Liturgie und Poesie. Alex Stock

Liturgie und Poesie - Alex Stock


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Sprachbewegung der Dichtung selbst. Ihr kommt man nur auf die Spur, wenn man den Lesevorgang selbst, in den wir uns durch die literarischen Texte verstricken lassen, als den Ort begreift, wo Dichtung sich realisiert. Vielleicht hat D. Sölle, die den Begriff der „Realisation“ in die theologische Literaturdiskussion eingebracht hat, dies auch im Sinn gehabt, wenn sie „Realisation“ als „Gewinn an Sprache, an Ausdrucksmöglichkeit, an angeeigneter Welt“9 interpretiert. Es ist sehr wichtig, sich in der Weltliteratur umzusehen, wie die alten Motive und Themen des Christentums jenseits des kirchlich verwalteten Terrains weiterverhandelt werden. Aber erst, wenn durch diese Lektüre den lesenden Theologen selbst etwas geschieht, wenn das Lesen solcher Literatur die Theologie nicht nur ornamental umspielt, sondern in ihre ureigene Schreib- und Redeweise eingreift, wird die Bedeutung der Poesie für die Theologie Ereignis. Der theologisch eigentlich interessante Ort der Poesie, insbesondere der modernen, ist somit das Arbeitsfeld einer theologischen Poetik. Da geht es primär nicht darum, ob man hier oder da einmal ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte „einsetzen“ kann, sondern um sprachliche poiesis im ursprünglichen Sinne des Machens, Herstellens, Anfertigens von Texten und Textkompositionen.

      Auf diesem Gebiet ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten atemberaubend viel einfach gemacht worden, in den verordneten Textreformationen der Liturgien, Gesangbücher, Bibelübersetzungen wie in der freihändigen Durchführung und Eigenproduktion vor Ort. Eine von der Poesie, zumal der modernen, belehrte Poetik hat dabei, wie mir scheint, keine bedeutende Rolle gespielt. Ob sie das gekonnt hätte oder in den verbliebenen Spielräumen noch kann, steht freilich dahin. Man kann es nur experimentierend auskundschaften. Nur im Durchgang durch sie selbst kann man schrittweise herausbekommen, was Poesie für die Theologie austragen könnte.

      Der lateinischen Herkunft des Begriffs folgend, könnte man „Qualität“ zunächst im ontologischen Sinne der scholastischen „qualitas“ verstehen, als Beschaffenheit eines bestimmten Seienden, hier also der Eigenart jener bestimmten Textkörper, die man als Kirchengesänge bezeichnet. Im Zuge solchen Verständnisses wäre eine Taxonomie von Textsorten des Kirchengesangs vorzulegen, eine Typologie von Genera litteraria, in denen er sich realisiert. Bei der Bestimmung des Genus litterarium kommen bekanntlich formale und funktionale Komponenten zusammen; analog zu einem in der Kunstgeschichte gebräuchlichen Begriff könnte man von „Funktionsformen“ sprechen. Eine solche Sichtung der hymnodischen Genera et Species ist unverzichtbar, damit man weiß, von welchem literarischen Feld man überhaupt spricht. Aber der Begriff „Qualität“ ist im vorliegenden Zusammenhang nicht vorrangig in diesem ontologischen Sinne von literarischer Beschaffenheit gemeint, sondern im normativen Sinne von Wertigkeit. Es steht weniger die Klassifikation nach generischen Differenzmerkmalen zur Debatte als die Erörterung von Wertmaßstäben und Urteilskriterien. Es geht um eine Kriteriologie, die freilich ohne taxonomische Ordnung im Nebel stochert.

      Bewertung setzt eine Situation der Wahl voraus, in der es zugleich möglich und nötig ist, das eine dem anderen vorzuziehen. Im Bereich des Kirchengesangs gibt es zwei exemplarische Wahlsituationen: die zumeist über mehrere Jahre sich erstreckende Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs und die zumeist im Stundenmaß bleibende Mikrosituation der Entscheidung über die Liedgestaltung eines bestimmten Gottesdienstes. Die Resultate dieser beiden Wahlentscheidungen sind miteinander verschränkt. Die Globalentscheidung des Gesangbuchs befindet darüber, was langfristig als Repertoire dem Gemeindegesang zur Verfügung stehen soll. Die Mikroentscheidungen der Liturgen vor Ort befinden, jedenfalls in der Summe ihrer Bevorzugungen und Vernachlässigungen, darüber, was wirklich unter das Volk kommt und was als hymnodischer Ladenhüter verstaubt. Es wäre eine lohnende Arbeit empirischer Hymnologie, zu ermitteln, welche Gesänge, bezogen auf ein bestimmtes Gesangbuch, realiter in Gebrauch genommen worden sind, in welchem Umfang, zu welchen Anlässen, aus welchen Gründen. Solche von den lokalen Liturgen oder liturgischen Gremien gelenkte hymnologische Volksabstimmung über ein Gesangbuch kann zwar nicht alleiniger Maßstab sein, aber ihre Ergebnisse könnten doch den Realitätssinn von Gesangbuchmachern im Hinblick auf künftige Entscheidungen schärfen, jedenfalls der kriteriologischen Reflexion bodennahe Fakten bieten.

      Da mir solche empirischen Untersuchungen aber nicht zur Hand sind, niste ich meine Überlegungen in der Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs ein und wähle dazu den exemplarischen Fall des ersten katholischen Einheitsgesangbuchs deutscher Zunge, des in den Jahren 1963 bis 1975 entstandenen „Gotteslob“.10 Die verantwortlichen Hersteller dieses Gesangbuchs haben in einem umfänglichen Redaktionsbericht über Entscheidungsprozeduren ihrer zehnjährigen Arbeit Auskunft gegeben.11

      Dieses Gesangbuch mitsamt den Informationen über seine Entstehung wirft für den an diesem Prozess nicht beteiligten, aber von seinem Ergebnis betroffenen Theologen eine Fülle von Fragen auf hinsichtlich des Konzepts und Verfahrens dieser einschneidenden Veränderung der Gesangbuchlandschaft des deutschsprachigen Katholizismus. Aber es ist hier nicht der Ort einer kirchen- und theologiegeschichtlichen Gesangbuchanalyse in toto.12 Es geht um etwas Begrenzteres, die Frage der Qualität kirchlicher Gesänge. Auch das ist schon ein weites Feld.

      Als beschleunigender Anlass und legislativer Hintergrund des neuen Einheitsgesangbuchs ist die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils anzusehen. In der Liturgiekonstitution des Jahres 1963 und den nachfolgenden Dokumenten zur „Musica sacra“ wird als allen Reformen zugrundeliegender Grundsatz herausgestellt, dass die Musik als „pars integralis“ der Liturgie zu betrachten sei.13 Der Kirchengesang des Chores oder des Volkes soll nicht mehr etwas sein, was die eigentlich allein vom Priester gefeierte Messe als eine Art Parallelaktion begleitet, sondern übernimmt als solcher bestimmte Funktionsstellen der Liturgie. Diese unbestreitbare Aufwertung der liturgischen Rolle der singenden Gemeinde bindet sie jedoch gleichzeitig auch enger an die Vorgegebenheiten der offiziellen Liturgie. Die funktionelle Beförderung bedeutet zugleich eine Einengung des Spielraums. Ein Passus der Instruktion „Musicam Sacram“ von 1967 macht das deutlich: „Aus dem überlieferten Schatz der Kirchenmusik soll zunächst das hervorgeholt werden, was den Bedürfnissen der erneuerten Liturgie entspricht; sodann sollen Fachleute prüfen, ob anderes diesen Bedürfnissen angepasst werden kann; das übrige schließlich, das mit dem Wesen und der angemessenen seelsorglichen Ausrichtung der liturgischen Feier nicht in Einklang gebracht werden kann, soll nach Tunlichkeit in Andachtsübungen, besonders auch in selbständige Wortgottesdienste übernommen werden.“14

      Die Übernahme dieser liturgiereformerischen Grundstellung in die Kriteriologie der Gesangbuchherstellung hatte in Interferenz mit einer Reihe anderer Einflüsse der Zeit um 1970 erhebliche Veränderungen im Gefolge. Die vorrangige Orientierung an den messliturgischen Funktionsstellen der Ordinariumsgesänge Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei wie der primär antiphonal-psalmistisch verstandenen Propriumsgesänge hatte im „Gotteslob“ eine, an der älteren katholischen Gesangbuchpraxis gemessen, exorbitante Zunahme von „nichtliedmäßigen Gesängen“, Kehrversen, Psalmen, Akklamationen usw. zur Folge. Der produktive Eifer auf diesem liturgiefunktional neu erschlossenen Feld scheint weniger auf der literarischen als auf der musikalischen Ebene am Werk gewesen und dementsprechend eher einer musikologischen Analyse und Kritik zuzuordnen zu sein.

      Die außergewöhnliche Expansion dieser Form des Kirchengesangs gibt jedoch auch zu pastoralliturgischen Rückfragen Anlass, welchen Wert es etwa hat, dass die Gemeinde – allein den Stammteil gerechnet – z. B. das Sanctus in insgesamt 18 Varianten singen kann, fünf lateinisch-gregorianischen, acht deutsch-verbalen und fünf deutsch-paraphrasierenden. Wenn das Evangelische Gesangbuch (EG) mit fünf Sanctus-Gesängen auskommt, dann hat das sicher seinen Grund in dem anderen Rang der Abendmahlsfeier, aber auch die älteren katholischen Diözesangesangbücher waren auf diesem Sektor viel bescheidener. Variatio delectat!? Dass die Variantenbildung auf dem Gebiet der Ordinariumsgesänge wie der Kehrverse kirchliche Komponisten delektiert, ist nicht zu übersehen. Aber diese Produktionslust ist abzuwägen gegen die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses, das mit der Steigerung der Varianten eher verschwimmen könnte, ohne dass im Gegenzug mit den einzelnen Varianten ein merklicher Bedeutungsgewinn zu verbuchen wäre. Eine Qualitätsprüfung hätte hier zu bedenken, ob nicht eine Reduzierung der Produktpalette die memoriellen Rezeptionschancen erhöhen


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