Mach dein Glück! Geh nach Berlin!. Horst Bosetzky
schwarze Krümel im Salz befanden. Was immer das war, es ärgerte ihn. Ebenso beim Zucker. Sie schafften es nicht, ihn so herzustellen, dass keine braunen Körner dazwischen waren. Seine Mutter hatte schon geklagt, er habe einen „Reinlichkeitsfimmel“, doch das störte ihn nicht.
Noch mit dem letzten Bissen im Mund trabte er los. In der Tür der Holtz´schen Apotheke wartete schon der Gehilfe Friedrich Krumbeck, der sich von seinem Unfall weithin erholt hatte und alsbald zu einer stadtbekannten Persönlichkeit geworden war. Ernst Schering übergab dem „Alchemisten-Fritz“ das mit einem karierten Tuch abgedeckte Tablett und machte sich schnell wieder auf den Heimweg. Als er am Dominikanerkloster vorbeikam, lief er seinem Freund Gottfried Nickholz in die Arme, der gerade angeln gehen wollte.
„Kommste mit an´n See runter?“
„Ja.“
Ernst Schering hatte die wenigen Schularbeiten schnell gemacht, und bis die Leute zum Abendschoppen kamen und er wieder beim Bedienen helfen musste, hatte er noch ein wenig Zeit. Sie liefen zum langgestreckten Unteruckersee hinunter, und nahe der Stelle, an dem das Flüsschen mit dem Namen Ucker den See wieder verließ, warf Gottfried Nickholz seine Angelrute aus. Den Blick auf die rotweiße Pose gerichtet, unterhielten sie sich leise.
„Oben in Vorpommern heißt die Ucker Uecker“, sagte Ernst Schering. „Weißt du das?“
„Nein, interessiert mich auch nicht.“
„Aber Kuhz könnte mal danach fragen.“
„Dieses Arschloch!“ rief Gottfried Nickholz.
In dieser Einschätzung ihres Lehrers waren sie sich beide einig. Auch darin, dass man ihm mal eins auswischen müsste. Die Idee dazu hatte dann Ernst Schering.
„Haste gesehen, was der für ´ne Angst vorm Gewitter hat.“
Der Freund nickte. „Ja, klar. Meinste, ich bin blind!?“
„Na, wenn er solche Angst vorm Gewitter hat, dann müssen wir eben dafür sorgen, dass es bei ihm vorm Fenster ein mächtiges Gewitter gibt!“ rief Ernst Schering.
„Pssst!“ zischte Gottfried Nickholz. „Die Fische beißen nicht, wenn de so schreist!“ Dann tippte er sich gegen die Stirn. „Wie willste denn dafür sorgen, dass es ein Gewitter gibt: Vielleicht in die Kirche gehen und beten?“
„Nein“, beharrte Ernst Schering. „Aber wir können doch einen Böller basteln und den bei ihm vorm Fenster losgehen lassen, das ist doch auch wie Blitz und Donner.“
„Gute Idee!“ Gottfried Nickholz war begeistert. „Und das Pulver dafür, das besorge ich mir von Alchemisten-Fritze, den kenn´ ich ganz gut. Wenn ich dem ein paar Fische für sein Abendbrot schenke, dann tut der uns den Gefallen.“
Als Gottfried Nickholz nach einer Stunde ein paar Barben und Elritzen im mitgebrachten Eimer hatte, machten sie sich auf den Weg zur Holtz´schen Apotheke, wo der Alchemisten-Fritze gerade damit beschäftigt war, einem kleinen Jungen das Laufen beizubringen. Sie trugen ihm ihr Anliegen vor.
Friedrich Krumbeck grinste. „Wenn ihr inzwischen auf den Jungen aufpasst, auf den Julius, besorge ich euch, das was ihr braucht, damit es richtig knallt und blitzt.“
Nach ein paar Minuten kam er mit einem Tütchen Schwarzpulver und einer Handvoll roter Tonerde zurück. „Das mischt ihr, steckt es in eine Pappröhre, presst es zusammen, nehmt einen eingefetteten Bindfaden als Lunte und haltet ein Streichholz dran.“
Sie bedankten sich, schlichen sich in den Schuppen der Schering´schen Gastwirtschaft und machten sich ans Basteln. Schwer war das Herstellen eines mächtigen Böllers für zwei geschickte Jungen wie sie nun wahrlich nicht, und sie waren schon fertig, bevor die Sonne nach Templin zu hinter den Kiefern versank.
„Wir müssen warten, bis es halbwegs dunkel geworden ist“, sagte Ernst Schering. „Sonst ist der Effekt nicht eben groß.“
„Nun gut.“
Sie verabredeten sich für 10 Uhr abends, und als die Kirchturmuhren von St. Jacobi und St. Marien fast zeitgleich schlugen, kletterten sie aus den Fenstern ihrer Schlafzimmer und schlichen sich zur Grabowstraße, wo Ludwig Kuhz, ein Hagestolz, also bekennender Junggeselle, allein mit seiner Haushälterin in einem einstöckigen Häuschen wohnte. Wo sein Zimmer lag, das wussten sie, weil er sich gern von seinen Schülern, hatte man eine Klausur geschrieben, die prall gefüllte Tasche nach Hause tragen ließ.
Unter dem Zimmer des Lehrers angekommen, machten sie sich ans Werk. Gottfried Nickholz hielt den Böller in der Hand, Ernst Schering riss ein Streichholz an und hielt die Flamme an die Lunte. Sie fing sogleich Feuer und begann abzubrennen. Mit ein paar schnellen und absolut lautlosen Schritten war er am Fensterbrett und legte den Böller auf das Zinkblech. Dann lief er zurück.
„Drei … zwei … eins“, zählte Ernst Schering.
Gleich würde es blitzen und donnern und Kuhz mit einem Aufschrei hochfahren und sich gar nicht mehr einkriegen.
Doch nichts geschah.
Gottfried Nickholz wartete einen Augenblick, dann sprang er zum Fensterbrett, um den Böller hochzunehmen und zu sehen, warum die Sache nicht funktionierte hatte.
Als er ihn in der Hand hatte, gab es eine mächtige Explosion.
Im Namen des armen Lazarus
1839
In Preußen gab es mit Beginn der Industrialisierung soviel Massenarmut, Pauperismus, wie man damals sagte, dass eine eigene Armutsverwaltung geschaffen werden musste. Tausende Menschen waren nicht mehr in der Lage, für das eigene Auskommen zu sorgen, obwohl sie von frühmorgens bis spätabends schufteten und dabei ihre Gesundheit ruinierten. Im Adel und dem gebildeten Bürgertum fanden sich nur wenige, die sich um die Armen kümmerten. Die einen taten es, weil sie wahre Christen sein wollten, die anderen, weil sie gesellschaftliche Auflösungserscheinungen fürchteten, von der sittlichen Verwahrlosung bis hin zu Unruhen und Revolutionen. Herausragende Persönlichkeiten in diesem Kreise waren Bettina von Arnim, die sich 1831 bei der Choleraepidemie in Berlin für soziale Hilfsmaßnahmen in den Armenvierteln eingesetzt und Kranke gepflegt hatte, sowie schon einige Zeit vor ihr Johannes Rau, geboren 1673 in Perleberg, gestorben 1733 in Berlin, Diakon, Pfarrer und Probst in St. Nicolai, der seit 1699 Armenschulen in allen Quartieren der Residenz gegründet hatte, sowie Stanislaus Rücker. Der war aus Schlesien nach Berlin gekommen, hatte es hier zum preußischen Akzisedirektor gebracht und sich den Ruf eines Wohltäters der Armen erworben. 1733 hatte er das Grundstück Krausenstraße 30, Ecke Lindenstraße mitsamt des Irren- und Krankenhauses „Lazarus“ gekauft und dort nach dem Ausbau die lutherische Armenschule „Zum armen Lazarus“ gegründet.
Hier nun unterrichtete seit einiger Zeit auch Ferdinand Schmidt, den es nicht länger in Neuzelle gehalten hatte. Wer in Preußen etwas werden wollte, der kam nicht umhin, nach Berlin zu gehen.
Da saßen sie nun vor ihm, an die vierzig arme Würstchen, und wenn er in ihre Gesichter sah, schwankte er jeden Tag zwischen Lachen und Weinen, zwischen Hoffen und Verzweifeln. Er hatte seine Kinder, Jungen wie Mädchen, in vier Gruppen eingeteilt. Lieb und drollig waren die der ersten Gruppe, durstig nach Wissen und erfüllt vom Willen, dem Elend zu entrinnen, indem sie tüchtig lernten. Dumpf und ablehnend erlebte er die Schüler der zweiten Gruppe. Sie sahen keine Chance in ihrem Leben, ob sie nun ein wenig lesen oder rechnen konnten. Die Kinder, die zur dritten Gruppe gehörten, waren unrettbar krank, litten an Tuberkulose oder Leukämie, hatten sich schon aufgegeben, und ihr Anblick schmerzte ihn so sehr, dass ihm oft die Tränen kamen. Die vierte Gruppe hingegen ließ Aggressionen in ihm aufschießen, denn er wusste, dass sie es waren, die ihn gefährdeten, hatten sie das nötige Alter erreicht: Das waren die Jungen, die einmal Verbrecher werden würden – und auch wollten. Um die hatte er sich ganz besonders zu kümmern.
Ferdinand Schmidt betrat den Klassenraum der Jungen, und brav schnellten alle hoch. Das wenigstens hatten sie schon gelernt. Klar, man war ja in Preußen.
„Guten