Urbanität und Öffentlichkeit. Группа авторов
gestellt und mit der entsprechenden professionellen Kompetenz bearbeitet werden. Denn es handelt sich bei Urbanität und Öffentlichkeit um Zentralbegriffe, anhand derer die Rahmenbedingungen |20| und Zielvorstellungen individuellen religiösen Lebens und gemeinsamen Zusammenlebens reflektierend, kommunizierend und interagierend näher in Augenschein genommen werden können. Es geht dann aber um nicht weniger als die Frage, ob urbaner Raum und öffentlicher Raum in besonderer Weise mit und von der Präsenz Gottes her zu denken sind – eine theologische Frage, die gleichsam zum kirchentheoretischen Kernbestand seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört7.
In diesem Fall stellen Urbanität und Öffentlichkeit folglich nicht nur heuristische Analysekategorien dar, sondern Deutungsmuster gegenwärtigen Lebens bzw. gelebter Religion. Damit handelt es sich aber um nicht weniger als um Kategorien der Welterschliessung und Weltinszenierung8, die auf gemeinsames Verstehen angelegt und damit auch für dezidiert theologische Deutungen offen sind. Interessanterweise sind es biblisch gesprochen gerade städtische Metaphern wie die des neuen Jerusalem, die die Vorstellung eines vollendeten Lebens leiten.9 In christologischer Ausrichtung kann diese theologische Perspektive auf den urbanen Raum etwa so formuliert werden: «Mit der Orientierung an den drei Ämtern Christi und den daraus abgeleiteten Zielformulierungen – geistliche Verankerung, kompetente Anwaltschaft und missionarischer Aufbruch – hat die evangelische Kirche in der Stadt eine Grundorientierung, die sowohl ihr Spezifisches stärkt als auch eine Öffnung nach außen ermöglicht».10
Gerade weil solche Deutungen ihrerseits aber komplex sind, bedarf dies der weiteren kirchentheoretische Bearbeitung und damit gewissermassen der reflektierenden und reflektierten hermeneutischen Entschleunigung. Die hier versammelten Sondierungs- und Angebotsbeiträge aus praktisch-theologischer wie aus systematisch-theologischer Sicht wollen folglich den Anspruch dieser Kirchentheorie verdeutlichen, Teil der wissenschaftlichen Theologie selbst zu sein. Damit schliessen sich aber alle Versuche der Kolonialisierung kirchlicher Lebenswelten durch eine bestimmte Form voreingenommener Forschung kategorisch aus. Dass sich dies dann gleichwohl auch mit der Frage nach der missiologischen Perspektive verbinden kann und soll, werden die Schlussbeiträge dieses Bandes deutlich machen. |21|
2. Kirchentheoretische Grundanliegen
So zeigen sich also in der vielfältigen Beleuchtung der Themen Urbanität und Öffentlichkeit exemplarisch die grundlegenden kirchentheoretischen Herausforderungen an. Zugleich werden schon durch dieses Agendasetting bestimmte kirchentheoretische Grundanliegen und -überzeugungen mittransportiert:
Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass sich sowohl Aspekte der Urbanität wie der Öffentlichkeit als Ressourcen zukünftiger Kirchenentwicklung ausmachen lassen. Fern sei jedenfalls das Klagelied über den vermeintlichen Verfall einstmals überschaubarer lokaler Strukturen und einer einstmals organischen und ganz konfliktfreie Verfassung des öffentlichen Lebens. Dabei handelt es sich wohl um kaum mehr als Mythenbildung, auf deren Revitalisierung man allerdings sinnvollerweise weder Zeit und Energie verwenden sollte. Es geht auch nicht um eine Abwertung der Begriffe Urbanität und Öffentlichkeit unter der Hand oder um eine Art missionarischer Kolonialisierung, wie man dies in anderen kirchentheoretischen Zusammenhängen im Blick auf den Postmoderne-Begriff feststellen muss.11 Kirche und Gemeinden sind jedenfalls nicht einfach weltferne Grössen vor Ort, die sich nun etwa durch eine Art der Gegenkultur von allem Weltgetriebe per se absetzen könnten. Vielmehr besteht die kirchentheoretische Herausforderung darin, sich zu diesen Dynamiken in ein theologisch verantwortetes Verhältnis setzen zu können. Oder anders gesagt: Eine entscheidende kirchentheoretische Herausforderung besteht darin, nicht nur mit den Geschwindigkeiten und Kontrasten dieser Dynamiken umgehen zu können, sondern auch mit deren permanenten Innovationen, Transzendenzbewegungen12 und nicht zuletzt deren immanenten Widersprüchen,13 mit denen die Menschen im urbanen Raum aber offenbar zu leben gelernt haben.
Das heisst aber auch, dass hinter den zu bearbeitenden Schwerpunkten die Frage nach der verantwortlichen kirchlichen Praxis im Blick auf die Menschen selbst im Zentrum zu stehen hat – und zwar auch diejenigen Menschen, die auf den ersten Blick nicht den Kernbereich kirchlicher Gemeinde ausmachen. Denn offenkundig ballen sich in den Entwicklungen des technischen Zeitalters nicht nur Rohstoffe und Kapital, sondern auch die Ressourcen und Möglichkeiten des je einzelnen Menschen, mit diesen Herausforderungen des beschleunigten – und nun besonders verletzlichen – Lebens umzugehen. Städte bzw. urbane Kontexte sind im tatsächlichen und im symbolischen Sinn Ballungsräume unterschiedlichster Lebensformen und Lebenswelten.14 Damit ist aber auch klar, dass weder urbane noch öffentliche Entwicklungsdynamiken eine Eingrenzung kirchentheoretischer |22| Arbeit auf den vermeintlichen Kern oder heiligen Rest kirchlichen Lebens erlaubt.
Vielmehr steht hinter dieser Schwerpunktsetzung die feste Überzeugung, dass kirchentheoretisch auch zukünftig von vielfältigen Möglichkeiten volkskirchlichen Lebens ausgegangen werden kann.15 Schliesslich kann es nicht darum gehen, hier Patentprogramme für die zukünftige Kirchenentwicklung vorzulegen, sondern einige erste kirchentheoretische Überlegungen anzustellen und damit vor allem die inhaltliche Diskussion zu befördern, um damit dann auch über kriteriologische Massstäbe für konkrete Reformentwicklungen zu verfügen.
3. Ansprüche des Zentrums für Kirchenentwicklung
Von diesen Überlegungen aus sei noch auf den Anspruch des für diesen Band verantwortlichen Zentrums für Kirchenentwicklung eingegangen. Um mit einigen eher generellen Überlegungen zu beginnen: Ein Zentrum – wo auch immer man sich dieses vorstellt – hat es mit sehr unterschiedlichen Referenzgrössen und Dynamiken zu tun. Streng genommen und kybernetisch gesprochen kann von einem Zentrum überhaupt nur die Rede sein, weil es eben auch das Nicht-Zentrum gibt, also all das, was sich um diesen Punkt bzw. Ort herum, ganz nah, in gewisser Entfernung oder an der Peripherie abspielt.
Ein Zentrum hat es zugleich kybernetisch gesprochen nicht nur mit Steuerungsvorgängen, sondern dabei auch mit Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zu tun: Kern und Umgebung sind keineswegs unabhängig voneinander zu denken. Dabei ist durchaus nicht automatisch klar, was eigentlich was beeinflusst, gar steuert? Das Zentrum die Umgebung oder die Umgebung das Zentrum? Zudem ist ja immer auch die Frage, wie gross der proklamierte Zentralort etwa im Verhältnis zu allem Umgebenden mit seinen Eigendynamiken ist – auch von dort her bestimmt sich die wechselseitige Dynamik und die Einflusskraft in erheblichem Sinn.
Zudem stellt sich die Frage, wie fest und stabil ein solches Zentrum überhaupt sein kann. Ist es möglicherweise aufgrund der verschiedenen Zentripetal- und Zentrifugalkräfte sogar in permanenter Neuformung und Entwicklung, per se hoch plural, multiperspektivisch, möglicherweise gar instabil und somit womöglich gar ein virtueller Ort? Weiter wäre zu fragen: Ist ein solches Zentrum als das Auge eines Orkans vorzustellen oder stellt es einen Brennpunkt dar, in dem unterschiedliche Dynamiken aufeinander treffen, mit einander korrespondieren, sich versöhnen oder neue Kraft gewinnen, bestimmte Kräfte permanent zur Mitte hin oder davon weg streben? |23|
Zu merken ist hier schon, dass es der Zentrumsbegriff im wahrsten Sinn des Wortes in sich hat. Und nun stellt sich die Frage nach den Dynamiken, Wechselwirkungen und Steuerungskräften umso stärker, wenn man wie die Praktische Theologie in Zürich ein Zentrum für Kirchenentwicklung aus der Taufe hebt. Denn damit wird es einerseits inhaltlich konkreter und klarer, aber auch deutlich komplexer:
Klarer wird der Begriff im konkreten Fall des Zentrums für Kirchenentwicklung durch eine bestimmte Form der Institutionalisierung: eine Geschäftsordnung, festgeschriebene Verantwortlichkeiten, reale Räume und Personen, schliesslich die Finanzierung, die bestimmte Möglichkeiten und Grenzen mit sich bringen. So heisst es in der entsprechenden Geschäftsordnung, dass das Zentrum zum Ziel hat, «Fragen der Kirchenentwicklung und des Gemeindeaufbaus sowohl wissenschaftlich fundiert wie praxisrelevant zu bearbeiten». Es soll sich «der Forschung, Lehre und Anwendung im Bereich der praktisch-theologischen Kybernetik» widmen und sich insbesondere «für die Profilierung der reformierten Ekklesiologie in der schweizerischen und ökumenischen Öffentlichkeit» einsetzen. Zum Aufgabenkatalog gehört, «der verstärkten Forschung auf dem Gebiet der Kirchenentwicklung und des Gemeindeaufbaus» zu dienen, «Personen aus dem universitären und kirchlichen Umfeld im In- und Ausland, welche sich mit den Fragestellungen