Königliche Hoheit. Thomas Mann
in die Schnurrbärte bissen, um auf männliche Art ihre Ergriffenheit zu bemeistern … Ja, das war schön, und die Kinder fühlten sich beteiligt an dieser Wirkung, die alles übertraf, was Kammersänger Schramm mit seinen seligsten Tönen erzielte, und schmiegten sich stolz an Mama. Denn Klaus Heinrich wenigstens sah ein, daß es uns dem Wesen der Dinge gemäß nicht anstand, einfach zu fühlen und damit glücklich zu sein, sondern daß es uns zukam, unsere Zärtlichkeit im Saale anschaulich zu machen und auszustellen, damit die Herzen der Gäste schwöllen.
Zuweilen bekamen auch die Leute draußen in Stadt und Park zu sehen, daß Mama uns lieb hatte. Denn während Albrecht am frühen Morgen mit dem Großherzog ausfuhr oder ritt – obgleich er so schlecht zu Pferde saß –, so hatten Klaus Heinrich und Ditlind von Zeit zu Zeit und abwechselnd Mama auf ihren Spazierfahrten zu begleiten, die im Frühjahr und Herbst nachmittags um die Promenadezeit stattfanden, in Gegenwart der Freifrau von Schulenburg-Tressen. Klaus Heinrich war ein wenig erregt und fieberhaft vor diesen Spazierfahrten, mit denen schlechterdings kein Vergnügen, sondern im Gegenteil viel Mühe und Anstrengung verbunden war. Denn gleich, wenn zwischen den präsentierenden Grenadieren der offene Wagen das Löwenportal am Albrechtsplatze verließ, so stand viel Volks dort versammelt, das die Ausfahrt erwartet hatte, Männer, Frauen und Kinder, die riefen und gierig schauten; und es galt, sich zusammenzunehmen und anmutig standzuhalten, zu lächeln, die linke Hand zu verbergen und so mit dem Hute zu grüßen, daß es Freude im Volke hervorrief. Das ging so fort auf der Fahrt durch die Stadt und im Grünen. Die anderen Fuhrwerke mußten wohl Abstand wahren von unserem, die Schutzmänner hielten darauf. Jedoch die Fußgänger standen am Wegessaum, die Damen ließen sich knicksend nieder, die Herren hielten den Hut am Schenkel und blickten von unten mit Augen voll Andacht und dringlicher Neugier – und dies war Klaus Heinrichs Einsicht: daß alle da waren, um eben da zu sein und zu schauen, indes er da war, um sich zu zeigen und geschaut zu werden; und das war das weitaus Schwerere. Er hielt seine linke Hand in der Paletottasche und lächelte, wie Mama es wünschte, während er fühlte, daß seine Wangen in Hitze standen. Aber der »Eilbote« schrieb, daß die Wangen unseres kleinen Herzogs wie Rosen gewesen seien vor Wohlbefinden.
Klaus Heinrich war dreizehn Jahre alt, als er an dem einsamen Perlmuttertischchen inmitten des kalten Silbersaales stand und das Eigentliche zu ergründen suchte, um das es sich für ihn handelte. Und wie er die Erscheinungen innig durchdrang: den leeren, zerschlissenen Stolz der Gemächer, der über Zweck und Behagen war, die Symmetrie der weißen Kerzen, in welcher ein hoher und angespannter Dienst, eine beherrschte Entsagung ausgedrückt schien, die kurze Verstörung auf seines Vaters Gesicht, wenn man ihn freihin ansprach, die kühl und streng gepflegte Schönheit seiner Mutter, die sich lächelnd der Begeisterung darstellte, die andachtsvollen und dringlich neugierigen Blicke der Leute draußen – da ergriff ihn eine Ahnung, eine ungefähre und wortlose Erkenntnis dessen, was seine Angelegenheit war. Aber zur selben Zeit kam ihn ein Grauen an, ein Schauder vor dieser Art von Bestimmung, eine Angst vor seinem »hohen Beruf«, so stark, daß er sich wandte und beide Hände vor seine Augen warf, beide, die kleine runzlige linke auch, und an dem einsamen Tischchen niedersank und weinte, weinte vor Mitleid mit sich und seinem Herzen, bis man kam und zu Gott emporblickte und die Hände zusammenschlug und fragte und ihn wegführte … Er gab an, daß er Furcht gehabt, und das war die Wahrheit.
Er hatte nichts gewußt, nichts begriffen, nichts geahnt von der Schwierigkeit und Strenge des Lebens, das ihm vorgeschrieben war; er war lustig gewesen, hatte sich sorglos fahren lassen und viel Anlaß zum Entsetzen gegeben. Aber früh mehrten sich die Eindrücke, die es ihm unmöglich machten, sich der wahren Sachlage zu verschließen. In der nördlichen Vorstadt, unweit des Quellengartens, war eine neue Straße entstanden; man eröffnete ihm, daß sie auf Magistratsbeschluß den Namen »Klaus-Heinrich-Straße« erhalten habe. Gelegentlich einer Ausfahrt sprach seine Mutter mit ihm beim Kunsthändler vor; es galt einen Einkauf. Der Lakai wartete am Schlage, Publikum sammelte sich an, der Kunsthändler eiferte beglückt – das war nichts Neues. Aber Klaus Heinrich bemerkte zum erstenmal seine Photographie im Schaufenster. Sie hing neben denen von Künstlern und großen Männern, hochgestirnten Männern, deren Augen aus einer berühmten Einsamkeit blickten.
Man war im ganzen zufrieden mit ihm. Er nahm zu an Haltung, und ein gefaßter Anstand kam in sein Wesen, unter dem Druck seiner Berufenheit. Aber das Seltsame war, daß zu gleicher Zeit sein Verlangen wuchs: diese schweifende Wißbegier, die zu befriedigen Schulrat Dröge der Mann nicht war, und die ihn getrieben hatte, mit den Lakaien zu plaudern. Er tat das nicht mehr; es führte zu nichts. Sie lächelten »Du Reiner, du Feiner«, sie bestärkten ihn durch eben dieses Lächeln in der dunklen Vermutung, daß seine Welt der symmetrisch aufgesteckten Kerzen in einem unwissenden Gegensatz zur übrigen Welt dort draußen stehe, aber sie halfen ihm gar nicht. Er sah sich um auf den Spazierfahrten, auf den Gängen, die er mit Ditlind und Madame aus der Schweiz, gefolgt von einem Lakaien, durch den Stadtgarten unternahm. Er fühlte: wenn alle einig gegen ihn waren, um zu schauen, indes er einzeln und herausgehoben war, um geschaut zu werden, so war er also ohne Teil an ihrem Treiben und Sein. Er begriff ahnungsweise, daß sie mutmaßlich nicht immer so waren, wie er sie sah, wenn sie standen und grüßten mit frommen Augen, daß wohl seine Reinheit und Feinheit es sein mußte, die ihre Augen fromm machte, und daß es ihnen ging wie den Kindern, wenn sie von Märchenprinzen hörten und so eine Verschönerung der Gedanken und Erhebung über den Wochentag erfuhren. Aber er wußte nicht, wie sie unverschönt und unerhoben am Wochentage blickten und waren – sein »hoher Beruf« enthielt es ihm vor, und es war wohl also ein gefährlicher und ungehöriger Wunsch, sein Herz berühren zu lassen von Dingen, die seine Hoheit ihm vorenthielt. Er wünschte es dennoch, wünschte es aus einer Eifersucht und jener schweifenden Wißbegier, die ihn zuweilen trieb, Forschungszüge in unbewohnte Gegenden des Alten Schlosses zu unternehmen, mit Ditlind, seiner Schwester, wenn es sich machen ließ.
Sie nannten es »Stöbern«, und der Reiz des »Stöberns« war groß; denn es war schwer, mit dem Grundriß und Aufbau des alten Schlosses vertraut zu werden, und jedesmal, wenn sie weit genug ins Entlegene vordrangen, fanden sie Stuben, Gelasse und öde Säle auf, die sie noch nie betreten hatten, oder doch seltsame Umwege zu bekannten Räumen. Aber einmal bei solchem Streifen hatten sie eine Begegnung, stieß ihnen ein Abenteuer zu, das, äußerlich unscheinbar, Klaus Heinrichs Seele doch mächtig ergriff und belehrte.
Gelegenheit bot sich. Während Madame aus der Schweiz sich in Urlaub zum Nachmittagsgottesdienst befand, hatten sie bei der Großherzogin in Gesellschaft zweier Ehrendamen ihre Milch aus Teetassen getrunken, waren entlassen und angewiesen worden, Hand in Hand in die unfernen Kinderzimmer zu ihren Beschäftigungen zurückzukehren. Er bedürfe keines Geleites; Klaus Heinrich sei groß genug, Ditlinden zu führen. Das war er; und auf dem Korridor sagte er: »Ja, Ditlind, wir wollen nun allerdings in die Kinderzimmer zurückkehren, aber es ist nicht nötig, weißt du, daß wir es auf dem kürzesten, langweiligsten Wege tun. Wir wollen zuerst ein bißchen stöbern. Wenn man eine Treppe höher steigt und den Gang verfolgt, bis die Gewölbe anfangen, so ist da hinten ein Saal mit Pfeilern. Und wenn man von dem Saal mit den Pfeilern die Wendeltreppe hinaufklettert, die hinter der einen Tür ist, dann kommt man in ein Zimmer mit hölzerner Decke, wo eine Menge sonderbare Sachen herumliegen. Aber was hinter diesem Zimmer kommt, das weiß ich noch nicht, und das wollen wir auskundschaften. Nun gehen wir also.«
»Ja, gehen wir,« sagte Ditlinde, »aber nicht zu weit, Klaus Heinrich, und nicht, wo es zu staubig ist, denn auf meinem Kleide sieht man alles.«
Sie trug ein Kleidchen aus dunkelrotem Sammet, mit Atlas von derselben Farbe besetzt. Sie hatte damals Grübchen in den Ellenbogen und goldblankes Haar, das sich in Locken gleich Widderhörnern um ihre Ohren legte. Später wurde sie aschblond und mager. Auch sie hatte die breiten, ein wenig zu hoch sitzenden Wangenknochen ihres Vaters und Volkes, aber sie waren zart gebildet, so daß sie der Feinheit ihres herzförmigen Gesichtchens keinen Abbruch taten. Aber bei ihm waren sie kräftig und ausgeprägt, so daß sie seine stahlfarbenen Augen ein wenig zu bedrängen, zu verengern und ihren Schnitt in die Länge zu ziehen schienen. Sein dunkles Haar war seitwärts glatt gescheitelt, an den Schläfen mit Genauigkeit rechtwinklig beschnitten und schräg aus der Stirn hinweggebürstet. Er trug eine offene Jacke mit hochgeschlossener Weste und weißem Fallkragen. In seiner Rechten hielt er Ditlindens Händchen, aber sein linker Arm hing dünn und zu kurz mit seiner bräunlichen,