Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger

Mein großes Geheimnis - Buzz Bissinger


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Meinungen, und das ist manchmal frustrierend und kräftezehrend. Es heißt bereits, ich wäre nicht „repräsentativ“. Das würde ich sicher auch nicht bestreiten, obwohl mir ein solches Urteil sehr feindselig, ausgrenzend und kontraproduktiv vorkommt, was unser gemeinsames Ziel angeht, denn schließlich kämpfen wir ja auch darum, dass die Gesellschaft nicht mehr ständig bedeutungslose Schlagworte wie „repräsentativ“ verwendet. Eigentlich wollen wir doch alle dasselbe. Jedenfalls theoretisch.

      Aber man mag dazu stehen, wie man will – heute Abend bin ich für all jene, die noch nie eine Transfrau oder einen Transmann gesehen haben, das Gesicht der Transgender-Community. Und der erste Eindruck ist ja oft der entscheidende. Wenn ich mich hier blamiere, wird das der Bewegung schaden. Und ich hätte eine der seltenen Gelegenheiten verschwendet, uns alle, die wir anders sind, sichtbar zu machen und dafür zu kämpfen, dass wir in unserem Anderssein bestätigt und nicht in den Untergrund verbannt werden.

      Jedenfalls hat der Streit um meine Person schon vor der Verleihung der ESPY-Awards begonnen. ESPY steht für Excellence in Sports Performance of the Year, also für eine herausragende Leistung im Sport, und ich soll den Arthur Ashe Courage Award bekommen, der nach dem großen, sympathischen Tennisstar benannt ist, der 1993 an AIDS starb. Das ist eine große Ehre, zumal ich Ashe sehr bewundere, ebenso wie die früheren Preisträger: Muhammad Ali, Billie Jean King, Tommie Smith, John Carlos, Nelson Mandela und Robin Roberts.

      Soweit, so einfach.

      Dass dies Caitlyns erster öffentlicher Auftritt überhaupt ist, das allein ist schon beängstigend genug. Und dann findet er noch vor den Augen der Sportwelt statt, aus der ich komme. Und vor vielen Millionen Zuschauern an den Fernsehschirmen. Glaube ich, diesen Preis verdient zu haben? Ganz sicher nicht. Aber eine solche Ehre würde wohl auch niemand ablehnen.

      Zu alledem kursiert auch noch das Gerücht, dass ich selbst das Ganze initiiert hätte. Angeblich habe ich die Auszeichnung mit dem Arthur Ashe Award zur Bedingung gemacht, bevor ich einwilligte, Diane Sawyer von ABC ein exklusives zweistündiges Interview für die Sendung 20/20 im April 2015 zu geben, in der ich zum ersten Mal öffentlich über meine Transition sprach. ABC gehört ebenso wie der Fernsehsender ESPN, der die ESPY-Verleihung zeigt, zum Disney-Konzern, und das ist wohl der Ausgangspunkt für dieses Gerücht. Das allerdings völlig aus der Luft gegriffen ist. Es ist Quatsch. Anders kann man das nicht sagen. Das Interview fand statt, lange bevor ich von dem Preis erfuhr. Aber wie es heutzutage so oft mit Gerüchten ist, hat es sich in den Medien schnell verbreitet, und nachdem es zunächst in den Boulevardblättern stand, haben es auch renommierte Zeitungen wie die Los Angeles Times aufgenommen. Wenn man bedenkt, auf welch hohem moralischen Ross man dort gewöhnlich sitzt, sollte man erwarten, dass solche Geschichten in der heutigen Zeit etwas gründlicher geprüft werden.

      Von daher gab es schon von Anfang an negative Stimmen. Dann kamen auch noch ein paar führende Sportjournalisten aus der Deckung und erklärten, ich hätte den Preis nicht verdient – beispielsweise Frank Deford, der als Kommentator für den Radiosender NPR gearbeitet und für Sports Illustrated geschrieben hat. Nach meinem Medaillengewinn im Zehnkampf verfasste Deford dort am 9. August 1976 die Titelstory über mich:

      Jenner hat eine beinahe mystische Fähigkeit, seine eigenen Grenzen zu erfassen. Viele, die ihn bei Sportveranstaltungen kennengelernt haben, berichteten zudem, dass er nach der Beobachtung seiner Konkurrenten im Laufe des Wettkampfs genau vorhersagen konnte, wie gut sie sich am fraglichen Tag schlagen werden. Montreal, das wusste er, war sein „Schicksal“.

      Fast vierzig Jahre später ist der Ton ein ganz anderer:

      Man spricht gewöhnlich von Mut, wenn man etwas überwunden hat. Caitlyn Jenner ist offen und ehrlich, aber diese Entwicklung hat sie bewusst vorangetrieben, und sie hat etwas, worauf sie zurückfallen kann – eine Reality-Show, Ruhm und jede Menge Reichtum. So groß ist das Risiko in ihrer Position nicht, im Gegensatz vielleicht zu jemandem, der als Karosseriebauer in einer Autowerkstatt arbeitet. Bruce Jenner wusste zudem, dass er nichts verlieren würde, wenn er diesen Weg geht; seine Familie unterstützt ihn.

      In einem sind Deford und ich einer Meinung – meine Transition hat keinen besonderen Mut erfordert. Und was die Überwindung angeht, so habe ich wohl auch weiter nichts überwunden als die Tatsache, dass ich fast mein ganzes Leben lang fühlte, im falschen Körper zu stecken, aber zu viel Angst hatte, mich wirklich damit auseinanderzusetzen. Ich stand im Licht der Öffentlichkeit und fürchtete mich davor, lächerlich gemacht, angefeindet und verurteilt zu werden. Eben genau davor, was jemand wie Frank Deford im allgemeinen gesellschaftlichen Klima der Achtzigerjahre darüber gedacht hätte, wenn ich bei irgendeiner Preisverleihung der Sportwelt im Rock zu einer Rede ans Mikrofon getreten und zwischendurch mal aufs Damenklo verschwunden wäre, um mich frisch zu machen (immer vorausgesetzt, dass ich das überhaupt gedurft hätte).

      Was die Unterstützung meiner Familie angeht, so war sie unglaublich. Mehr als unglaublich. Aber mein Coming-Out als Caitlyn liegt erst etwas mehr als einen Monat zurück, und jeden Tag frage ich mich aufs Neue, was meine Kinder aus meinen drei Ehen wirklich denken mögen, ob sie mich wirklich akzeptieren oder ob sie mich als eine beinahe Fremde betrachten, die diese Sache in dieser späten Lebensphase aus reinem Egoismus durchzieht. Dass ich so denke, sagt nichts über meine Kinder aus, aber viel über mich – ich fürchte noch immer eine Zurückweisung, ganz egal, wie sehr sie mir gezeigt haben, dass sie hinter mir stehen. Trotzdem wache ich morgens auf und denke über Gender und all diese Entscheidungen nach, die ich getroffen habe, und wenn ich schlafen gehe, beschäftigt mich das immer noch.

      Als Caitlyn bin ich im Gegensatz zu Bruce eine öffentliche Person, die sich nicht mehr ins Private zurückziehen kann. Das verändert einen schon. Ich spüre Zweifel – kein Bedauern, das ist etwas anderes, und ich bedauere auch nichts. Zweifel fühlt fast jeder Mann und jede Frau direkt nach der Transition. Wenn man es getan hat, gibt es kein Zurück mehr. Niemals. Und jede Beziehung, die man einmal hatte, wird sich verändern – entweder, weil sie das wirklich tut, oder aber, weil man das erwartet. Damit will ich sagen, dass auch bei mir jede Menge auf dem Spiel steht: die Beziehung zu meiner Familie und der Rest meines Lebens.

      Der andere Kritiker, der sich lautstark zu Wort gemeldet hat, ist der NBC-Sportmoderator Bob Costas. In der Dan Patrick Show wünschte Costas mir „alles Glück und allen Seelenfrieden der Welt”, fügte dann aber hinzu:

      Dennoch kommt es mir so vor, dass die Verleihung des Arthur Ashe Awards an Caitlyn Jenner ein abgekartetes Spiel ist, das sich die Boulevardmedien ausgedacht haben.

      In der großen Sportwelt hätte man doch sicherlich jemanden finden können – und das geht jetzt nicht gegen Caitlyn Jenner persönlich –, der sehr viel aktiver im Sport involviert ist und viel eher für das steht, was dieser Preis repräsentiert.

      Costas ist ein großartiger Sportjournalist und Kommentator. Ich weiß, wie schwer dieser Job ist, ich habe mich ja auch schon darin versucht. Wenn er betont, dass es kein persönlicher Angriff gegen mich ist, glaube ich ihm das zwar, aber es klingt trotzdem ganz danach, und es impliziert offensichtlich, dass ich den Preis nicht verdiene. Dabei wurde er durchaus schon an Sportler verliehen, deren große Zeit noch länger zurücklag als bei mir.

      Den größten Teil der Zeremonie verbringe ich in einer Suite des Ritz-Carlton-Hotels gegenüber vom Theater. Ich sehe mir die Show auch nicht im Fernsehen an, das würde mich nur noch nervöser machen. Etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten vor meinem Auftritt verlasse ich das Hotel durch den Hinterausgang und gehe zum Theater hinüber. Die kurze Wartezeit verbringe ich allein in einem kleinen Raum und übe zum wohl millionsten Mal meine Rede, achte auf die richtigen Betonungen, den richtigen Rhythmus, die richtige Geschwindigkeit, versuche keine Wörter zu verschlucken oder zu nuscheln. Allgemein fühle ich mich gut, aber beim Gedanken an die Treppe ist mir immer noch mulmig. Ich spüre eine Unruhe wie vor meinem schwächsten Wettkampf bei den Spielen, dem 110-Meter-Hürdenlauf, bei dem ich zwar ins Ziel kam, aber Fehler machte.

      Es gibt ein Zitat von Booker T. Washington, das ich in leicht abgewandelter Form gern benutze: „Erfolg wird nicht an den erreichten Höhen gemessen, sondern an den überwundenen Hindernissen.“ Es hat nie besser gepasst als jetzt.

      Abby Wambach, die Stürmerin des Frauen-Fußballteams der USA, das gerade die


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