Verblöden unsere Kinder?. Jürgen Holtkamp
Ungewöhnliches (z. B. Extremsportarten) aus.
Hedonisten: Sie sind die junge spaßorientierte Unterschicht. Fun und Action sind die treibenden Kräfte dieses Milieus. Auffallend ist, dass ihre Alltagsrealität in krassem Widerspruch zu ihrem Lebensstil steht, sie sind nicht selten aggressiv. Für Fernsehen, Computerspiele, Fußball sowie Kneipenbesuche interessieren sie sich besonders. Weil sie gerne und viel konsumieren, steht bei ihnen die Multimedia-Ausstattung ganz weit oben auf der Einkaufsliste. Sie verfügen über einfache bis mittlere Bildungsabschlüsse, nicht selten sind sie ohne abgeschlossene Berufsausbildung.
Die Sinus-Milieus sind ein Erklärungsansatz für gesellschaftliche Entwicklungen und stellen eine Momentaufnahme der Gesellschaft dar, ohne den Anspruch zu erheben, wie die Gesellschaft sein sollte. Damit können gesellschaftliche Veränderungen besser eingeordnet und gedeutet werden. Sie zeigen, in welchen finanziellen Verhältnissen die Menschen leben, an welchen Werten sich die Menschen orientieren und welche Medien sie nutzen.
Anna und Thomas wachsen in verschiedenen Milieus auf. Anna dürfte in einem postmateriellen Milieu oder der bürgerlichen Mitte groß werden, während Thomas in einem konsumorientierten Milieu lebt. Anna nutzt Medien aktiv für die eigene Bildung, wie sie es von ihren Eltern vorgelebt bekommt, derweil hinkt Thomas fast hoffnungslos hinterher, nutzt Computer und Fernsehen fast nur zum Spielen.
Aufwachsen in der Mediengesellschaft
Globalisierung, Mobilität, Arbeitslosigkeit, gesellschaftlicher Wandel oder Enttraditionalisierung und Individualisierung sind Ausprägungen hoch entwickelter Gesellschaften, die massiv in die Familien hineinwirken und diese unter einen enormen Anpassungsdruck setzen. Familienleben ist heute völlig anders, offener gegenüber der Umwelt, die Familienbande werden lockerer und die Familie verliert ihre Exklusivität. Die Medien- und Erlebnisgesellschaft hat die Familien erreicht. Auch in ländlichen Regionen sind durch Satellitenschüsseln Fernsehserien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ebenso bekannt wie in städtischen Gebieten. Die ehemalige Unterscheidung zwischen Stadt und Land lässt sich so nicht mehr aufrechterhalten.
Ist es da verwunderlich, wenn der Einfluss der Medien auf die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen zunimmt? Gleichsam stellt sich nicht nur bei den Eltern ein beklemmendes Gefühl ein, wenn Medien (zu) intensiv genutzt werden.
Führen die vielen Gewaltdarstellungen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, nicht zu einer Desensibilisierung? Gibt es nicht doch einen Zusammenhang zwischen den Gewaltsendungen in Film, Fernsehen und Internet und den täglichen Gewaltdelikten auf Deutschlands Schulhöfen? Täuscht etwa der Eindruck, dass Computerspielen und Internet ein hohes Suchtpotential innewohnt? Die Liste der offenen Fragen angesichts einer Medienwirklichkeit, die alle Kinder und Jugendlichen erreicht, und zwar überall in Deutschland, ist noch längst nicht beendet und zeigt, wie nah Segen und Fluch der Medien in der Kindererziehung beieinanderliegen können.
Es gibt Eltern, die deshalb versuchen, ihre Kinder in einer „medienfreien Zone“ aufwachsen zu lassen, weil sie den Einfluss der Medien auf ihre Kinder als schädlich ansehen. Das Problem dabei ist, dass dies in der Mediengesellschaft schlichtweg unmöglich ist. Selbst wenn Eltern Radio, Fernsehen, Computer und Handy aus dem privaten Umfeld verbannen, so sind diese in anderen Bezügen, bei Freunden, Nachbarn und in der Schule, vorhanden, werden gehört, gesehen und benutzt.
Für Professor Bernd Schorb müssen Medien als ein „Faktor im Sozialisationsprozess“ angesehen werden. Damit meint er, dass durch die „Interaktion“ mit Medien Werte, Normen und das Verhalten von Kindern verändert werden können. Kinder erfahren etwas über die Welt, ohne je an diesem Ort gewesen zu sein. Dokumentationen über das Leben in der Sahara, das Abschmelzen des ewigen Eises oder die Artenvielfalt des Amazonas führen dazu, dass Menschen etwas über ferne Welten und Orte erfahren. Das „Gesehene und Gehörte“ muss verarbeitet, in einen Zusammenhang zum eigenen Leben gebracht und „kontextualisiert“ werden. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass die „Prägekraft“ für die Erfahrung längst nicht so hoch ist wie eine Lebenswelt, die mit allen Sinnen erfahren werden kann. Wir können weder die Kälte des Eises noch die Hitze der Sahara fühlen und die verschiedenen Pflanzen nicht anfassen oder riechen. Mediale Erfahrungen können nie „primäre“ Erfahrungen werden, was Eltern und Pädagogen dazu verleitet, mediale Erfahrungen als „minderwertig“ zu bezeichnen. Natürlich haben diese medialen Erfahrungen auch ihre Vorteile, denn nicht jeder möchte die Hitze der Sahara oder die Kälte des ewigen Eises spüren. Und die meisten schauen sich Krokodile, Schlangen und Spinnen lieber im Fernsehen als in der Natur an.
Mediale Erfahrungen sind immer selektiv, weil sie von Menschen erzeugt werden. So sind Fernsehbilder Momentaufnahmen. Redakteure schneiden Bilder, Musik und Töne nach eigenen Kriterien, betonen bestimmte Inhalte, erzeugen Stimmungen und ziehen eigene Schlussfolgerungen, um bei den Fernsehzuschauern beispielsweise Betroffenheit auszulösen oder zu Aktionen aufzurufen. Objektive Fernsehberichterstattung gibt es im eigentlichen Sinne nicht, auch wenn Journalisten immer danach streben sollten, so objektiv wie möglich zu berichten und eigene Bewertungen eindeutig zu kennzeichnen.
Die Amokläufe von Robert S. am 26. April 2002 in Erfurt, von Sebastian B. am 20. November 2006 in Emsdetten und von Tim K. im März 2009 führten zu einer Diskussion über die Wirkung der neuen Medien auf Kinder und Jugendliche. Immer war der „Schuldige“ schnell gefunden: Es waren die Computerspiele, die Jugendliche zum Töten animierten.
Die Argumentation ist einfach und daher populär und weit verbreitet, zudem klingt sie in den meisten Ohren schlüssig. Dass eine solche Argumentation es sich zu leicht macht und der wissenschaftlichen Diskussion nicht entspricht, ist dann nicht mehr wichtig, denn das Problem ist doch – zumindest auf den ersten Blick – gelöst: Schuldig an zunehmender Gewaltbereitschaft von Jugendlichen seien Computerspiele, die Actionfilme, das Internet – die Medien. Auch Pädagogen verschließen sich nicht dieser Argumentation. Ist es nicht so, dass bei dieser Art von Computerspielen doch was hängen bleiben muss? Wer solche Spiele konsumiert, bei dem muss doch etwas nicht in Ordnung sein ...
Das stimmt übrigens, bei den Tätern war in der Tat etwas nicht in Ordnung. Der ausschließliche Verweis auf die Computerspiele ist aber falsch und geht weit hinter den Stand der Verhaltensforschung zurück.
„Welches sind die Motive der Täter?“ und „Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen?“ sind Fragen, die geklärt werden müssen. Notwendig ist die genaue Betrachtung des einzelnen Falles. Gespräche mit Eltern, Verwandten, Lehrern und Mitschülern sowie Internetbekanntschaften ergeben annähernd ein Profil vom Charakter der Person, ihren Sorgen, Nöten, Problemen und Ängsten. Das aber ist in der schnelllebigen Mediengesellschaft und dem „Bildzeitungsjournalismus“ uninteressant. Da ist die Bildüberschrift „Am Computer übten sie das Töten“ (http://www.bildblog.de/tag/Computerspiele) doch mediengerechter.
„Was macht Sozialisation aus?“ und „Wie vollzieht sich Sozialisation?“ sind Fragen, die für das Verständnis des Aufwachsens von Kindern in einer durch Medien geprägten Welt maßgeblich sind. Sind unsere Kinder der Medien-Sozialisation nun hilflos ausgeliefert? Und wenn nicht, wie und welche „Selbstheilungskräfte“ verbergen sich in den Kindern?
Dass es einen sozialen Wandel in den vergangenen 40 Jahren gab, der einschneidend alle Lebensbereiche erfasst und verändert hat, ist offensichtlich. Ulrich Beck hat diesen Wandel in seinem Buch „Risikogesellschaft“ mit Individualisierung und Enttraditionalisierung beschrieben. Er meint damit, dass die traditionellen Formen von Orientierung und Bindung nachlassen, Normen und Werte sich verändern und auf die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Nachbarschaft auswirken. Auf der einen Seite, so Beck, eröffnen sich für das Individuum neue Möglichkeiten und Perspektiven, es kann selbst (individuell) entscheiden, was und wann es etwas macht, wo es sich engagiert, wie es sein Leben führen möchte. Andererseits hat diese „neue Freiheit“ auch ihren Preis, weil es den geschützten Raum der Familie verlässt, Sicherheiten verliert, sich entscheiden und wählen muss, wie es das Leben gestaltet.
Der Begriff der „Selbstsozialisation“ bringt es auf den Punkt, allerdings zeigt sich auch, dass nicht alle Heranwachsenden in gleicher Weise über diese Form der Selbstsozialisation