitschrift. Als ich ihm beiläufig darauf antwortete, rief er: „Chefredakteur? Du bist Chefredakteur? Das ist ja wunderbar. Und was sind das für Texte, Gedichte?“

      „Gedichte habt ihr bis jetzt noch nicht abgedruckt, oder?“, sagte Eveline.

      „Es ist eine Prosazeitschrift“, sagte ich. „Ich finde, Prosa muss heutzutage gefördert werden. Unsere Aufgabe besteht darin, die Leser dazu zu verführen, fünfzehn dicht gehärtete Seiten in einem Zug zu lesen – gebannt und konzentriert. Das hat heute schon Seltenheitswert.“

      „Und wovon handeln die Texte der neuen Ausgabe?“

      Ich wollte es ihm gerade erklären, doch gleich nach dem ersten Satz fiel er mir ins Wort.

      „Der Tsunami? Du meinst, den Tsunami von 2004? Stell dir vor, den habe ich auf Bali miterlebt. Es war die reine Hölle. Und ich hatte noch Glück.“

      „Du


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