Liturgie und Poesie. Alex Stock

Liturgie und Poesie - Alex Stock


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– gelingt, über den begrenzten Funktionsraum der Liturgie hinaus zu wirken in die memorielle Kultur.

      Reformerische Uniformierung kann bestehende literarische und musikalische Gedächtnisstränge abreißen, die Einführung einer übermäßigen Variantenfrequenz sie erst gar nicht zustande kommen lassen. Die Ausbildung eines christlich geprägten Gedächtnisses als Referenzhorizont der wechselnden Alltagserfahrung erscheint mir als eine wichtige Zielperspektive des Gottesdienstes, die durch rein liturgiefunktionelle Bewertung nicht konterkariert werden sollte.

      Die erwähnte liturgiereformerische Neubewertung des Kirchengesangs hat also einerseits zu einer produktiven, in ihrem Produktionseifer aber durchaus befragbaren Expansion nicht liedmäßiger Gesänge geführt. Andererseits schränken die liturgiefunktionalen Vorgaben, wenn man sie ernst nimmt, den Gebrauch der eigentlichen Kirchenlieder der deutschsprachigen Tradition zwangsläufig ein. Als messliturgische Gesänge zum Einzug, zwischen den Lesungen, zur Gabenbereitung, zur Kommunion sind viele dieser Lieder nach Herkunft, Umfang und inhaltlicher Ausrichtung nicht unmittelbar geeignet. Sie würden also, dem Siebprinzip der Instruktion „Musicam sacram“ entsprechend, eher in den Bereich der „pia exercitia“, der paraliturgischen Andachtsübungen gehören. Dass viele spezifisch katholische Lieder der deutschsprachigen Tradition nach Genese und Gebrauch im Bereich der Volksandachten, Messandachten, Prozessionen usw. anzusiedeln sind, ist offenkundig. Eben dieses für die katholische Frömmigkeit sehr prägende Andachtswesen wurde nun nicht nur von den liturgiereformerischen Kräften, die in klerikal-monastischer Tradition Messliturgie, Wortgottesdienst und Stundengebet favorisierten, vernachlässigt, es unterlag in der Zeit um 1970 auch dem Prozess einer frömmigkeitspraktischen Erosion großen Ausmaßes.15 Die sozioökonomisch bedingte Reduzierung der religiösen Aktivitäten auf den Sonntagsgottesdienst konvergierte mit dessen ekklesialer Hochschätzung. Viele einst sehr gebräuchliche und gern gesungene Lieder aus dem Bereich der Marien- und Heiligenverehrung, der Sakraments- und Herz-Jesu-Frömmigkeit, der Kreuzweg-, Mai- und Rosenkranzandachten gerieten durch diese Entwicklung in eine labile Position. Das „Gotteslob“ gibt das durch Reduzierung und ideologische Überarbeitung des einschlägigen Repertoires zu erkennen. Wie es mit dem faktischen Gebrauch der in diesem Bereich beibehaltenen Gesänge steht, wäre empirisch zu untersuchen. Der faktische Nichtgebrauch ist der härteste Prellbock der gesamten Qualitätsdiskussion.

      Natürlich erschöpft sie sich nicht im Kriterium der tatsächlichen Verwendung. Ich möchte mich darum der Frage poetisch-theologischer Wertmaßstäbe zuwenden, begrenzt auf das Feld der eigentlichen Kirchenlieder. Meine Überlegungen schließen sich an Beispiele an und zwar an strittige Fälle, weil sich an ihnen die zur Bewertung vorgebrachten Argumente und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien am besten validieren und diskutieren lassen. Der Redaktionsbericht liefert hinsichtlich der Auswahl und Bearbeitung von Liedern ausreichend strittige Fälle, aus denen ich einige ad modum exempli auswähle.

      Ich nehme als erstes ein kleines Lied, das es nicht geschafft hat. Der Fall ist deswegen etwas gewichtiger, weil es sich um ein Lied handelt, „das eine gewisse Festigkeit gegenüber den Abnutzungsprozessen der Zeit“16 erwiesen hatte. Es gehörte bereits zu den 23 Titeln, die nach einem Beschluss der Fuldaer Bischofskonferenz aus dem Jahre 1916 als Einheitslieder in allen Diözesen einzuführen waren17, und fand sich auch unter den 74 Einheitsliedern, die die deutsche Bischofskonferenz im Jahre 1947 als Kernbestand des katholischen Kirchenliedguts beschlossen hatte, und war dementsprechend in allen Diözesangesangbüchern der Folgezeit vertreten.18 Im Jahre 1972/73 wurde es mit neun anderen alten Einheitsliedern nicht in den Stammteil des neuen Einheitsgesangbuchs aufgenommen: das Lied „Jesu, dir leb ich“.

      Die im Redaktionsbericht mitgeteilte Begründung ist die von allen zehn Fällen kürzeste: Gemäß „Entscheid der HK (Hauptkommission) vom Juli 1972 wurde zu diesem Lied die Meinung der Diözesen eingeholt. Auf deren Votum von 13 Ja und 14 Nein hin lehnte die HK im Dezember 1972 das Lied mehrheitlich ab.“19 Die Begründung liefert kein inhaltliches Argument, sondern nur den Mechanismus einer offenbar schwierigen Entscheidungsfindung. Nach der Ablehnung für den Stammteil hat es dann in zehn Diözesananhängen Unterkunft gefunden.20

      Das umstrittene Lied besteht aus zwei kurzen Strophen und hat den Wortlaut:

       „Jesu, dir leb ich! Jesu, dir sterb ich! Jesu, dein bin ich im Leben und im Tod.

       O, sei uns gnädig, sei uns barmherzig! Führ uns, o Jesus, in Deine Seligkeit!“

      Die in den älteren Gesangbüchern gebräuchliche Legende lautet: „Text: Als Kehrverse schon im 17./18. Jh. bekannt, Liegnitz 1828; Weise: Franz Bühler (1760 – 1824)“.21 In einer sorgfältig belegten Untersuchung hat F. Schulz die Geschichte des Liedes weiter aufhellen können22. Die erste Strophe ist als Reimgebet bis ins 16. Jh. zurückzuverfolgen: Die „bis jetzt früheste Fassung des Jesusgebets: O Herr Jesu / dir leb ich / dir stirb ich / dein bin ich / tot und lebendig“23 findet sich in einem Gebetbuch des Jahres 1557. Das Gebet stammt nach den frühesten Belegen des 16. Jh. aus evangelischer Tradition und erscheint im 17. Jh. dann auch in katholischen Gebetbüchern. Aufgeführt wird es im Zusammenhang des Morgensegens oder als Sterbegebet. Der „offensichtlich bekannte und fest geprägte Text“24 erhält um 1800 eine Liedfassung, zunächst evangelisch in einem Gesangbuch der Brüdergemeine von 1784 und dann katholisch. Der ersten, 1813 veröffentlichten Melodie folgte vor 1824 die von dem Augsburger Domkapellmeister Franz Bihler stammende Melodie25, die sich in der Folgezeit, wenn auch mit zahlreichen melodischen Varianten, durchsetzte (zwischen 1828 und 1909 in 17 katholischen Gesangbüchern nachweisbar26). Die zweite Strophe findet sich erstmals in einem katholischen Gesangbuch von 1837 und wird „von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart in fast alle vom Pietismus und der Erweckungsbewegung geprägten Liederbücher für kirchliche und freikirchliche evangelische Gemeinschaften sowie für Kinder- und Jugendgottesdienste“27 übernommen. Mit der Streichung aus dem Liedrepertoire des „Gotteslob“ wurde also ein altes, im interkonfessionellen Frömmigkeitsaustausch interessantes Stück aus dem Verkehr gezogen. Versteckt unter der Rubrik „Sterbegebete“ hat die erste Strophe sich im Gebetsteil (Nr. 79,1) erhalten.

      Was lässt sich über das Argument der frömmigkeitsgeschichtlichen Anciennität hinaus poetisch-theologisch zu diesem einfachen Stück volkstümlicher Lyrik sagen? Wer die erste Strophe mit theologiegeschichtlichem Ohr hört, wird sich zwanglos an Röm 14,7 f. erinnern: „Keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst; leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn.“ Das Lied „Jesu, dir leb ich“ nimmt das semantische Potential dieses paulinischen Paränesestücks mitsamt seiner triadisch gesteigerten rhetorischen Form auf. Verändert ist die grammatische Struktur: Die Aussage wird in eine Anrufung übersetzt, „Jesus“ steht statt „Herr“ und im Vokativ. Das resolut konfessorische des paulinischen Briefs ist in die Subjektivität eines Geständnisses (erste Person Singular) überführt; an die Stelle des herrschaftlichen Kyrios-Tons ist Jesus-Minne getreten. Im Verhältnis zur paulinischen Vorgabe ist es nicht einfach die Versifizierung einer neutestamentlichen Prosapassage, sondern ein Echo, eine persönliche Antwort auf die paulinische Predigt.

      Die zweite Strophe, die, von der ersten Person Singular in die erste Person Plural springend, wie ein Additum wirkt und genetisch ja auch ist, erweist sich bei näherem Zusehen aber gerade als sinnvolles theo-logisches Supplement der ersten. Wenn man im Römerbrief an der erwähnten Referenzstelle weiterliest, heißt es im Vers 10: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder? Denn wir alle werden vor den Richterstuhl Gottes treten müssen.“

      Also: „O sei uns gnädig,

       sei uns barmherzig!“

      „Uns“, nicht mir bloß, uns, die wir alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen und darum verzichten sollten, die Brüder zu richten. Wie in der ersten Strophe ist es auch hier ein, freilich indirekteres Echo auf die paulinische Vorgabe. Es ist keine Wiederholung des bereits prosaisch Gesagten in Versform, sondern eine von der Vorgabe inspirierte Antwort. Das Echo hat den Frömmigkeitsfarbklang barocker Jesus-Devotion, aber ganz einfach,


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