Königliche Hoheit. Thomas Mann
Gott … amputieren. Man muß also noch dankbar sein, daß es nicht zu einer Amputation der Hand gekommen ist?«
»Das hätte geschehen können. Ja. Aber es hat mit einer Abschnürung und infolge davon mit einer Atrophie sein Bewenden gehabt.«
»Und das war nicht zu erkennen, nicht vorauszusehen, nicht zu verhindern?«
»Nein, Königliche Hoheit. Durchaus nicht. Es steht ganz fest, daß niemanden irgendwelches Verschulden trifft. Solche Hemmungen tun im Verborgenen ihr Werk. Wir sind ohnmächtig ihnen gegenüber. Ja.«
»Und die Mißbildung ist unheilbar? Die Hand wird verkümmert bleiben?«
Doktor Sammet zögerte, er sah den Großherzog gütig an.
»Ein völliger Ausgleich wird sich nicht herstellen, das nicht«, sagte er behutsam. »Aber auch die verkümmerte Hand wird sich doch verhältnismäßig ein wenig entwickeln, o ja, das immerhin …«
»Wird sie brauchbar sein? Gebrauchsfähig? Beispielsweise … zum Halten des Zügels oder zu Handbewegungen, wie man sie macht …«
»Brauchbar … ein wenig … Vielleicht nicht sehr. Auch ist ja die rechte Hand da, die ganz gesund ist.«
»Wird es sehr sichtbar sein?« fragte der Großherzog und forschte sorgenvoll in Doktor Sammets Gesicht … »Sehr auffällig? Wird es die Gesamterscheinung sehr beeinträchtigen, meinen Sie?«
»Viele Leute«, antwortete Doktor Sammet ausweichend, »leben und wirken unter schwereren Beeinträchtigungen. Ja.«
Der Großherzog wandte sich ab und tat einen Gang durch das Gemach. Doktor Sammet machte ihm ehrerbietig Platz dazu, indem er sich bis zur Tür zurückzog. Schließlich nahm der Großherzog wieder am Schreibtisch Stellung und sagte:
»Ich bin nun unterrichtet, Herr Doktor; ich danke für Ihren Vortrag. Sie verstehen Ihre Sache, das ist keine Frage. Warum leben Sie in Grimmburg? Warum praktizieren Sie nicht in der Residenz?«
»Ich bin noch jung, Königliche Hoheit, und bevor ich mich in der Hauptstadt einer Spezialpraxis widme, möchte ich mich einige Jahre lang recht vielseitig beschäftigen, auf alle Weise üben und umtun. Dazu bietet ein Landstädtchen wie Grimmburg die beste Gelegenheit. Ja.«
»Sehr ernst, sehr respektabel. Welchem Spezialgebiet denken Sie sich später zuzuwenden?«
»Den Kinderkrankheiten, Königliche Hoheit. Ich beabsichtige, Kinderarzt zu werden. Ja.«
»Sie sind Jude?« fragte der Großherzog, indem er den Kopf zurückwarf und die Augen zusammenkniff …
»Ja, Königliche Hoheit.«
»Ah. – Wollen Sie mir noch die Frage beantworten … Haben Sie Ihre Herkunft je als ein Hindernis auf Ihrem Wege, als Nachteil im beruflichen Wettstreit empfunden? Ich frage als Landesherr, dem die bedingungslose und private, nicht nur amtliche Geltung des paritätischen Prinzips besonders am Herzen liegt.«
»Jedermann im Großherzogtum«, antwortete Doktor Sammet, »hat das Recht zu arbeiten.« Aber dann sagte er noch mehr, setzte beschwerlich an, ließ ein paar zögernde Vorlaute vernehmen, indem er auf eine linkisch-leidenschaftliche Art seinen Ellenbogen wie einen kurzen Flügel bewegte, und fügte mit gedämpfter, aber innerlich eifriger und bedrängter Stimme hinzu: »Kein gleichstellendes Prinzip, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, wird je verhindern können, daß sich inmitten des gemeinsamen Lebens Ausnahmen und Sonderformen erhalten, die in einem erhabenen oder anrüchigen Sinne vor der bürgerlichen Norm ausgezeichnet sind. Der einzelne wird gut tun, nicht nach der Art seiner Sonderstellung zu fragen, sondern in der Auszeichnung das Wesentliche zu sehen und jedenfalls eine außerordentliche Verpflichtung daraus abzuleiten. Man ist gegen die regelrechte und darum bequeme Mehrzahl nicht im Nachteil, sondern im Vorteil, wenn man eine Veranlassung mehr als sie zu ungewöhnlichen Leistungen hat. Ja. Ja«, wiederholte Doktor Sammet. Es war die Antwort, die er mit zweimaligem Ja bekräftigte.
»Gut … nicht übel, sehr bemerkenswert wenigstens«, sagte der Großherzog abwägend. Etwas Vertrautes, aber auch etwas wie eine Ausschreitung schien ihm in Doktor Sammets Worten zu liegen. Er verabschiedete den jungen Mann mit den Worten: »Lieber Doktor, meine Zeit ist gemessen. Ich danke Ihnen. Diese Unterredung – von ihrer peinlichen Veranlassung abgesehen – hat mich sehr befriedigt. Ich mache mir das Vergnügen, Ihnen das Albrechtskreuz dritter Klasse mit der Krone zu verleihen. Ich werde mich Ihrer erinnern. Ich danke.«
Dies war das Gespräch des Grimmburger Arztes mit dem Großherzog. Ganz kurz darauf verließ Johann Albrecht die Burg und kehrte mit Extrazug in die Residenz zurück, hauptsächlich um sich der festlich bewegten Bevölkerung zu zeigen, dann aber auch, um im Stadtschloß mehrere Audienzen zu erteilen. Es stand fest, daß er abends auf die Stammburg zurückkehren und für die nächsten Wochen dort Wohnung nehmen würde.
Alle Herren, welche sich zu der Entbindung auf Grimmburg eingefunden hatten und nicht zum Hofstaat der Großherzogin gehörten, wurden ebenfalls von dem Extrazuge der unrentablen Lokalbahn aufgenommen und fuhren zum Teil in unmittelbarer Gesellschaft des Monarchen. Aber den Weg von der Burg zur Station legte der Großherzog allein mit dem Staatsminister von Knobelsdorff im offenen Landauer zurück, einem der braun lackierten Hofwagen mit der kleinen goldenen Krone am Schlage. Die weißen Federn auf dem Hute des Leibjägers vorn flatterten im Sommerwinde. Johann Albrecht war ernst und stumm auf dieser Fahrt, zeigte sich bedrückt und grämlich; und obgleich Herr von Knobelsdorff wußte, daß der Großherzog es auch im intimen Verkehr schlecht ertrug, daß man ungefragt und ohne Aufforderung das Wort an ihn richte, so unternahm er es endlich doch, das Schweigen zu brechen.
»Königliche Hoheit«, sagte er bittend, »scheinen sich die kleine Anomalie, die man am Körper des Prinzen ausfindig gemacht hat, so sehr zu Herzen zu nehmen … Dennoch sollte man glauben, daß an diesem Tage die Beweggründe zur Freude und stolzen Dankbarkeit so sehr überwiegen …«
»Ach, lieber Knobelsdorff,« antwortete Johann Albrecht gereizt und beinahe weinerlich, »Sie werden mir meine Verstimmung nachsehen, Sie werden nicht geradezu verlangen, daß ich trällere. Ich sehe keinerlei Veranlassung dazu. Die Großherzogin befindet sich wohl – nun gewiß. Und das Kind ist ein Knabe – nochmals gut. Aber da kommt es nun mit einer Atrophie zur Welt, einer Hemmungsbildung, veranlaßt durch amniotische Fäden. Niemand hat schuld daran, es ist ein Unglück. Aber die Unglücksfälle, an denen niemand schuld ist, das sind die eigentlich schrecklichen Unglücksfälle, und der Anblick des Fürsten soll seinem Volke andere Empfindungen erwecken als Mitleid. Der Erbgroßherzog ist zart, man muß beständig für ihn fürchten. Es war ein Wunder, daß er vor zwei Jahren die Rippenfellentzündung überstand, und es wird nicht viel weniger als ein Wunder sein, wenn er zu Jahren gelangt. Nun schenkt mir der Himmel einen zweiten Sohn – er scheint kräftig, aber er kommt mit einer Hand zur Welt. Die andere ist verkümmert, unbrauchbar, eine Mißbildung, er muß sie verstecken. Welche Erschwerung! Welch Hindernis! Er muß es beständig vor der Welt bravieren. Man wird es allmählich bekanntmachen müssen, damit es bei seinem ersten öffentlichen Hervortreten nicht allzu anstößig wirkt. Nein, ich komme noch nicht hinweg darüber. Ein Prinz mit einer Hand …«
»Mit einer Hand«, sagte Herr von Knobelsdorff. »Sollten Königliche Hoheit diese Wendung mit Absicht wiederholen?«
»Mit Absicht?«
»Also nicht?… Denn der Prinz hat ja zwei Hände, nur daß die eine verkümmert ist und daß man, wenn man will, also sagen kann, es sei ein Prinz mit einer Hand.«
»Nun also?«
»Und daß man also fast wünschen müßte, nicht Eurer Königlichen Hoheit zweiter Sohn, sondern der unter der Krone geborene möchte der Träger dieser kleinen Mißgestaltung sein.«
»Was sagen Sie da?«
»Nun, Königliche Hoheit werden mich auslachen; aber ich denke an die Zigeunerin.«
»Die Zigeunerin? Ich bin geduldig, lieber Baron!«
»An die Zigeunerin