Mach dein Glück! Geh nach Berlin!. Horst Bosetzky

Mach dein Glück! Geh nach Berlin! - Horst Bosetzky


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„Wir haben den Seiler-, den Hexen-, den Pulver-, den Schwedter-, den Mittel- und den Blindower Torturm.“

      „Da möchte man am liebsten türmen“, meinte der Seminarist aus St. Endal.

      Das aber wagte keiner, und so trabten sie solange hinter ihrem sehr verehrten Mentor hinterher, bis der selbst am Ende seiner Kräfte war und nach einem Gasthof Ausschau hielt.

      „Da ist einer!“ rief er, als er das Schild mit der schönen Aufschrift „Zur Kastanie“ entdeckte. „Inhaber: Christian Friedrich Scheng.“

      „Das wird ein Chinese sein“, vermutete der Witzbold vom Dienst.

      Ferdinand Schmidt stellte die Sache richtig. „Der Mann heißt Schering. Die Buchstaben r und i sind nur abgefallen. Schering also.“

      Sie kehrten ein, das heißt, sie nahmen draußen im Garten Platz und hatten bald herausgefunden, dass Scherings Küche vorzüglich war und auch sein Bernauer Bier nichts zu wünschen übrig ließ. Nur der Mentor war mit seinem Wein nicht so ganz zufrieden und murmelte, dass der wohl nicht vom Rheine käme, wie die Frau Wirtin ihm versichert hatte, sondern eher von der Oder, aus Grünberg vielleicht oder Tschicherzig.

      „Soll ich dem Herrn etwas Zucker zum Nachsüßen bringen?“, fragte ein Junge, dessen Alter so zwischen zehn und fünfzehn liegen mochte und der sie schon die ganze Zeit über vom Nachbartisch aus beobachtet und belauscht hatte.

      „Du bist ja ein richtiger Spaßvogel“, merkte der Mentor an und wurde dann amtlich. „Wie kommst du denn hierher? Wissen deine Eltern, dass du dich im Wirtshaus herumtreibst?“

      „Ja. Ich bin jeden Tag hier“, entgegnete der Knabe so lakonisch, wie es nur ein echter Märker konnte.

      „Dann werde ich einmal mit deinen Eltern sprechen“, fuhr der Mentor fort. „Wo kann ich die denn finden?“

      „Na, auch hier.“

      Als seine Zöglinge das schon längst begriffen hatten, merkte auch er, wen er vor sich hatte: den Filius des Wirts. „Das entschuldigt alles. Und wie heißt du?“

      „Ernst Christian Friedrich, aber alle sagen nur Ernst zu mir.“

      „Und, Ernst, bist du gut in der Schule?“

      Der Junge überlegte. „Ja, aber ich will gar nicht gut sein.“

      „Warum denn das?“

      „Weil ich dann etwas studieren muss ...“

      Weiter konnte sich der Mentor des Jungen nicht annehmen, denn nun kam das Essen – und das hatte absoluten Vorrang. Ernst Schering wurde zudem ins Haus gerufen, um die Herrschaften aus Neuzelle nicht weiter zu behelligen. Nach dem Essen aber ließ ihn der Mentor noch einmal rufen, um seinen Seminaristen weiter vorzuführen, wie man mit einfach gestrickten Jungen wie diesem Gastwirtssohn umzugehen hatte. Er hielt ihm einen Strauß mit Wildkräutern hin, die er vorhin bei einer kleinen Rast für sein Herbarium gesammelt hatte.

      „Nun, Ernst, bist du eigentlich ein Kind der Natur?“

      „Ja.“

      Nun reimte der Mentor sogar. „Dann sag mir doch geschwind, was das hier all für Kräuter sind?“

      Mit stoischer Ruhe tippte Ernst auf die einzelnen Pflanzen und benannte sie ohne zu zögern. „Scharfer Hahnenfuß … Wiesen-Bocksbart … Vogel-Wicke … Gemeine Schafgarbe … Acker-Vergissmeinnicht …“

      „Das ist nicht zu fassen!“, rief der Mentor.

      Ernst Schering war aber noch nicht am Ende und zeigte auf einen gelben Korbblütler. „Das hier ist der Kleinköpfige Pippau ...“

      Da brach ein unbeschreiblicher Jubel bei den Seminaristen aus, denn ihr Mentor, der so stolz war auf seinen großen Kopf und das viele Hirn darin, hörte auf den Namen Pippau, Peter Christian Pippau.

      Aber nicht nur wegen dieses lustigen Vorfalls sollte sich die Landpartie nach Prenzlau bei Ferdinand Schmidt für immer einprägen, sondern auch wegen einer Szene, die sie auf dem Rückweg zu ihrem Pferdefuhrwerk vor der Holtz´schen Apotheke erlebten. Dort hatte es, wie man ihnen erzählte, in einem Anbau eine Explosion und anschließend einen Brand gegeben. Gerade trug man einen jungen Mann auf einer aus den Angeln gehobenen Tür auf die Straße hinaus und wartete auf ein Pferdefuhrwerk, das ihn ins Krankenhaus bringen sollte.

      „Das ist einer meiner Gehilfen, der Friedrich Krumbeck“, diktierte der Apotheker einem Korrespondenten in die Feder. „Der wollte sich ein wenig Geld damit dazuverdienen, dass er Knallerbsen herstellte. Und dazu benötigt man Knallquecksilber. Gibt man nun im Umgang mit diesem nicht genügend Obacht, so wird man langsam vergiftet. Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel stellen sich ein. Von dem muss Krumbeck erfasst worden sein, und da ist er wohl in eine offene Flamme gestürzt.“

      „Das ist doch ein Alchemist gewesen!“, rief einer der Nachbarn. „Der hat aus Quecksilber Gold machen wollen.“

      Ferdinand Schmidt trat an der Seite des Mentors in den Hof der Apotheke, wo alles lagerte, was man aus dem brennenden Anbau noch hatte retten könnten. Darunter befand sich auch ein Haufen mit Chemikalien der verschiedensten Art, unter anderem ein Tütchen mit der Aufschrift Pottasche.

      Der Mentor hob es auf und ließ das weiße Pulver zu Boden rieseln. „Den Mann möchte ich sehen, der aus dieser Asche Gold machen kann!“

      Schmidt lachte. „Warten wir´s ab.“

      Vor ihrer Rückreise kaufen sie sich noch ein paar Rosinenbrötchen in der Bäckerei Nickholz, die am Anfang der Klosterstraße gelegen war. Komischer Name, dachte Ferdinand Schmidt, und schrieb ihn in ein Büchlein. Er sammelte seltene Namen wie andere Schmetterlinge. Vielleicht würde er einmal einen Roman schreiben, und da brauchte man sicherlich viele einprägsame Namen.

      Kapitel Eins

      Tage in Prenzlau, unvergesslich

       1837

      Ernst Schering ging gern zur Schule, was in Prenzlau für einen Dreizehnjährigen recht ungewöhnlich war. Sein Bruder August sagte von ihm, er habe einen wachen Geist, der ständig gefüttert werden müsse. Ja, das stimmte schon, aber er war darüber durchaus nicht glücklich, sondern beneidete die, von denen es in der Bibel hieß „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr“. Auch fürchtete er, seine Eltern würden meinen, dass er etwas Besonderes wäre und ihn wie seinen Bruder August zum Studium in die Ferne schicken. Was ihm vorschwebte, war ein einfaches Leben, eines ohne viel Gelehrsamkeit und immer in Gottes freier Natur. Im Gasthof seines Vaters hatte es immer viel Trubel gegeben und da war er oft in die Wälder südlich Prenzlaus geflüchtet, zumindest aber an die Ufer des langgestreckten Unteruckersees.

      Nun, bei seinem Vater waren viele interessante Menschen eingekehrt und hatten von ihren Geschäften und ihren Abenteuern berichtet, und er hatte ihnen immer zugehört, mal offen, mal heimlich, weil das viel spannender war als all das, was in seinen Kinderbüchern und seiner Fibel stand. Die vielen Reize, die dabei auf ihn eingedrungen waren, hatten sein Gehirn dahin gebracht, später auch hoch Kompliziertes verstehen zu können. Und so war es gekommen, dass er in der Schule, auch noch auf dem Gymnasium, mit dem Lernen keine Mühe hatte, alles flog ihm nur so zu. Nie strebte er nach etwas, immer geschah es mit ihm, und er staunte nur, wenn er irgendwo angekommen war. Ludwig Kuhz, sein Klassenlehrer, hatte ihn einmal einen Somnambulen genannt, einen Schlafwandler.

      Solch Kommentar war für Kuhz sehr ungewöhnlich, denn das Seelenleben seiner Schutzbefohlenen interessierte ihn im allgemeinen herzlich wenig. Hauptsache, sie lernten Gehorsam, die Liebe zum König und dazu ein wenig Lesen und Schreiben sowie das, was im kleinen Katechismus stand. Vornehmlich war er mit sich selbst beschäftigt, denn als junger Mann war er in der Schlacht bei Großbeeren in französisches Feuer geraten und hatte stundenlang in einem Graben ausharren müssen, nur mit dem Körper seines toten Pferdes als Kugelfang. Seitdem spielten seine Nerven immer wieder verrückt,


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