Sorge dich nicht!. Samira Zingaro
Stigmata. Nicht nur das Leben danach gerät aus den Fugen: Hinterbliebene hinterfragen zusätzlich das gesamte Leben und Handeln vor dem Suizid, was zu einer tiefen Verunsicherung bis zu einem nur schwer zu behebenden Vertrauensverlust führen kann.
Die nachfolgenden Geschichten fokussieren sich auf hinterbliebene Brüder und Schwestern. Nach dem Suizid meiner Schwester stellte ich fest, dass es zwar viel Literatur für Eltern und Partner gibt, kaum aber etwas zum Thema Geschwistertrauer. Dabei kann die Geschwisterbeziehung durch die gemeinsame Kindheit sehr intim sein und gar zu den längsten Verbindungen in einem Leben zählen.2 Ähnlich wie die Eltern, erleben die Geschwister die Zäsur durch den plötzlichen Tod hautnah. Im Gegensatz zu diesen stehen sie jedoch in einer gewissen Distanz zu dem oder der Verstorbenen, da es sich nicht um das eigene Kind handelt, das sich für den Tod entschieden hat. Ein Bruder oder eine Schwester unterscheidet sich auch altersmäßig von den Eltern; Geschwister gehören der gleichen Generation an, sie haben oft noch ihr ganzes Leben vor sich oder stehen mittendrin. Dennoch kann sie die Trauer nicht minder beschäftigen, was zuweilen bei ihrer Sorge um die Eltern untergeht: Nicht selten sind die noch lebenden Söhne und Töchter der verbleibende Pfeiler, die letzte Freude und Hoffnung, die eine Familie fortbestehen lässt, wenn nicht gar ein wesentlicher Grund für die Eltern, überhaupt weiterzuleben. Umgekehrt kommt es auch vor, dass der Schmerz das Familienleben so überschattet, dass die Eltern ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden.
In der Schweiz kommen über dreimal so viele Personen durch Suizid ums Leben wie durch einen Verkehrsunfall. Suizide geschehen überall auf der Welt, unabhängig von Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. Laut WHO bringt sich alle 40 Sekunden ein Mensch um, das macht weltweit rund eine Million Suizide im Jahr. Wie viele Familien nach einem solchen Tod auseinanderbrechen ist nicht bekannt. Das Risiko, dass sich ein weiterer Angehöriger das Leben nimmt, erhöht sich nach einer Selbsttötung um ein Vielfaches.Die emotionalen,gesellschaftlichen und nicht selten auch körperlichen Folgen nach einem Schicksalsschlag stellen Beziehungen vor eine Zerreißprobe. Die Berichte in diesem Buch sollen deshalb auch Mut machen. Sie erzählen von Zurückgelassenen, die es trotz ihrer Belastung geschafft haben, auf ganz unterschiedliche Weise im Leben wieder Fuß zu fassen.
Das Buch will zudem das Verständnis zwischen Hinterbliebenen und ihren Bekannten fördern. Es ist nicht leicht für Mitmenschen, mit der Bürde eines solchen Todes umzugehen. Zu viel Anteilnahme kann ebenso falsch verstanden werden wie keine. Manche Menschen wenden sich mit ehrlichem Mitgefühl an die Trauernden, vielleicht auch solche, mit denen sie zuvor jahrelang keinen Kontakt pflegten.Wenig vertraute Arbeitskollegen suchen das Gespräch und erzählen von eigenen, einschneidenden Erlebnissen. Andere wiederum – auch langjährige, gute Bekannte der Betroffenen – ziehen sich zurück und versuchen den Hinterbliebenen tunlichst auszuweichen.
Für die »Survivors« selbst ist die Trauerphase kein linearer Prozess. Es mag zutreffen, dass nach dem oft zitierten »Jahr der Trauer« vieles einfacher erscheint: den ersten Geburtstag und die ersten Weihnachten ohne den geliebten Menschen sowie den ersten Todestag haben die Angehörigen hinter sich. Doch an die Last, die zu tragen sie sich nicht gewünscht hatten, müssen sich Hinterbliebene erst gewöhnen. Die Auseinandersetzung zwischen Verbitterung und Dankbarkeit erfordert Zeit.
»Sorge dich nicht!« sind Worte, die sinngemäß in manch einem Abschiedsbrief stehen. Die Vorstellung, dass die Liebsten nicht traurig sein sollen, nicht leiden nach einem solchen Verlust, zeugt davon, dass sich die wenigsten Suizidenten bewusst sind, welche Konsequenzen ihr Tod nach sich zieht. Einige scheinen gar zu glauben, ihr Abgang erleichtere das Leben der Angehörigen, weil sie sich fortan nicht mehr um die suizidale Person zu kümmern brauchen. Die vorliegenden Geschichten aber zeigen: Die größte Herausforderung beginnt für die Zurückgelassenen erst nach dem Suizid.
Samira Zingaro
Zürich, August 2013
»Niemand weiß, wie mit einem solchen Tod umzugehen.«
Interview mit Eberhard Aebischer-Crettol, Pfarrer/Seelsorger
Hunderte von Hinterbliebenen nach einem Suizid hat der pensionierte Pfarrer Eberhard Aebischer-Crettol begleitet. Er rief Selbsthilfegruppen für Trauernde ins Leben und gilt als ein Pionier der Internet-Seelsorge.
Es gab eine Zeit, da hatte Eberhard »Ebo« Aebischer-Crettol für jede und jeden jederzeit ein offenes Ohr. Mitte der 1990er-Jahre flackerte der Bildschirm seines Computers Tag und Nacht, täglich füllte sich sein Posteingang mit Zeilen von Hilfesuchenden, die um Rat und seine Unterstützung baten. Jahrelang boten der Theo-loge und seine Frau Zurückgelassenen nach Suizid ihren Beistand an, er als Seelsorger via E-Mail, sie per SMS. Heute hingegen ist es nicht einfach, mit ihm in Kontakt zu treten, denn nach über einem Jahrzehnt Seelsorge im Internet fuhr Ebo Aebischer eines Tages seinen Computer herunter, die Schicksale der Hinterbliebenen belasteten ihn zu sehr. Aebischers sind im Telefonverzeichnis nicht mehr registriert, ihre Fußspuren in der virtuellen Welt in den letzten Jahren verblasst. Die Nummer, die im Internet kursiert, ist außer Betrieb. Doch auf eine Postkarte reagiert der Pfarrer und studierte Chemiker.
Aebischers wohnen an begüterter Adresse an der Stadtgrenze zu Bern. Der ehemalige Seelsorger führt den Besuch in den Wintergarten, ein Zierbrunnen blubbert. Im Garten vor dem Haus kniet eine oxydgrüne Bronzestatue in gebeugter Haltung. Ebo Aebischer wägt seine Worte sorgfältig ab. Die ungezählten E-Mails füllen heute Bundesordner in seinem Arbeitszimmer, und der pensionierte Theologe hofft darauf,dass eines Tages ein Doktorand daran Interesse findet.
Ebo Aebischer, gilt Suizid heute noch als ein Tabu?
Sicher nicht mehr so stark wie früher. Die Gesellschaft sieht Suizid zunehmend als eine Möglichkeit an, aus dem Leben zu scheiden. Doch nimmt sich jemand das Leben, glauben viele Menschen, dass etwas in der betreffenden Familie nicht in Ordnung war. Diese Vorurteile, Anschuldigungen und die Angst vor Stigmatisierung existieren nach wie vor und sind der Grund, warum Hinterbliebene eine Selbsttötung oft verschweigen und sich oft auch ›auffällig‹ verhalten: Sie wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein Bekannter entgegenkommt oder gucken in ein Schaufenster, um nicht angesprochen zu werden.Außenstehende spüren diese Art Scham, wissen nicht, wie damit umgehen und vermeiden folglich das Thema.
Sind es nicht gerade die Außenstehenden, die nicht wissen, wie angemessen reagieren und dem Thema oder gar den Hinterbliebenen aus dem Weg gehen?
Dieses Verhalten zeigt sich auf beiden Seiten. Niemand weiß, wie mit einem solchen Tod umzugehen ist.
Was wäre der bessere Weg?
Das Wichtigste erscheint mir, sowohl von Seiten der Hinterbliebenen wie auch von Seiten der Bekannten, aufeinander zuzugehen und den Verlust direkt anzusprechen. Um ein Gespräch und Hilfe zu ermöglichen, sollten auch die Hinterbliebenen versuchen zu sagen: ›Schön, dass wir uns treffen.‹ Schon dieser Satz ist eine Einladung an das Gegenüber, weniger befangen mit den Hinterbliebenen umzugehen. Die andere Person kann diesen Satz aufnehmen und ganz ehrlich sagen: ›Ich bin sprachlos, ich weiß nicht, was sagen.‹ Oft hilft auch einfach eine Umarmung, die zeigt, dass jemand da ist und mitfühlt.
Den meisten Zurückgelassenen fehlt dazu die Energie.
Wenn der Tod ganz frisch ist, stehen die Hinterbliebenen unter einem derart heftigen Schock, dass sie entweder wie in Trance agieren und funktionieren oder völlig apathisch sind. In diesem schweren Zustand bietet es sich für einen Außenstehenden an, ungefragt einen Besuch abzustatten und den Trauernden zu essen oder zu trinken vorbeizubringen. Das empfinden Hinterbliebene normalerweise als sehr wohltuend – auch wenn sie die Geste mitunter in diesem Ausnahmezustand nicht richtig wahrnehmen.
Viele Hinterbliebene zerbrechen endgültig.
Die Resilienz, also die psychische Belastungsfähigkeit, spielt bei solchen Traumata eine zentrale Rolle. Manche Menschen verfügen über eine größere innere Spannkraft, um Schicksalsschläge zu überwinden. Nehmen wir das Beispiel eines Holzstocks. Man biegt ihn, bis er bricht. Das ist je nach Beschaffenheit des Holzes sehr unterschiedlich, und so verhält es sich auch mit unseren Resilienzen. Ein Bambusrohr bedarf einer viel größeren Kraft, um es zu knicken.
Inwiefern