Urbanität und Öffentlichkeit. Группа авторов

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sie zuvor, so wie wir alle, so gut es geht, verdrängt haben). Von da aus sind die ganz grossen Fragen dann nicht mehr weit, auch wenn sie natürlich |38| auf ganz unterschiedliche Weise und nicht immer christlich beantwortet werden: Was ist der Sinn des Lebens? Was kommt nach dem Tod? Gibt es einen Gott – und wenn ja, warum lässt er das Böse zu?

      Insofern könnte man sogar sagen, dass die Kirche – also vielmehr das, wofür sie steht – in meinen Kriminalromanen immer eine gewisse Rolle spielt. In meinem vierten Roman, Farben der Schuld, geht es sogar ganz explizit um einen Mord im (katholischen) Kirchenmilieu. Und meine Hauptfigur, Kommissarin Judith Krieger, die mit Kirche eigentlich gar nichts zu tun haben will, ist in diesem Roman von einem Einsatz so traumatisiert, dass sie sich an einen Polizeiseelsorger wendet. Eine Situation, die absolut realistisch ist. Wenn man gar nicht mehr weiter weiss, wird Kirche relevant.

      Manchmal, nein oft, denke ich, dass das ziemlich unfair ist. Die Kirche als eine Art Servicestation, auf Abruf bereit, wenn man sie gerade nötig hat. Sie fordert nichts dafür, sondern ist einfach da. Wie die Kirche am Ende meiner Strasse eben. Ich kann hingehen, muss das aber nicht. So wie man als Kind im Idealfall zu Mutter und Vater flüchten kann, wenn etwas schief gegangen ist. Die Relevanz von Kirche bestünde so gesehen heutzutage also in ihrem blossen Vorhandensein. Eine Convenience-Kirche. Mit einem Standby-Pfarrer darin und einem Standby-Gott, die irgendwie immer auf mich zu warten scheinen.

      Ich weiss keine Alternative dazu. Ich könnte nicht einmal sagen, was sich verändern müsste, damit aus mir eine aktive Kirchgängerin würde. Einen Aspekt der Bedeutung von Kirche in meinem Leben möchte ich aber unbedingt noch erwähnen:

      Kirche ist nicht nur da. Sie hat auch den Mut auf dem zu beharren, was sie ausmacht: Auf christlichen Werten nämlich. Und zwar (im Idealfall) gerade auch dann, wenn es schwierig wird – egal ob politisch oder persönlich. Ich habe das zu DDR-Zeiten selbst einige Male miterlebt. Widerstand von der Kanzel aus. Ähnlich muss es im Nationalsozialismus gewesen sein, wenn sich Angehörige der Bekennenden Kirche nicht einschüchtern liessen. Wie schwer und gefährlich das war, habe ich in meinem Roman Das Lied der Stare nach dem Frost ausgelotet, in dem es um die Geschichte einer mecklenburgischen Pfarrersfamilie im Dritten Reich geht – um das Ringen um eine Haltung zwischen Anpassung und Widerstand. Es war mir ein grosses Bedürfnis, diesen Roman zu schreiben und dabei auch ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte und der deutschen Vergangenheit zu erforschen. Ich habe bei der Auseinandersetzung mit der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen sehr viel über christliche Werte im besten Sinne erfahren. Und auch darüber, dass die evangelische Kirche nach 1945 durchaus viel Grund zur Reue hatte – und sich seitdem von einer den Staat und seine Herrscher eher hofierenden hin zu einer diese eher kritisierenden, unabhängigen Instanz entwickelt hat. |39|

      Hier stehe ich und kann nicht anders, ich beharre auf meinen Werten und meinem Gott und nehme mir deshalb auch das Recht heraus, auszusprechen, wenn etwas falsch läuft. Diese Haltung im lutherschen Sinne ist, finde ich, was Kirche relevant macht. Und das ist weit mehr als Convenience im Standby-Betrieb. |40|

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      Zu Urbanität und Religiosität

      Irene Gysel

      Vom Dorf in die Stadt

      Es ist ein magischer Moment, wenn man aus einem kleineren Dorf kommend in einer grossen Stadt eine Wohnung beziehen kann.

      Im Dorf wussten viele Menschen sehr genau, wer man war, und sollte man es selber für einmal vergessen haben, wurde es einem sofort wieder klar gemacht. Die Nachbarn, die SchulkollegInnen, die Mitglieder der Kirchgemeinde oder irgendeines Vereins, zu dem man gehörte, wussten es genau und sie spiegelten es immer wieder zurück. Das gab Sicherheit und Identität und setzte gleichzeitig Grenzen.

      Und dann taucht man ein in die grosse Anonymität einer Stadt. Niemand kennt einen. Man bestimmt ganz allein, was man mit seiner Freizeit anfängt. Wohin gehe ich? Wo esse ich? Wen treffe ich an? Es gibt tausend Möglichkeiten. Alles ist da. Ich kann wählen. Niemand wird mich dabei beobachten und kontrollieren.

      Ein ungeheures Freiheitsgefühl kann entstehen. Ich bestimme, wer ich bin. Ich erfinde mich neu, kann mich aber auch verlieren, denn da gibt es auch die Slums, die Unterwelten, die Banden. Wer findet mich dann in diesem Dschungel wieder, sagt mir wohin ich gehöre und wer ich bin?

      Gewisse Indianerstämme schickten ihre jungen Männer in der Adoleszenz allein hinaus in die Wildnis, damit sie dort ihre Identität finden konnten. Wenn sie überlebten, kehrten sie als gefestigte Persönlichkeiten zurück. Wir schicken unsere jungen Leute in die Wildnis der Städte. Vielleicht nur in eine grössere Schweizer Stadt, vielleicht aber auch für eine Firma nach New York, Shanghai, Hongkong, Tokio.

      Medien

      In der Stadt ist alles da. Die ganze Vielfalt, die eine Gesellschaft zu bieten hat, die Güter, das Wissen. Man kann sich frei bewegen und hat alles zur Verfügung. Man kann anonym bleiben oder sich irgendwo anschliessen und etwas von sich preisgeben, aber nur so viel, wie man will.

      Dazu gibt es heute eine Parallele. Ein Ort, der ein ungeheures Wissen zur Verfügung stellt, der sowohl Anonymität als auch Möglichkeiten für Kontakte anbietet. Es ist Bildung zu haben, aber auch Unterhaltung und Ablenkung: Das Internet, das World Wide Web. Wenn wir heute von Urbanität reden, gehört diese neue Welt dazu. Neu ist, dass sich diese Urbanität nicht auf Städte beschränkt, |42| sondern überall zu haben ist, auch im hintersten Winkel auf dem Land, Urbanität für jedermann. Hier trifft sich heute die Gesellschaft. Schon wenn ich eine eigene Homepage eröffne, mische ich mich unter die grosse Masse. Und ich muss dann überlegen, wie ich mich präsentiere, wer ich sein will. Vielleicht gebe ich etwas preis von mir, aber nur gerade so viel, wie ich will.

      Noch deutlicher wird die totale Urbanität bei den Social Media. Man sucht sich Freunde mittels Facebook und verabredet sich dort mit ihnen. Junge Menschen schaffen sich eine eigene Welt im Second Life, erfinden sich neu als Avatar. Sie treten mit einer Wunsch-Persönlichkeit unter einem neuen Namen auf als Held, Superman, dunkler Gangster, als Karrierefrau oder Prinzessin. Und dann leben sie ein Stück weit in dieser Welt. Im Netlog, wie man kürzlich anlässlich eines Mordfalles im Tessin lesen konnte, treffen sich gemäss Presse 68 Millionen junge Menschen aus aller Welt und kommunizieren miteinander. Sie können sich dort ebenfalls verlieren. Verlieren in ihren Träumen, oder aber, weil sie zu viel von sich preisgeben, oder noch schlimmer, weil sie dort gemobbt und verunglimpft werden und weil dort das uralte Recht des Stärkeren gilt.

      Es gab die Wildnis der Indianer und es gibt die Wildnis unserer Städte. Heute gibt es zusätzlich die Wildnis des Internet.

      Grundfrage

      Wer bin ich, wer möchte ich sein, wo bin ich stark, wo habe ich Angst? Das sind die alten, immer gleichen existenziellen Grundfragen. Heute sieht es beinahe so aus, als könnten wir sie ein Stück weit neu beantworten. Wir können uns neu erfinden. Wir können uns eine Welt erschaffen und uns darin frei bewegen, mit anderen Menschen oder besser mit anderen Wunschpersonen kommunizieren. Und wir können dort auch Gewalt ausüben. Wir können uns frei fühlen, kreativ werden, oder wir können in Fallen geraten und erleben, dass wir auch hier oder gerade hier nicht bestehen können.

      Zu wem gehöre ich? Wer hat ein Interesse an mir? Kann ich mein Leben selber gestalten? Wer sonst gestaltet mit? Ist da ein Gott? Oder eine andere Dimension?

      Vielleicht gab es nie eine Zeit, in der die existenziellen Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste der Menschen so ungefiltert und so radikal schonungslos offen zutage traten und sichtbar wurden wie heute. Privates wird öffentlich. Vom Fernsehen heisst es, es sei wie eine Lupe, die alles zeige, was sonst nicht so genau gesehen werde. Dann ist das Internet wie ein Mikroskop. |43|

      Ein reformiertes Thema

      Das Suchen nach der eigenen Identität ist auch ein grosses reformiertes Thema. Selbsterkenntnis war ein Schlagwort. Ich bin ihm bei Zwingli begegnet. Und dort immer zusammen mit der Gotteserkenntnis.


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