Coltrane. Ben Ratliff
auf eine Sprache zu verständigen, wie sich der Free Jazz und ein eher traditionell orientierter Stil innerhalb des Mainstream annähern können.
Coltrane war ein Mann von ungewöhnlicher Zähigkeit, mit phlegmatischem Temperament und stoischem Charisma, der in seiner Arbeit Ekstase fand, sich ansonsten jedoch kaum von etwas begeistern ließ – ein John Wayne, ein Gary Cooper, ein Lou Gehring, ein John Henry, ein Yankee-Waldarbeiter. (In American Humor umschrieb Constance Rourke 1931 den Mythos des Yankee-Waldarbeiters aus dem frühen 19. Jahrhundert: „Ich bin ein regelrechter Tornado, hart wie Hickory-Holz, mit einem Atem so kräftig wie der Nordwestwind. Ich kann zuhauen wie ein fallender Baum, und mit jedem Hieb schlage ich eine Bresche von einem Viertelhektar in die Menge, durch die dann der Sonnenschein fällt.“) Vielleicht war Coltrane sogar der coole, spirituell erfüllte Archetypus der westafrikanischen Kongokultur. Am Schluss, als seine öffentlichen Ansprachen von der Musik abschweiften und sich Gott zuwandten (wie er es oft formulierte, strebte er danach, ein Heiliger oder zumindest eine „Kraft des wahrhaft Guten“ zu werden), spürt man, dass sein Eifer eine matte Oberfläche hat. Es ist ein Gefühl, dass seine Ekstase unangreifbar ist, unantastbar, in Eisen gegossen. In gewisser Hinsicht hatte er sich nicht sonderlich verändert; er hatte lediglich die ihm eigene Ernsthaftigkeit weiter gesteigert. Nun aber diente diese Ernsthaftigkeit nicht mehr den beinharten Manierismen der Post-Bebop-Phase, sondern einer alles überdeckenden religiösen Ekstase.
Trotzdem baute er dem Hörer immer noch Brücken. Nichts in Coltranes Werk entstand aufs Geratewohl. Trotz der wenigen, mageren Erklärungen – er war kein guter Interviewpartner und klang für einen Möchtegernheiligen meistens enttäuschend weltlich – trat er in den letzten Jahren seines Lebens so häufig auf und machte so viele Aufnahmen, dass sich Vorahnungen, Ankünfte und Abschiede nachzeichnen lassen.
Jener Pfad zur Erhabenheit, mit dem sich die erste Hälfte dieses Buches befasst, beginnt 1958, in dem Jahr, in dem Coltrane sich nach einer anderthalbjährigen Pause wieder Miles Davis anschloss. Bevor er abermals zur Band von Davis stieß, hatte er mit Thelonious Monk gespielt und sich dadurch neuen Herausforderungen auf den Gebieten Akkorde, Melodie und Tempo gestellt; er hatte aufgehört, Heroin zu nehmen, und er hatte das Trinken aufgegeben. Was er 1958 machte, war Siegesmusik, Rocky-Musik. Sie ist ganz anders als die Musik seiner zwei frühen Vorbilder Dexter Gordon und Charlie Parker.
„Straight, No Chaser“ vom Februar 1958 (auf Milestones von Miles Davis) und „Dial Africa“ vom Juni 1958 (auf Wilbur Hardens Album Jazz Way Out) zeigen einen Coltrane, der entdeckt hat, wie man sich konzentriert, wie man Geschwindigkeit und Melodie miteinander in Einklang bringt und wie man frohlockt – so wie ein Prediger lernt, nicht nur wie ein passives Schäfchen der Gemeinde zu frohlocken. (Sein Großvater mütterlicherseits, in dessen Haus er aufwuchs, und auch sein Großvater väterlicherseits waren Pfarrer der African Methodist Episcopal Zion Church. In einem Interview mit August Blume beschrieb Coltrane die Religiosität seines Großvaters mütterlicherseits als „militant“.)
Ein unter Durchschnittshörern weit verbreitetes Missverständnis ist, dass ein geübter Jazzmusiker bei der Improvisation seine Ideen vom Himmel pflückt und eine Verbindung zu höheren Gefilden schafft. Falsch. Selbst die befreitesten von Coltranes Soli zeugen von jener Ausdauer, die man nur durch hartes, einsames Üben erwirbt; es ist eine immens durchdachte Musik.
Man kann Dutzende von einzelnen Elementen aus seinen Soli herauspicken, die er an verschiedenen anderen Stellen wieder verwendete.
Für Coltrane war vieles von dem, was vor 1958 passiert war, Ausdruck des Zögerns, einer Phase der Orientierung, gewesen. Junge Jazzmusiker interessierten sich damals wie heute dafür, da sie selbst noch zögern. Die breitere Öffentlichkeit jedoch konnte weniger damit anfangen. Erst als er sich selbst überwand und seinen eigenen Sound endlich gefunden hatte, als er sich als kommerzielles Produkt und als „Kraft des wahrhaft Guten“ gleichermaßen ernst nahm, gestattete er sich diese Zögerlichkeit nicht mehr. Sein Sound entfaltete sich zu voller Blüte, und seine Musik begann in großem Maßstab Gestalt anzunehmen.
Jeder Künstler, ob Autor, Maler, Filmemacher oder Tänzer, kann sich lange hinter dem Dickicht seiner eigenen Sprache verstecken und braucht dabei nie den Kopf über die Vegetation zu erheben. „Jeder erfolgreiche Stil ist ein Zauber, dessen erstes Opfer der Zauberer ist“, hat der Kritiker Clive James einmal geschrieben. Trotzdem kommen immer noch Leute nach Delphi und lauschen gebannt dem Orakel, dankbar, es mit eigenen Ohren vernehmen zu können. Dabei ist es ihnen gemeinhin gleich, ob sich das Orakel selbst behext hat.
Coltrane fand eine Sprache weit jenseits der des Orakels. Er war beständig und vertrauenswürdig. Er sagte, er misstraue sich selbst, auch dann noch, als er immer kraftvoller und origineller spielte. Er verblüffte die Menschen immer wieder aufs Neue und führte eine Veränderung der Ästhetik herbei. Viele Leute, von Wynton Marsalis bis zum ausgeflipptesten Jazzfan, den Sie kennen, können eine Geschichte darüber erzählen, wie John Coltrane ihr Leben oder zumindest ihre Auffassung von Kunst veränderte, wie er sie in ihrer Entschlusskraft stärkte und ihnen zeigte, dass Jazz kein Schulbuch ist, keine Plattensammlung des Vaters und erst recht keine Musik als ein in sich geschlossenes Etwas.
Die andere Hälfte der Coltrane-Erzählung, ihr posthumer Spiegel, beginnt vor seinem Tod. Die zweite Hälfte dieses Buches ist die Geschichte von Coltranes Einfluss auf andere Musiker und auf all jene, die vom Ende der Fünfzigerjahre an Diskurs und philosophischen Überbau des Jazz schufen.
Da seine eigenen Worte so indirekt waren, weil er so wenig sagte und doch für solch enorme Ideen stand, wurden in seinem Windschatten ganze Karrieren entworfen. Künstlerische Imperative, ob sie nun ursprünglich von
ihm stammten oder nicht, wurden als Glaubensgrundsätze akzeptiert. Jene, die auf die Vorstellung von Jazz als Musik der Zukunft setzen, zitieren Coltrane oft als Inspirationsquelle. Ich musste daran denken, als ich vor ein paar Jahren fünfzehn junge Saxofonisten hörte, die beim internationalen Saxofonwettbewerb des Thelonious Monk Institute gegeneinander antraten. An jenem Wochenende war Coltrane überall in ihrem Spiel gegenwärtig. Wenn diese Saxofonisten Raffinesse, Tiefe, Ausdauer, Hingabe und Sanftmut ausdrücken wollten, bedienten sie sich seiner Sprache.
Dies beginnt sich nun endlich zu ändern – aus Gründen, die in der Geschichte von Coltranes Einfluss deutlich werden sollten. Da wir immer noch unter seinem Joch stehen, uns jedoch im Prozess befinden, es abzustreifen, scheint der Zeitpunkt günstig für einen Versuch, sein Lebenswerk zu analysieren, und zwar mit dem Blick des Kritikers, nicht dem des Biographen. Gleichzeitig ist dies der Versuch, herauszufinden, warum seine Musik so viele Jahre nach seinem Tod nichts von ihrer Wirkung verloren hat.
Teil 1
Wer ist Willie Mays?
Am 13. Juli 1946 nahm John William Coltrane, ein Matrose zweiter Klasse, gemeinsam mit vier anderen Musikern aus den Reihen der Melody Masters acht Songs auf. Die Melody Masters waren eine große Navy-Kapelle, stationiert in Oahu, Hawaii. In Navy-Kapellen herrschte damals Rassentrennung, und diese war rein weiß.
Der stille Coltrane stammte aus einer sehr religiösen Methodistenfamilie. Seine beiden Großväter waren Prediger. Als Kind zeichnete er gern, und als Teenager bewunderte er Johnny Hodges, den Alt- und Sopransaxofonisten der Ellington-Band. Er wurde in Hamlet, North Carolina, geboren, zog dann im Alter von drei Jahren erst nach High Point (North Carolina) und später, nach seinem Abschluss an der William Penn High School, nach Philadelphia. Knapp zwei Monate vor seinem zwanzigsten Geburtstag luden ihn die vier Melody Masters ein, mit ihnen zu jammen.
Coltrane, eine schlanke Erscheinung mit runder Sonnenbrille, dessen hohe Afrofrisur an den Seiten abflachte, war kein hauptberufliches Mitglied einer Navy-Kapelle (kein Schwarzer war das), und den Melody Masters war es offiziell nicht gestattet, mit schwarzen Musikern zu spielen. Ohne Wissen ihrer Vorgesetzten machten sie also mit ihrem Gast private Aufnahmen, die sie schließlich auf eine 78er-Schallplatte pressten, von der sie vier Exemplare herstellen ließen.
Ein Stück aus dieser Amateursession war Tadd Damerons „Hot House“, ein Song, der später als eine der großen Kompositionen des frühen Bebop bekannt wurde.
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