Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer
hinüber zum Spalierobst und zu den auf ein Holzgestänge aufgebundenen Brombeerranken. Er horchte auf die Glockenschläge der beiden Kirchen, zählte: eins, zwei, drei, vier, fünf. Wenn sie sechs schlugen, dann konnte es sein, dass bald schon Papafried heimkam, und mit ihm begann eine ganz besondere Zeit. Von dem Augenblick, an dem Fried die Tür zum Haus öffnete, heftete Willi sich an seine Fersen, und das hieß, er wurde Zeuge, wie Fried überall nach dem „Rechten“ sah. Alles Lose, Schiefe oder Wackelige wurde zurechtgerückt: das Gatter um den Hühnerstall, das Schloss am Gartentor, der Klappladen am Schlafzimmer der Regelmanns, der mit seinem Gescheppere verhinderte, dass Frau Regelmann wenigstens eine Mütze voll Schlaf nehmen konnte zwischen all dem Tun und Machen der Nächte an der Seite des kranken Ehemannes. Manchmal auch gab es nichts zurechtzurücken, dann hatte Fried irgendeine Idee und sagte: „Komm mit in die Werkstatt, Willi, wir haben was zu tun, wir zwei beide.“
Ideen gingen Fried nicht aus. Sie bastelten zum Beispiel ein raffiniertes Gestell. Es sah aus wie ein großer Vogel, stand auf hohen Beinen, hatte allerdings drei Beine, nicht nur zwei.
„Damit es nicht kippt, verstehst du?“
Dann wurden Wäscheklammern auf einen Rahmen geschraubt. „Da, rüttel’ mal dran, das ist stabil, da kannst du einen Ochsen dran aufhängen.“ Nun musste nur einer, das konnte gut Willi sein, weil er die ganze Konstruktion mit entworfen hatte und sozusagen dadurch ein Experte war, die Zeitung einklemmen und damit hatte Herr Regelmann die Möglichkeit, sie auch zu lesen, denn das konnte er noch, wenn man sie ihm hinhielt.
Auch beim Umblättern wäre Willi wieder gefragt. Damit Herr Regelmann bestimmen konnte, wie nah er die Zeitung brauchte, schraubte Fried noch an jedes Bein ein Rädchen, das sich in einer Aufhängung drehte und so und so und dahin und dorthin geschubst oder gezogen werden konnte. Willi war fasziniert von diesem besonderen Gestell.
„Jetzt könnet ihr ein Patent anmelden, Fried“. Mine war ebenso begeistert wie Willi und wie Herr Regelmann.
„Ein Patent?“
„Mhm, ja, also komm mal her, setz dich auf meinen Schoß, dann erklär ich dir das ...“
Patent, patent. Der Papafried war patent. Was für ein Glück hatte Willi, so einem patenten Papa helfen zu dürfen. Er liebte diese Nachmittage der geschäftigen Zweisamkeit und freute sich während der elendig langen Tagesstunden darauf. Aber auch die Tageszeit lernte er zu meistern. Er streifte umher im Haus, im Garten. Eines Tages entdeckte er dort, wo die Haselsträucher von unten her holzig wurden, zwischen ihren Blättern etwas, das seine Aufmerksamkeit magisch anzog. Einen Blick aus zwei grün-grauen Augen. Zwei Augen, die einen betrachten so wie man sie, das ist immer wieder etwas Aufregendes, etwas, das zu Herzen geht, das gegen verschlossene Türen in uns stößt und sie auftut.
Willis Neugier konnte nur befriedigt werden, indem er die Haselzweige wegbog und sich zum Maschendrahtzaun durcharbeitete, der den Regelmann’schen Garten vom Nachbargrundstück abgrenzte. Dort hockte zwischen noch mehr Gestrüpp ein kleines Mädchen mit einem goldbraunen Lockenkopf. Tausende von Haarkringelchen flimmerten und glänzten in einem Sonnenstrahlenbündel, das sich auf sie ergoss.
„Bist du denn der Willi?“, fragte das Mädchen sehr vernünftig.
„Ja, und wie heißt du?“
„Helene, aber meine Familie ruft mich Heli, obwohl ich das nicht so gerne mag. Was meinst du, kannst du mir mal helfen, hier das Loch größer zu machen, dann könnten wir zusammen spielen, dort bei dir oder hier bei mir, wie du willst.“
Willi staunte, was sie bereits geschafft hatte. Eine brüchige Stelle im Maschendraht hatte sie zum Ausgangspunkt gewählt für eine gezielte Befreiungsaktion. Sie hatte die Maschen aufgebogen, eine nach der anderen, aber das entstandene Loch war kaum groß genug, einen Kinderkopf hindurchzustecken und befand sich noch direkt am Boden.
Willi kniete sich ins weiche Unkraut und begann Helene zu unterstützen. Kurze Zeit später schob sie sich durch die entstandene Öffnung hindurch zu Willi und da kniete sie vor ihm und lächelte ihn an.
Als sie nebeneinanderstanden, stellte Willi fest, dass sie ihn ein winziges bisschen überragte.
„Wie alt bist du?“
„Ich bin sechs, aber ich werde bald sieben sein. Und du?“
„Ich bin schon fünf.“
„Gut“, nickte sie, so als ob es eine Bedeutung hätte.
In diesem Augenblick ertönte ein Ruf aus der Ferne: „Heeeli, kommst du bitte sofort hierher, wir müssen jetzt gehen.“
„Wohnst du denn gar nicht da nebenan? Wohin musst du denn gehen? Kommst du bald wieder?“
Willi schoss seine Fragen ab auf das gekrümmte Hinterteil seiner neuen, seiner ersten wirklichen Freundin, voll Angst, er könne sie, kaum gewonnen, schon wieder verloren haben.
„Ja, ich muss. Hier wohnen meine Großeltern. Aber ich komme wieder. Bald.“
Schon war sie weg, wie eine Elfe aus dem Märchen.
Von da an hatten Willis Tage einen neuen Programmpunkt: Sobald er sich aus dem Dunstkreis der Erwachsenen stehlen oder mit ihrer Erlaubnis und der Aufforderung „geh spielen“ in den Garten begeben konnte, bahnte er sich einen Weg zum Loch im Maschendraht. Bald musste er sich mit einem Stock den Weg freischaffen, weil die Brombeerhecken schlangengleiche Stängel trieben, und mancher Kratzer blieb dabei auf seinen Händen, Armen und sogar in seinem Gesicht zurück. Dann stellte er sich an den Zaun zum Nachbargarten und starrte hinüber zum Nachbarhaus, merkte kaum, dass es dunkel wurde um ihn her, manchmal erlösten ihn erst Mines ängstliche Rufe aus einer traumähnlichen Erstarrung.
Eines Tages erschien sie wieder. Heli! Da krabbelte er das erste Mal hinüber in den Nachbargarten. Sie spielten mit Helenes Ball, ihren Puppen. Beim nächsten Mal brachte Willi seinen Reifen mit und sie wagten sich auf den Hof des Nachbarhauses, spielten zwischen der Teppichstange und unter den Wäscheseilen. Irgendwann einmal kam ein großes Mädchen dazu, das genau die gleichen Haare hatte wie Helene. Auch sie begrüßte ihn: „Bist du der Willi?“
Sie lächelte ihn an und schenkte ihm ein Stück Schokolade. Als sie wieder im Haus verschwand, erklärte Helene ihm, dass das ihre Mutter gewesen sei.
Da wollte er Schluss machen mit dem Versteckspiel. Beim Abendessen, als sich die ganze erweiterte Regelmannfamilie um den Tisch versammelt hatte, erzählte er von seiner Eroberung und merkte lange nicht, dass alle Erwachsenen ihn anstarrten, Messer und Gabel zur Seite legten und aufhörten zu kauen. Er sah nicht, dass sie einander Blicke zuwarfen, und erst als Frau Regelmann hervorstieß: „Da muss man was unternehmen“, bemerkte er die Spannung im Raum.
Beim Gutenachtkuss, den Mine ihm immer nach dem Beten gab, fing sie an, ihm zu erklären, dass er das nicht dürfe, nicht mit „diesem Kind“ von „dieser Frau“ spielen, weil das kein „guter Umgang“ für ihn sei. Mehr erklärte sie nicht. Man sah ihr an, wie halbherzig ihre Argumente vorgetragen wurden.
„Was ist Umgang?“
Mine seufzte.
„Weißt du, Willi, man muss sehr gut aufpassen, mit wem man sich zusammentut.“
„Sie ist so lieb und wir spielen so schön zusammen und ihre Mama hat mir einmal Schokolade geschenkt ...“
„Ihre Mutter, hast du die denn auch gesehen?“
Wie sollte man einem Kind erklären, dass das Produkt aus einer höchst zweifelhaften Liaison eines ganz jungen Mädchens mit einem verheirateten Mann, einem Herrn von Stand, wie man munkelte, manche behaupteten sogar es sei ein ortsbekannter Politiker, andere sprachen davon, dass er Professor sei an der Universität Tübingen, dass so eine Frucht der Sünde eben einfach kein Umgang ist für ein Bürgerkind, noch dazu eines, das einem anvertraut ist von den Eltern, die sich in der Ferne darauf verlassen wollen, dass ihrem Kind kein Leid geschieht.
Helene war der erste Grund für unbeugsamen Ungehorsam. Willi ließ nicht ab von ihr, auch nicht, als das Loch im Zaun geschlossen wurde. Willi fand weiter unten im abschüssigen Teil