Der Gestrandete. Volker Kaminski

Der Gestrandete - Volker Kaminski


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beim Frühstück im Hotel, als es losging. Davor war ich noch kurz am Strand gewesen. Als ich mich an den Tisch auf der Terrasse setzte, fiel mir auf, dass das Meer an diesem Morgen sehr flach war. Es schien eine kilometerweite seichte Fläche zu sein, ich sah viele schwarze Punkte am Boden, das waren große Muscheln, die sonst nie zu sehen waren. Ich überlegte, ob ich wieder hinuntergehen und mir das alles aus der Nähe ansehen sollte. Unten waren wie immer viele Urlauber mit ihren Kindern, die tollten im Sand herum. Kurz darauf fiel mir etwas auf, ich dachte zuerst, es sei die Gischt eines Kreuzfahrtschiffs, aber plötzlich war da ein breiter grauer Streifen auf ganzer Front zu sehen. Ziemlich hoch und deutlich zu erkennen. Das ist kein Schiff, dachte ich, das sieht aus wie Nebel. Ich wusste in dem Moment noch nicht, dass es eine Welle war und dass ein Tsunami auf die Küste zuraste. Dann ging alles sehr schnell. Die Welle kam angerast, aber kaum jemand am Strand schien sie zu bemerken. Ich rannte schreiend hinunter, andere folgten mir. Ich sah zwei kleine Kinder in der Nähe, packte sie an den Händen und zog sie hinter mir her. Wir kamen bis ins Hotel. Dort erwischte uns das Wasser. Durch den ganzen Raum ergoss es sich mit unvorstellbarer Wucht. Ich schaffte es bis zur Treppe und zog die beiden schreienden Kinder einfach mit mir hoch. Es war buchstäblich Rettung in letzter Sekunde.“

      Als er schwieg, konnte ich nichts sagen. Ich hatte auch zu essen aufgehört.

      „Man hat diese Dinge ja in den Nachrichten gesehen“, sagte Eveline, „aber vorstellen kann man es sich trotzdem nicht richtig.“

      „Was hast du denn auf Bali getrieben?“, fragte ich. „Urlaub?“

      Er nahm einen Schluck Rotwein und schüttelte den Kopf.

      „Ich war bereits ein ganzes Jahr dort, als der Tsunami kam.“

      „Und was macht man ein Jahr auf Bali?“, fragte Eveline.

      Sie schien nicht mitzubekommen, dass ihm das Thema unangenehm war. Er war blass geworden, als sie ihn nach seiner Zeit auf der Insel fragte.

      Ich nahm mir noch ein paar Tapas und nutzte die kurze Pause, um selbst eine Frage zu stellen.

      „Mich würde interessieren, wie du diese Katastrophe verarbeitet hast? Viele Menschen, die so etwas erleben, haben Spätfolgen, Angstzustände, Panikattacken ...“

      „Panikattacken habe ich zum Glück keine. Aber wenn ich davon spreche, wird es mir jedes Mal wieder mulmig. Dann sehe ich alles wieder vor mir, rieche das Wasser und höre die Schreie.“

      „Das kann ich gut verstehen“, sagte Eveline. „Das muss furchtbar gewesen sein! Erzähl, wie es weiterging.“

      Je mehr er sprach, desto hilfloser wirkte er. Er versuchte sich offenbar die Szenerie im Hotel zu vergegenwärtigen und baute im Geist das ganze Durcheinander noch einmal auf. Aber er schüttelte immer wieder den Kopf und unterbrach seine Rede, als könne er sich nicht mehr genau erinnern.

      „Ich habe schon so lange nicht mehr davon gesprochen. Es kommt mir vor, als wäre das in einem früheren Leben passiert.“

      „Warum isst du denn nichts?“, fragte Eveline und schenkte ihm wieder Wein nach.

      Ich sah, dass er Mühe hatte die Fassung zu wahren. Er sprach zwar weiter, aber der Schweiß auf seiner Stirn und sein stierer Blick verrieten mir, dass ihm das Thema zusetzte. In meiner Vorstellung war der Tsunami eine der schlimmsten Katastrophen, in die ein Mensch geraten konnte. Die Welt stand in diesem Moment kopf, alle Beziehungen lösten sich auf, jeder Halt wurde in den Strudel gerissen. Wenn Frank ein solches Chaos aus nächster Nähe – im ersten Stock des Hotels – miterlebt hatte, dann hatte er Momente schlimmster Verlassenheit, Ängste eines frei schwebenden Menschen im Weltall durchgemacht.

      Nach einer halben Stunde sagte er, er wolle gehen. Er bat mich, ihn kurz vor die Tür zu begleiten. Er müsse mir noch etwas sagen.

      Wir zogen unsere Jacken an und gingen auf die Straße. Es war ein dunstiger Maiabend. Ohne lange zu überlegen, ging ich auf die Alb zu, um auf den Spazierweg längs des Flüsschens zu gelangen. Er folgte mir die wenigen Treppenstufen hinunter, wir gingen über die kleine Brücke und blieben ans Geländer gelehnt vor dem rauschenden Wehr stehen.

      Frank blickte in das schäumende Wasser, das nur etwa zwei Meter vor uns durch die Schleusenanlage gejagt wurde. Es war ein gleichmäßiges Rauschen, das die Dunkelheit durchschnitt, ohne dass es einen zu sehr bedrängte.

      Nach ein paar Minuten sagte er seufzend: „Hätte ich doch auch die ganze Zeit hier leben können! Tagsüber das Büro. Abends ein bisschen an der Alb spazieren.“

      „Du hast dich in der Welt umgesehen. Ist doch auch nicht schlecht.“

      Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

      „Das Reisen wird allgemein überschätzt. Es ist ja doch nur das Sahnehäubchen auf dem unbegreiflichen Ganzen. Außerdem kann es einen aus der Bahn werfen und süchtig machen. Ich hätte mir lieber etwas aufbauen sollen. Jetzt muss ich mit über Vierzig noch mal von vorne anfangen. Mit Laien zusammen Theater spielen. Ich will nicht undankbar sein, ganz und gar nicht. Es ist ein großer Glücksfall, dass ich dich und deine Frau getroffen habe. Und dass Eveline mich in die Gruppe aufgenommen hat.“

      Ich spürte, dass er irgendeine Reaktion von mir erwartete, aber ich schwieg.

      „Du weißt nicht, wie wichtig das für mich ist“, fuhr er fort. „Ich war total am Ende, sah keinen Ausweg mehr. Und da treffe ich euch.“

      „Sag mal, wo hast du eigentlich deine spätere Frau kennengelernt?“

      „In Teneriffa. Nicki war auch Animateurin und wir haben lange zusammengearbeitet und uns angefreundet. Dann haben wir in Santa Cruz geheiratet. Nach einem dreiviertel Jahr war die Ehe schon kaputt.“

      „Das ist schwer vorstellbar.“

      „Alles ist schwer vorstellbar!“, sagte er plötzlich laut. „Wenn man hier steht, umgeben von dieser Fluss-Idylle, dieser wohl tuenden Sicherheit, diesem kleinen feinen Leben!“

      „Was willst du damit sagen?“

      Er schwieg, schaute ins Wasser und hielt das Geländer mit beiden Händen umklammert.

      „Warst du wirklich so lange auf Bali?“, fragte ich. „Hast du denn so dick geerbt, dass du dir das leisten konntest?“

      „Nein, natürlich nicht.“ Er seufzte und hob den Kopf. „Bali, das klingt für dich vermutlich nach Abenteuer, Exotik, Vulkane und Felsentempel und so weiter. Das ist dort alles zu sehen, aber ich war nicht als Tourist unterwegs. Ich habe in einem kleinen Strandressort als Callboy gearbeitet. Das war alles. Wäre der Tsunami nicht gekommen, würde ich wahrscheinlich heute noch dort arbeiten. Allerdings wird man auch nicht gerade jünger.“

      Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

      Etwas hilflos stammelte ich schließlich: „Als Callboy? ... Warum ...?“

      Er stieß einen verächtlichen Laut aus.

      „Ich hab das verdammte Geld gebraucht.“

      „Und jetzt willst du vermutlich, dass ich Eveline nichts davon sage?“

      „Nein, das ist nicht meine Sorge. Ich will nur, dass du mich nicht verachtest und schlecht über mich denkst. Mir ist der Kontakt zu euch absolut wichtig. Ich will euch nicht belügen. Darum bin ich so offen und erzähle es dir. Auch wenn’s mir nicht leicht fällt.“

      Sein Geständnis verblüffte mich tatsächlich. Wie hatte er in diese Lage kommen können sich zu prostituieren? Ich spürte eine Abneigung, ja eine Fremdheit, die nicht zu überbrücken war. Immerhin hatte er sich mir anvertraut und wirkte ziemlich kleinlaut. Bei allem Widerstand beeindruckte mich seine Offenheit. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass er noch mehr Geheimnisse besaß, die er mir Schritt für Schritt offenbaren würde. Vor allem aber war ich erleichtert, dass er trotz seiner scheinbar abenteuerlichen Reisen keinen glänzenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns um unser geordnetes Dasein beneidete.

      5

      Unser Alltag hatte sich seit diesem


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