Coltrane. Ben Ratliff
Ben Ratliff
Coltrane
Siegeszug eines Sounds
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind
Impressum
Titel der englischen Originalausgabe:
„Coltrane – The Story of A Sound“
Copyright © 2007 Ben Ratliff
First published in the United States of America by Farrar, Straus and Giroux
Erstausgabe erschienen 2007 bei Farrar, Straus and Giroux
Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe:
Koch International GmbH/Hannibal, A-6600 Höfen
Lektorat: Hollow Skai
Korrektur und Schlussredaktion: Manfred Gillig-Degrave
Umschlagfoto: © Michael Ochs Archives/Corbis (John Coltrane live in Deutschland, 1959)
ISBN 978-3-85445-638-4
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne schriftliche Genehmigung nicht verwendet oder reproduziert werden. Dies gilt besonders für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Widmung
Für Kate und Henry und Toby
Inhalt
Einleitung
Die gängige Meinung über den Saxofonisten John Coltrane ist, dass er die letzte bedeutende Musikerpersönlichkeit in der Geschichte des Jazz war, und dass der Jazz nach seinem plötzlichen Tod im Alter von vierzig Jahren 1967 an Schwung verloren hat, wenn nicht gar zum Stillstand gekommen ist.
Was war so herausragend an Coltranes Werk, dass man ihn auch vierzig Jahre nach seinem Tod noch so schätzt? Woher kommt diese ungeheure Anziehungskraft, die er auf so viele Musiker und Hörer ausgeübt hat? Was war das Besondere an seiner Improvisationstechnik, seinen Bands, seinen Kompositionen, seinem Platz in der damaligen Jazzära? Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass Coltrane zu dem wurde, der er war? Und wie würde ein John Coltrane heute aussehen – oder ist es falsch, nach einer solchen Persönlichkeit Ausschau zu halten?
Als Außenstehender fragt man sich immer wieder, welcher Musiker wohl den nächsten wirklich bedeutenden Schritt in der Entwicklung des Jazz tun wird. All jene, die als Kandidaten in Frage kommen, wiederholen sich, kreisen um sich selbst und bieten nichts Neues mehr; sie bringen keine überzeugenden Kompositionen zustande, verkaufen sich in irgendeiner Form oder beginnen ihr Publikum zu langweilen. Dann wieder fragt man sich, ob es überhaupt sinnvoll ist, evolutionäre Modelle auf den Jazz anzuwenden. Es scheint vielmehr der Fall zu sein, dass der Jazz Kurven dreht, sich zurückzieht und winzige Anpassungen vornimmt, die seine Sprache nicht wesentlich verändern. Das Problem ist jedoch, dass es zumindest bei Coltrane den Anschein hatte, als würde sich der Jazz immer weiter entwickeln. Er preschte voran, und andere folgten ihm. Manche folgen ihm noch immer.
Seine Karriere, besonders in den letzten zehn Jahren seines Lebens, war beispiellos. In dem Moment, als man in ihm den prototypischen Jazzmusiker zu sehen begann, änderte sich auch das allgemeine Verständnis davon, wie und warum Jazz funktioniert. Dieses Wissen wurde nun lückenhaft, und gefährliche Halbwahrheiten schlichen sich ein. Jede halbe Wahrheit bedarf einer ganzen Erklärung.
Dies ist kein Buch über Coltranes Leben, sondern die Geschichte seines Werks. Der erste Teil handelt davon, wie seine Musik entstand, von den ersten Aufnahmen als namenloses Mitglied einer Militärkapelle 1946 bis zu seinem Tod als Fast-Heiliger des Jazz im Jahr 1967. Der zweite Teil erzählt vom Einfluss, den er schon zu Lebzeiten hatte und bis zum heutigen Tage hat. Diese beiden Geschichten werden getrennt voneinander erzählt – auch wenn sie sich hin und wieder überschneiden. Grund dafür ist, dass Coltranes Werk und seine Rezeption zwei vollkommen verschiedene, in sich logische Eigenleben besitzen.
Dieses Buch ist ein Buch über den Jazz als Sound. Ich meine damit „Sound“ in seiner Funktion, wie er lange unter Jazzmusikern gebräuchlich war, als einen mystischen Kunstbegriff: Irgendwann braucht jeder Musiker einen eigenen Sound, in dem sich seine künstlerische Persönlichkeit so ausdrücken und entfalten kann, dass man ihn im Idealfall schon beim ersten Ton erkennt. Der Sound von Miles Davis war zerbrechlich und punktiert. Der von Coleman Hawkins war reif, weich und großzügig. Der Sound von John Coltrane war mächtig und trocken, vielleicht ein bisschen halbgar – und sehr eindringlich.
Ich meine aber auch Sound im Sinne eines ausgewogenen Klangs, der von einer kompletten Band ausgeht. Wie wichtig ist das? Für Coltrane ging der Sound über alles andere. Schließlich lief er sogar der Komposition den Rang ab: Die Stücke auf seinen späteren Platten sind sich zunehmend ähnlicher, da die Suche nach dem Sound längst Soli und Struktur verdrängt hat. Sein Respekt einflößender Sound, vor allem wie er ihn in Balladen einsetzen konnte, war der Grund dafür, dass ihn ältere Musiker so hoch schätzten – zum Beispiel sein Sound in den oberen Tonlagen in „Say It Over And Over Again“. Das war aber auch der Grund, warum sich jüngere und weniger formell geschulte Musiker für ihn begeisterten und manchmal sogar einen Platz auf seinem Konzertpodium fanden.
Coltrane liebte musikalische Strukturen und die wissenschaftliche Harmonielehre. Daher blieb er auch als Klassenprimus des Jazz in Erinnerung. Wenn es jedoch um die außergewöhnlichen Eigenschaften von Coltranes Musik geht (etwa um die Macht, das Bewusstsein des Hörers ein klein wenig zu verändern),