Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer
er im Keller gefunden hatte, zu überklettern. Mit einem kühnen Sprung landete er genau vor Helenes Füßen und manchmal auch in ihren weit geöffneten Armen. Er sprang direkt in ihr wunderschönes liebes Lächeln hinein. Zurück ging er erhobenen Hauptes aus der Gartentür der Nachbarn, am Zaun entlang zur Haustür des Regelmann Hauses und es war ihm egal, wer ihm öffnen würde. Er überlegte sich allerdings einige passende Erklärungen, die ausreichen könnten, sein Vergehen zu beschönigen. Wenn man sich nämlich genug Mühe gab und sich eine gute Erklärung für seine Handlungsweise ausdachte, dann kam man ganz gut damit durch.
12
Die paradiesische Epoche in Willis Leben endete kurz vor seinem sechsten Geburtstag, als er eingeschult werden musste. Von da an wollte Georg seinen Sohn bei sich haben. Seine „Ausbildung“ wollte er bestimmen. Und endlich den großen Abstand zwischen Eltern und Kind beseitigen, denn von Badenweiler aus war es fast eine Tagesreise hinüber zum See.
Schluss also mit patenten Gedanken. Ade Brombeerhecken, Helene, Weinberge. Den lächelnden Herrn Regelmann und Frau Amalies Speckpfannkuchen mit Rhabarberkompott, all das musste er hinter sich lassen. Und die Mamamine, den Papafried, die beiden liebsten Menschen auch. Das war das Schlimmste. Obwohl die Mutter und der Vater ihm versicherten, er würde sie wiedersehen, oft, nämlich zum Beispiel in den Schulferien. Also wäre es wichtig, sich schnell im Kalender, überhaupt mal in der Zeit, der Woche, den Monaten und dem ganzen Jahr einzurichten, wie eben ein großer Junge das sollte und auch konnte, wenn er brav auf die Schule ginge und dort schön lernte, was man ihm vortrug.
Georg und Käthe waren wieder einmal nach beruflichen Abstechern in die Umgebung, nach Rippoldsau, Freudenstadt und Baden-Baden in der Kurstadt Badenweiler gelandet. Georgs Lieblingsbruder Albert und seine Verlobte Irmi waren mit von der Partie. Albert als Sommelier, Irmi stand am Empfang mit streng zurückgekämmten kurzen Haaren, knallrot geschminkten Lippen und Perlenohrringen. Die blonde quirlige Irmi hatte sich den anderen zugesellt, nachdem Albert sie aus der Parfümerie Borel in Baden-Baden, in der sie als Verkäuferin angestellt war, gelockt hatte mit seinem Charme und seinem Lächeln, seiner verheißungsvollen Unnahbarkeit. Es knisterte manchmal zwischen Käthe und Irmi. Irmi war schon 39 Jahre alt, unverheiratet und vielleicht kein unbeschriebenes Blatt. Einen eigenen Kopf hatte sie jedenfalls. Aber tüchtig! Und sie lachte den ganzen Tag, schwirrte um Albert herum wie ein Schmetterling; abends verschwand sie ganz ohne Zaudern und Zagen in seinem Zimmer. Wohin sollte das führen? Käthe presste die Lippen aufeinander und eine scharfe Falte grub sich zwischen ihre Augenbrauen. Auch wenn Irmi sich um ihren alten vornehmen Stammgast, den Direktor Rademacher, kümmerte mit Schmeicheln und Zwitschern, sich bei ihm einhängte, als ob sie seine – ja was nun, Tochter oder ... das andere wollte man nicht benennen – wäre, wenn sie ihn morgens vom Lift zu seinem Frühstückstisch begleitete, ihm die Serviette auf den Schoß legte, sich zu ihm beugte, bis ihre Gesichter nur Millimeter weit voneinander entfernt waren, um seine Bestellung aufzunehmen.
„Das mag er, der alte Herr, glaub’s mir, Käthe. Er ist ganz verrückt nach ihr. Und das ist gut fürs Geschäft.“ Alberts Blindheit, seine Liebste betreffend, beanspruchte Käthes Nerven und erzeugte Spannungen zwischen ihr und Georg, der abwinkte: „Sei doch nicht so kleinlich. Alles, was unseren Betrieb am Laufen hält, ist erlaubt.“
Unseren Betrieb nannte Georg das. Es war nicht „unser“ Betrieb. Sie waren angestellt für diese Saison und vielleicht auch die nächste, konnten aber jederzeit ersetzt werden. Der eigene Betrieb war nur ein Traum. Nicht mehr als ein langsam wachsender Zahlenspiegel auf der Bank. Ein kleiner Schatz, der wuchs und schwand und wuchs und schwand. Käthe musste ihre Einwände unterdrücken, damit wieder Friede herrschte im Haus. Das kostete sie Kraft. Unseriös nannte sie Irmis Verhalten und eigentlich waren Georg und sie sich doch einmal einig gewesen, dass es gewisse Gesetze gab in ihrem Beruf, ungeschriebene, aber dennoch eherne Gesetze. Bei diesem Mädchen galten die plötzlich nicht mehr.
Willi reiste also an mit seinem ledernen Koffer, um den Fried einen seiner alten Armeegürtel geschnallt hatte, weil die Schlösser sonst nachgegeben hätten bei all dem Kram, den Willi unbedingt brauchte und mitnehmen wollte. Es war kurz vor Weihnachten. Am ersten Dezember hatten seine Eltern eine gemietete Villa am Hang bezogen. Sie stand in einem großen verwunschenen Garten mit vielen alten Bäumen, Tannenbäumen, wie aus dem Wald herübergewandert und dort stehen geblieben. Ihre Äste breiteten sie aus, Arme in einem dunkelgrünen Gewand, ausgestreckt über die struppigen Reste der Stauden und Gräser, der alten Rhododendren und Azaleen mit ihren herabhängenden traurigen Blättern und den dicken Knospen im Wartestand.
Am Tag nahm Käthe den Kleinen mit und schob ihn dahin und dorthin. In der Küche gab es einen Hocker, auf den legte man ein Schneidebrett, das ergab einen kleinen Tisch für Willi, der auf einem Fußschemel davor saß und malen durfte. Immer wieder stand er auf, ging auf Wanderschaft, neugierig stellte er sich zwischen all die in der Küche umhereilenden schwitzenden Menschen und als die kleine Küchenhilfe Annegret an ihn stieß und die ganze Schüssel mit heißem Grießbrei fallen ließ, blieb Käthe fast das Herz stehen. Was würde Georg dazu sagen? Nichts sagte er, denn das Schlamassel wurde schnell und gründlich beseitigt. Dass es genau am 24. Dezember war, noch im Jahr 1920 und kurz vor seinem sechsten Geburtstag, das würde Willi sich merken. Denn mit dem Hinweis auf dieses Missgeschick wurde er schon früh am Abend in die Villa gebracht, in sein Bett, noch bevor man das große Diner servierte.
„Jetzt schlaf schön. Wir kommen bald“, sagte seine Mutter und verschwand wieder. Schloss die Haustür von außen ab, nahm den Schlüssel mit.
Schlafen konnte Willi nicht. Es gab so viele Geräusche rings um ihn her. Die Fensterläden ratterten, wenn der Wind sie streifte, der Dielenboden knackte, so als ob unsichtbare Füße über ihn tappten. Es knisterte, kleine unregelmäßige Klopftöne kamen näher und verloren sich wieder in der Ferne und eine Kutsche rollte draußen vorbei, die Peitsche knallte, die Räder knirschten über Sand und Kieselsteine und das Pferd blies seine heiße Atemluft durch die Nüstern, nein, das konnte nicht sein, er konnte das nicht gehört haben, das Pferd war weit weg, alle Rollläden zu, das Haus stand einige Meter zurück von der Straße. Willi zog die Decke über den Kopf und lauschte seinem Atem, bis ihn auch der erschreckte. Dann hatte er plötzlich genug von dem ganzen Spuk. Er wollte nicht, dass all das geschah und er selbst bewegungslos inmitten der geisterhaften Geschehnisse saß, wie von einem Zauber gebannt.
Mit einem Ruck warf er die Bettdecke von sich. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen seine Kleider. Er streifte sie über, schlich vorsichtig zur Tür und suchte mit der Hand den Lichtschalter. Ein bisschen musste er sich danach strecken. Dort hing sein Mantel an einem Haken, die Mütze, der Schal. Er zog auch das alles an, schloss die Knöpfe, schlüpfte in seine dunkelroten Lederstiefelchen, band eine Schleife, so wie er es kurz vor seiner Abreise von Mamamine gezeigt bekommen hatte, öffnete sachte die Tür und lauschte hinaus. Dann betrat er den Flur und suchte dort den Lichtschalter, tapste weiter von Raum zu Raum und machte alle Lichter an im Haus. Im großen Salon zog er sich einen Stuhl vors Fenster, öffnete es und löste den Haken der Klappläden. Stieß die beiden Holzbretter mit der herzförmigen Öffnung weg, schloss das Fenster wieder. Ging nun weiter von Fenster zu Fenster; überallhin, wo es ihm gelang, öffnete er die Verschläge. Damit er die Sterne am Himmel sehen konnte und den Mond, eine schmale Sichel zwischen den Tannenwipfeln. Jetzt suchte er nach Kerzen. In der Küche, in allen Schränken, im Flur, im Badezimmer. Da fand er sie endlich, fein säuberlich nebeneinandergelegt in einem kleinen Korb auf der weiß lackierten Kommode neben den Handtüchern und Waschlappen. Die grauen Halter aus Email aufeinandergestapelt, ordentlich wie immer, wie alles, was die Mutter versorgte. Die Streichhölzer daneben. Mit leichtem Druck steckte er die erste Kerze in einen Halter. Richtete sie aus, ganz gerade, ließ sich Zeit dabei, betrachtete sie von oben, von der Seite. Jetzt! Anzünden. Konnte er das denn? Konnte er ein Streichholz anzünden? Er durfte es nicht und hatte es doch oft schon versucht, weil er das Geräusch mochte und das Aufflammen des hölzernen Stäbchens. Den schweflichen Geruch. Ein, zwei Hölzchen zerbrachen, bevor es ihm gelang, eine Flamme zu entzünden. Die erste Kerze brannte, die zweite trug er zuerst an einen anderen Ort, dann machte er auch sie an. Dann die dritte und alle anderen. Verteilte sie im Haus. Schließlich kam er ins Wohnzimmer, wo der Baum stand, eingepasst in einen schweren eisernen Ständer. Soweit hatte es der Vater noch geschafft am Vortag. Die Kartons mit den silbernen Kugeln