Der Serienmörder von Paris. David King
Patient war der 41-jährige Kohlelieferant Jean-Marc Van Bever. Erst wenige Monate zuvor hatte er seine erste geregelte Arbeit gefunden, denn der steigende Bedarf an Kohlen zum Heizen von Büros und Appartements stellte eine sichere Einnahmequelle dar. Davor hatte der Mann sein großes Erbe in einige Druckereien investiert, die alle den Bankrott erklären mussten. Van Bever verbrachte einen Großteil der dreißiger Jahre in bitterer Armut und hielt sich nur mit Hilfe der Wohlfahrt und verschiedener Wohltätigkeitsverbände über Wasser. Für einen Mann, der einstmals solch einen Wohlstand genossen hatte, stellte das eine unerwartete Entwicklung dar.
Nach seinem Abschluss am prestigeträchtigen Lycée Louis-le-Grand hatte Van Bever an der Universität verschiedene Fächer studiert, darunter zwei Semester Jura. Er sprach Englisch und einige Brocken Spanisch und Italienisch. Sein Vater, Adolphe Van Bever, war der Mitherausgeber einer Anthologie französischer Dichter, die viel Beachtung fand, und sein Großonkel der bekannte Maler La Quintinie.
Bei der Festnahme protestierte Van Bever und behauptete, selbst kein Süchtiger zu sein. Er habe sich wegen der Beziehung zu der Prostituierten Jeannette Gaul lediglich in dem Milieu herumgetrieben. Die 34-jährige Gaul wiederum litt unter einer schweren Morphiumsucht. Darüber hinaus war sie abhängig von Heroin, also von einem der stärksten Derivate des Morphins. Heroin gehörte in Paris zu den beliebtesten Drogen, nachdem die ursprüngliche Nutzung zur Unterdrückung des Hustens und zur Behandlung verschiedener Krankheiten der Lungenwege, die von der Bronchitis bis zur Lungenentzündung reichten, fast schon in Vergessenheit geraten war. Sowohl Morphium als auch Heroin zirkulierten in der zwielichtigen Halbwelt, besonders unter Prostituierten, die damit der brutalen Realität des Gewerbes entfliehen wollten.
Nachdem sie als Zimmermädchen bei einer Familie in Fontainebleau und später in verschiedenen Bordellen unter anderem in Nantes, Clamecy und Auxerre gearbeitet hatte, zog sie kurz nach der Besetzung nach Paris. Ihr letzter Zuhälter, Henri „der Knastbruder“ Baldenweek, ließ sie im Stich, woraufhin sie auf dem Straßenstrich anschaffen musste, eine der dominierenden Arten der Prostitution während der deutschen Besatzung und gleichzeitig die gefährlichste, da die Frauen praktisch schutzlos ihrem Geschäft nachgehen mussten. Im November 1941 begegnete Gaul Van Bever unweit der Kirche La Madeleine. Nach drei Wochen, in denen sie sich regelmäßig trafen, fragte er, ob sie zu ihm ziehen wolle, und zwar in ein angemietetes kleines Zimmer in der Rue Piat 56 im 20. Arrondissement. Sie versprach daraufhin, ihre Arbeit aufzugeben. Das war zwei Tage vor dem Weihnachtsfest 1941.
Gaul konnte sich trotz der Beziehung allerdings nicht von der Sucht losreißen. Um an Betäubungsmittel zu gelangen, trickste sie das Gesundheitssystem aus, das sich angesichts der Kriegswirren in einem chaotischen Zustand befand, und beschaffte sich von verschiedenen Ärzten Heroin-Rezepte. Petiot war einer von ihnen. In den ersten eineinhalb Monaten des Jahres 1942 stellte Petiot allein fünf Rezepte für sie und zwei für Van Bever aus.
Am 19. Februar nahmen die Inspektoren Dupont und Gautier von der Brigade Mondaine Gaul in dem Zimmer fest, das sie mit ihrem Partner teilte. Auch Van Bever wurde inhaftiert und nach einer fast vierwöchigen Haftstrafe auf Kaution entlassen. Nach der Entdeckung Petiots als verschreibendem Arzt übermittelte die Brigade Mondaine die Information an Achille Olmi, einen Untersuchungsrichter, der entscheiden musste, ob der Fall von staatlicher Seite her weiter verfolgt werden sollte. Olmi ließ Petiot zu sich rufen, um ihn zu verhören.
Petiot argumentierte, dass es sich bei den Rezepten um legale Verschreibungen gehandelt habe. Er habe lediglich den Versuch unternommen, die Patienten durch immer niedrigere Dosen von der Sucht zu entwöhnen. Diese Methode helfe den ihm Anvertrauten dabei, für ihre Sucht „nicht einfach auf Beutefang zu gehen und zu stehlen oder sogar einen Menschen umzubringen“. Zudem sei es „die einzige bekannte Therapie“. Der Staat beschuldige ihn zu Unrecht des Drogenhandels. Würde er tatsächlich Handel betreiben, wie wären dann die bescheidenen 50 Francs zu erklären, die er bei einer Visite erhalte, und wie die 200 Francs für das Heroin, das auf dem Schwarzmarkt doch wesentlich mehr Geld einbringe?
Zu den für Van Bever ausgestellten Rezepten meinte er, dass dieser ihm gesagt habe, er sei süchtig. Nach einer gründlichen Untersuchung habe er die Diagnose angeblich bestätigt gesehen. Später, anlässlich der dritten Visite, seien ihm dann aber Zweifel gekommen, denn Van Bever, der behauptete, taub zu sein, konnte eine Frage beantworten, nachdem sie ihm von seiner Freundin ins Ohr geflüstert worden war. Ab dem Moment habe er sich geweigert, weitere Rezepte auszustellen. Sowohl Van Bever als auch Gaul widerlegten dieser Aussage später.
Die beiden änderten dann ihre Aussagen in bestimmten Punkten und sorgten damit für eine solche Verwirrung, dass sich der Richter gezwungen sah, sie und den Arzt anzuklagen. Der springende Punkt bestand darin, dass Van Bever nun behauptete, Petiot habe die ganze Zeit über gewusst, dass er kein Süchtiger gewesen sei und die Drogen der Geliebten zukommen habe lassen. Falls die Schuld der Patienten nachgewiesen worden wäre, hätte das unweigerlich eine Haftstrafe für sie nach sich gezogen. Petiot wiederum hätte im Fall einer Verurteilung mindestens seine Zulassung als Arzt verloren. Der Prozess sollte am 26. Mai 1942 vor dem Tribunal Correctionnel stattfinden.
Zwei Monate vor der Verhandlung verschwand Van Bever jedoch.
Er wurde zuletzt am Morgen des 22. März in einem Café in der Rue Piat gesehen. Van Bever trank dort zusammen mit seinem Freund und Arbeitskollegen, dem Kohlelieferanten Ugo Papini, einem ehemaligen Hutmacher aus Italien, einige Biere. Während des Gesprächs verständigte der Ober Van Bever, der sich in einer Ecke des Cafés mit einem großen, sauber rasierten Mann in den Mittvierzigern unterhielt, der eine Baskenmütze trug. Kurz darauf kehrte er zurück, sich dafür entschuldigend, dass er den Fremden begleiten müsse. Papini empfand die Situation als hochgradig mysteriös. Van Bever sagte lediglich, dass es sich bei dem Fremden um einen Freund von Jeanette Gaul handle, oder genauer gesagt um den Mann einer ihrer Freundinnen. „Möglicherweise hat Jeanette Schulden, die ich nun begleichen soll“, entschuldigte sich Van Bever und versprach, nicht lange wegzubleiben.
Als Van Bever am Abend noch immer nicht zurückgekehrt war und auch am folgenden Tag nicht zur Arbeit kam, sorgte sich Papini so sehr, dass er sein Zimmer aufsuchte, das wie üblich äußerst unordentlich wirkte. Merkwürdigerweise lag der Tabak von Van Bever, einem starken Raucher, noch dort. Bei dem Gespräch im Café hatte er Papini etwas über einen dringlichen Brief erzählt, der sich im Zimmer befand, aber nicht auffindbar war. Papini setzte unverzüglich einen Brief an Van Bevers Rechtsanwalt auf, Maître Michel Menard, in dem er vorschlug, eine Vermisstenanzeige beim Procureur de la République, also dem Staatsanwalt, aufzugeben.
Am 26. März 1942 füllte Papini einen dementsprechenden Bericht aus, worin er seine Befürchtungen wegen der Sicherheit des Freundes klar ausdrückte. Weder er noch die Polizei verdächtigten jedoch Dr. Petiot, denn zu der Zeit gab es einen wahrscheinlicheren Täter.
Während der letzten Monate hatte Van Bever häufig France Mignot, ebenfalls eine Prostituierte, aufgesucht. Im November 1941 begleitete er sie zum Haus ihrer Familie in Troyes. Als er sich gerade auszog, um Sex mit ihr zu haben, griffen ihn die Brüder und die Mutter der Prostituierten tätlich an. Er erlitt Stichwunden, wurde zusammengeschlagen und ausgeraubt. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erstattete Van Bever Anzeige. Die Polizei nahm das Mädchen, ihre Mutter und die Brüder in Gewahrsam, und man setzte den Prozess für den 24. März 1942 an. Da Van Bever dann nur zwei Tage vor der Verhandlung verschwunden war, mutmaßte Papini, dass der für das Verschwinden des Freundes Verantwortliche aus dem Familienumfeld der Mignots stammen müsse.
Aber dann überbrachte am 26. März, also exakt zwei Monate vor Petiots Prozess, ein unbekannter Mann zwei Briefe in das Büro von Jeannete Gauls Pflichtverteidiger Maître Françoise Pavie, der am Boulevard Saint-Germain eine Kanzlei besaß. Beide Schriftstücke stammten angeblich von Van Bever. Der erste, adressiert an seinen Rechtsanwalt Maître Menard, informierte diesen, dass seine Dienste nicht länger in Anspruch genommen werden würden. Es war eine sehr merkwürdige Art und Weise, die Geschäftsbeziehung zu einem alten Familienfreund zu beenden. Der zweite Brief richtete sich an Jeannette Gaul und wirkte noch unverständlicher.
„Es ist nicht länger nötig, irgendwelche Geschichten zu erzählen“, begann der Verfasser das Schreiben. Er behauptete, selbst ein Drogensüchtiger zu sein, der ein bis