Die Welt erklären. Tobias Eick

Die Welt erklären - Tobias Eick


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Schneemengen mit sich und schnitt Teile der Bevölkerung bis zu eine Woche von der Außenwelt ab.

      Viele der etwa 400 verzeichneten Toten kostete die Kälte oder der Hunger das Leben. Mindestens 100 Menschen starben auf den mehr als 200 gestrandeten oder schiffbrüchigen Wasserfahrzeugen. In einem weniger nüchternen Abschnitt seines Artikels widmete sich Hayden den Strapazen, mit denen das New Yorker Lotsenboot Charles H. Marshall den todbringenden Sturm überstand. Diese Ausführung gab einen Vorgeschmack auf den später viel beachteten Stil des National Geographic Magazines bei dem nicht nur bloße Fakten dem Leser präsentiert werden. Vielmehr stand eine Berichterstattung mit erzählerischer Qualität im Vordergrund:

      „Es war zwölf Seemeilen südöstlich vor dem Leuchtfeuer auf Sandy Hook, als der Sturm mit einer solchen Kraft auf das Boot prallte, dass es sich auf die Seite legte, aber sich unsicher wieder aufrichtete. [] Gegen acht Uhr war der Sturm zu einem Hurrikan angewachsen und das Schiff wurde auf einer entsetzlich tobenden See hin und her geworfen. [] Schwere Wellen brandeten über die Männer hinweg, und die Gefahr, in der sie sich befanden, können nur die begreifen, die es erlebten. Schnee und Regen fielen mit einer derartigen Wucht, dass man nicht in Windrichtungen blicken konnte.“29

      Mittels der neutralen Erzählperspektive versetzte Hayden den Leser unmittelbar an Bord des Schiffes. Durch seine detailreichen Beschreibungen des Überlebenskampfes der Besatzung konnte der Leser sich in die dramatische Situation hineinversetzen. Aufgabe eines Autoren war es, Bilder in den Köpfen der Leser zu erzeugen. Immerhin lebten sie in einer Zeit, in der es noch fünf Jahre dauern sollte, bis Thomas Alva Edison sein Kinetoskop vorstellen würde30 – eine Art Schaukasten, in dem kurze Filme liefen. Auch das bildgebende Verfahren der Fotografie steckte noch in den Kinderschuhen. Erst 1826 hatte Joseph Nicéphore Nièpce mittels der Heliografie das mutmaßlich früheste Foto der Weltgeschichte angefertigt: ein Blick aus seinem Arbeitszimmer.31 Viele der Leser besaßen daher nur eine vage Vorstellung von den Abläufen auf See:

      „Aus Segeltuch wurden drei große Säcke, die halb mit ölgetränktem Werg gefüllt und am Bug mittschiffs und auf der Wetterseite über Bord gehängt wurden. Wahrscheinlich wurde auf diese Weise das Boot und das Leben aller an Bord gerettet, denn die Ölsäcke verhinderten das Brechen der Wellen, die jetzt als gewaltige Dünung vorbeiwogten. [] Auf Händen und Knien, nur mit einem Seil gegen die Wassermassen gesichert, krochen die Männer alle halbe Stunde zum Auswechseln der Ölsäcke. Kurz vor Mitternacht traf eine schwere See das Lotsenschiff und warf es auf die Seite. Alle beweglichen Dinge rutschten nach Lee, durch die vordere Luke brach Wasser ein. Doch da richtete sich das Schiff wieder auf und der Kampf ums Überleben ging weiter.“

      Den Startschuss für erzählerisch-journalistische Beiträge, die mit wissenschaftlichen Fakten unterfüttert waren, setzte bereits die Eröffnungsausgabe. Das zweite Heft erschien sieben Monate später, im April von 1889, und machte einen zweiten Grundsatz der Beiträge deutlich: Der Leser sollte an faszinierende, weit entfernte Orte mitgenommen werden und zu einem besseren Verständnis seiner Umwelt und anderer Kulturen gelangen. Der von Hubbard geschriebene Hauptartikel befasste sich mit der Zukunft und Vergangenheit Afrikas und thematisierte neben der Geografie des Kontinents auch in bemerkenswerter Weise den Sklavenhandel als „großen Fluch Afrikas“.32 Das Magazin war nicht nur Vorreiter für Reportagen, die den Leser in weit entfernte Regionen des Planeten entführten und ihn am Leben anderer Menschen teilhaben ließen, es bediente sich mitunter auch rassistischer Äußerungen. Im selben Beitrag relativierte Hubbard seine Erkenntnis durch die Aussage, dass eines Negers Gemüt ihn zu einem sehr effektiven Sklaven mache. Er könne lange und hart arbeiten, von wenig leben, habe eine fröhliche Natur und wende sich selten gegen seinen Herrn.33 Hubbards Überzeugungen waren für einen weißen Bewohner der oberen Bevölkerungsschicht der Vereinigten Staaten von Amerika in damaliger Zeit nicht ungewöhnlich. Durch die konstitutionell verankerte Abschaffung der Sklaverei verzeichneten die Bürgerkriegsbemühungen zwar einen humanitären Erfolg, doch die ehemaligen Sklaven waren von einer tatsächlichen Gleichstellung weit entfernt. Elf Jahre nach dem militärischen Konflikt wurden 1876 in mehreren US-amerikanischen Bundesstaaten die sogenannten Jim-Crow-Gesetze verabschiedet, die die Rechte der befreiten Sklaven drastisch beschnitten.34 Die Gesetze bewirkten bis 1964 eine Rassentrennung vor allem zwischen Afroamerikanern und Menschen weißer Hautfarbe. Vor diesem Hintergrund sind Hubbards Aussagen mit Bedacht zu bewerten – auch wenn sie aus moderner Perspektive höchst befremdlich wirken. Dies zeigt in gleicher Weise sein Aufsatz aus dem Jahre 1894 zum Thema „Geographic Process in Civilization“. Darin behauptete er, die Menschen der gemäßigten Zone der Nordhalbkugel seien Völkern anderer Herkunft kulturell weit überlegen:

      „Wenn man Vergleiche der Breitengrade rund um die Welt zieht, ungefähr 15 Grad nördlich und 15 Grad südlich von Washington, würden diese Breitengrade alle Länder der Erde beinhalten, die hoch zivilisiert sind und sich durch Kunst und Wissenschaft hervorheben. Keine großen Männer lebten jemals, keine großen Gedichte wurden jemals geschrieben, keine literarische oder wissenschaftliche Arbeit produzierte man jemals in anderen Teilen der Erde.“35

      Die Gründe suchte er im Falle Afrikas beim tropischen Klima, da die Erde dort Nahrung auf natürliche Weise zur Verfügung stelle und die Menschen nur eine spärliche Bekleidung benötigten, blieben „alle Anreize entweder mentaler oder handwerklicher Anstrengung mangelhaft.“36 Hubbards Bemerkungen reihten sich nahtlos in die Riege fragwürdiger Aussagen anderer Autoren des National Geographic Magazines ein und scheinen keineswegs seiner als „großherzig“ bezeichneten Person geschuldet.37 Die Zeit war noch nicht reif für einen durchweg sensiblen Umgang mit verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen der Welt.

      In der Ausgabe vom April 1891 griff die Gesellschaft ein für die nächsten Jahre bestimmendes Thema auf: In Zeiten, in denen einzig die Pole als weiße Flecken auf der Landkarte verblieben, berichtete das National Geographic Magazine über die Arbeit eines zehnköpfigen Expeditionsteams am Mount St. Elias und rückte die Erforschung der Polargebiete in den Fokus.38 Auf dieser ersten von der Gesellschaft finanziell unterstützten Forschungsreise kartierte das Team unter der Direktion des Geologen Israel C. Russel von 1890 bis 1891 das Gebiet rund um den zweithöchsten Berg Kanadas und der Vereinigten Staaten. Nebenbei entdeckten sie den höchsten Punkt Kanadas, den Mount St. Logan, und gaben einem gigantischen Gletscher den Namen Hubbards.39 Russels Artikel war für spätere Forschungsreportagen des Magazins wegweisend, da er erstmalig die Ich-Erzählperspektive wählte – wie seine Schilderung eines Unwetters zeigt, das ihn und sein Gefolge während der Expedition überraschte:

      „Als ich hinausschaute, sah ich menschenkopfgroße Felsbrocken ein paar Meter von unserem Zelt entfernt herabstürzen. Einer traf die Zeltstange, an der die Firstleine befestigt war. Unsere Zeltbahn wurde hochgeschlagen und es regnete herein. [] Wir zogen uns dann an das Ende des Gletschers zurück und bauten unser Zelt nochmals auf. Durchnässt und frierend sehnten wir das Ende der Nacht herbei. Zu schlafen war unmöglich.“40

      Das Festhalten persönlicher Erfahrungen im Unterschied zur Verwendung bloßer Fakten sollte den besonderen Stil des Journals in späteren Zeiten bestimmen. Der Leser konnte durch die Augen solch herausragender Globetrotter wie Russel auf der ganzen Welt Abenteuer erleben – auch wenn er selbst keine Möglichkeiten hatte einen Gletscher zu besteigen:

      „Der einsame Förster, der Büroangestellte an seinem Schreibtisch, der Klempner, der Lehrer, der achtjährige Junge oder der Achtzigjährige kann nicht wie ein Carnegie, Rockefeller, Ford oder Guggenheim seine eigenen Expeditionen aussenden. Aber als Mitglied der National Geographic Society kann er es genießen, einen Anteil an der Unterstützung von Erforschungen durch seine eigene Organisation zu haben und die Berichte aus erster Hand in seinem eigenen Magazin zu lesen.“41

      In den Folgejahren wurde das National Geographic Magazine unbeständig oft herausgegeben. Eine neue Ausgabe wurde nur veröffentlicht, wenn genügend Material das Drucken lohnte.

      Erst ab 1896 wurde es in monatlicher Regelmäßigkeit publiziert. Der Umschlag war nun beigefarben und das Heft für 25 Cents an den Kiosken der USA erhältlich.42