Coltrane. Ben Ratliff

Coltrane - Ben Ratliff


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er regelmäßig zur Übung spielte; er mag sich daran gewöhnt haben, über seine Auf-und Abwärtsbewegungen zwischen den verschiedenen Mollakkorden zu improvisieren. Dieses „Tunisia“-Solo, ein Schema lang, hat seine Schwächen: Es quietscht, ist ein bisschen unentschlossen und manchmal unbeabsichtigt dissonant. Doch es hat Charakter. Es beginnt mit einem Break wie aus dem Bilderbuch: Plötzlich hören alle Musiker mit Ausnahme des Solisten auf zu spielen. Als Parker die Nummer fünf Jahr zuvor aufnahm, war sein Break vier Takte lang, in denen er einen Schwarm von Sechzehntelnoten um die Konzerttonart F kreisen ließ. Es ist ein berühmter Break, und in aller Regel spielt ihn niemand kürzer als vier Takte. Coltranes Break ist jedoch seltsamerweise nur zwei Takte lang und besteht aus längeren Tönen, die eine Harmonie erzeugen, die sofort in Richtung Moll tendiert. Wenn die Band einsetzt, heizt sich sein Swingfeeling auf, aber nur ganz allmählich. Insgesamt vermittelt dies ein Gefühl von Geduld, Ausdauer, wenn nicht gar von Dissoziation; von einer Ernsthaftigkeit, die beinahe unglaublich ist; als ahnte er, dass Band und Publikum auf die Offenbarung irgendeiner künstlerischen Wahrheit warteten. Es ist der Außenseiter, der ein offenes Feld betritt, wo die Angriffe von allen Seiten kommen können – er ist defensiv korrekt, langsam und vorsichtig.

      Es ist ein Trancezustand, und zwar ein typisch amerikanisch-romantischer; eine Disposition, die außerhalb historischer Markierungen angesiedelt ist. Sie zieht das Starren dem Blinzeln vor. Johnny Cash, Clint Eastwood, Waylon Jennings waren in diesem Zustand, auch Tommy Duncan, der große Bariton des Western-Swing von Bob Wills & His Texas Playboys. Oder Walt Whitman, als er seine Gefühle in langen Zeilen nach außen kehrte, sich aber doch hinter Wiederholungen versteckte wie ein wirbelnder Derwisch in seinem Gewand. Auch Gertrude Stein lässt sich mit ihren Wiederholungen in einem knappen amerikanischen Rhythmus dazurechnen. (T. S. Eliot sagte einmal abfällig, ihr Stil biete „ein besonderes hypnotisches Muster, dem man bisher noch nicht begegnet ist; es ist mit dem Saxofon verwandt“.) Natty Bumpoo, der Held in James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen, hatte diese Einstellung, ebenso wie John Wayne als Ethan in Der schwarze Falke: Sie passten sich der Lebensweise der Indianer an und fanden einen eigenen Weg, um außerhalb der vorgeschriebenen Grenzen ihrer Rasse, Klasse oder ihres Status bestehen zu können.

      Jazz fördert und hemmt diese Disposition gleichermaßen. Es ist Musik in einem sozialen und kommerziellen Kontext, verbunden mit harter Arbeit. Man spielt, um das Geld für die Miete zu verdienen. Der Clubbesitzer gibt einem eine feste Gage oder einen Teil der Eintrittseinnahmen, und wenn die Gäste während des Auftritts mehr trinken als sonst, wird man wieder gebucht. Man spielt in dem beengten Kontext einer Band, als Teil einer Instrumentengruppe oder als führender Solist und gibt dem Publikum möglichst das, was es will. Gleichzeitig improvisiert man und versucht, jenen Teil der eigenen Persönlichkeit ans Tageslicht zu bringen, der sich am deutlichsten von allen anderen unterscheidet.

      „Was ich bei Diz nicht wusste, war, dass meine Aufgabe darin bestand, mich wirklich selbst auszudrücken“, erzählte Coltrane 1956 Ira Gitler, einem Reporter von Down Beat. „Ich spielte Klischees und versuchte angesagte Melodien zu lernen, damit ich mit den Typen spielen konnte, die sie spielten.“ Das ist nicht ganz zutreffend, wenn man sich das Solo von „Night in Tunisia“ ansieht, denn es weicht deutlich von der Norm ab. Jedoch darf man nicht vergessen, dass wir hier von John Coltrane reden – einem der wichtigsten Musiker des amerikanischen Jazz, der die Tradition begründete, nicht wie irgend jemand anders zu klingen. Zutreffend hingegen ist im Großen und Ganzen, dass er sich in der grundlegenden Wahl seiner Töne und Spielmuster letztlich an den großen Saxofonisten der Vierzigerjahre orientierte, die Charlie Parkers Sprache auf das Tenorsaxofon übertragen hatten: Dexter Gordon, Wardell Gray und Gene Ammons.

      Diese Musiker verwendeten Parkers rhythmisches Feeling, gaben dem Ganzen jedoch eine rauere, erdigere Gestalt; es war leichter, ihnen zu folgen als Bird. Sie fanden den Weg zurück zur melodischen Sicherheit und Sensibilität für Balladen eines Lester Young und kamen dabei dem kunstvollen Hupkonzert von Illinois Jacquet sehr nahe, der für seine weltlichen Extreme bekannt wurde und seine Soli entweder wie Ziegelsteine von sich schleuderte oder als Küsse hinhauchte. Alle fanden ihr Publikum auf landesweiten Tourneen mit Big Bands, fernab vom intellektuellen Kern der New Yorker Bop-Szene. Sie entdeckten das tiefe Ende des Bebop – im wörtlichen Sinne der Tonhöhe wie auch im metaphorisch-gefühlsmäßigen Sinne (man könnte auch sagen: erdig, erdverbunden). Es ist kein Zufall, dass sie in der neuen Musik einen Dialekt entwickelten, der besonders das schwarze Publikum ansprach.

      Im Herzen des Bebop, in seiner ersten Apotheose mit Charlie Parker (Altsaxofon), Bud Powell (Piano), Dizzy Gillespie (Trompete) und dem ersten Schwung Schlagzeuger (Kenny Clarke, Max Roach, Art Blakey, Stan Levey und Roy Haynes) bestand der Sound aus drei Hauptelementen. Diese waren das Ride-Becken, das den schnellen Rhythmus zum großen Teil trug (während die „Bomben“ der Basstrommel in unregelmäßigen Abständen abgeworfen wurden), die rechte Hand des Pianisten (Powell ließ die Einzeltöne fast immer wie Drachen in der Luft tanzen, mit gelegentlichen Sturzflügen in Form stechender Akkorde mit der linken Hand) und schließlich die hohen Register des Altsaxofons und der Trompete, die in ausgedehnten Improvisationen Vorstöße in Richtung neunter, elfter oder dreizehnter Stufe wagten. Parker hat seinen Moment der Erleuchtung in einem berühmten Interview einmal so beschrieben: „Ich entdeckte, dass ich genau das spielen konnte, was ich mir vorgestellt hatte, wenn ich die höheren Lagen eines Akkords als Melodielinie verwendete und sie mit entsprechenden Harmoniewechseln unterlegte. So erwachte ich zum Leben.“ Später erklärte er regelmäßig, sein Interesse für Debussy und Bartók, die solche Intervalle ebenfalls verwendeten, sei erst geweckt worden, als Gillespie ihre neue Sprache bereits für sie formuliert hatte.

      Bebop war eine hochenergetische Musik, die nach vorn preschte, dann in der Mitte eines melodiösen Chorus plötzlich verstummte; sie war sich ihres eigenen Gewichts und ihrer Form voll und ganz bewusst. Sie besaß nicht die kommunikativen Qualitäten des Swing eines Lester Young und des großen Übervaters Coleman Hawkins, es sei denn, man bezieht sich auf eine Kommunikation unter dem Einfluss von Amphetaminen. Amphetamine waren ein ständiger Begleiter des Bebop, so wie der Gin das Stride Piano begleitete.

      Dexter Gordon, die Schlüsselfigur in der Übergangsphase zwischen Charlie Parker und Coltrane, fügte dem Ganzen noch etwas anderes hinzu: einen Ausdruck, der sich der mittleren und tiefen Register bediente, sowie eine sichere, natürliche Spielweise, der ein etwas gleichförmigeres Achtelfeeling zugrunde lag. Es war das Gefühl, in seiner eigenen Geschwindigkeit zu gehen, anstatt zu rennen; auf das eigene Zeitgefühl zu hören, um Schritt halten zu können – selbst auf die Gefahr hin, lächerlich zu wirken.

      Dexter Gordon lebte, wie die meisten jungen und gefragten Musiker, in New York. Ursprünglich jedoch stammte er aus Los Angeles, was den grundlegenden Unterschied im Temperament dieses Mannes erklärt. Los Angeles war damals noch der alte Westen, wo sich die Menschen langsam bewegten und langsam sprachen. Anfang der Vierziger verließ Gordon seine Heimat, um mit Lionel Hampton zu spielen, damals ein Patient seines Vaters, eines Arztes. So gelangte er in den Dunstkreis von Illinois Jacquet, des Star-Tenorsaxofonisten jener Band. Jacquet spielte das Solo auf Hamptons Hitplatte Flying Home von 1942, das zu seiner Erkennungsmelodie wurde. Über einem regulären Bluesschema gewann das Solo durch Jacquets anschwellende, maskuline Riffs an Fahrt und wurde so zum stilistischen Rohmaterial für alle Jazz-und Rhythm & Blues-Saxofonisten. Allerdings besaß Jacquets Spiel noch einen etwas volkstümlicheren Charakter: Es war bewusst antivirtuos gehalten. Sein Riffspiel wurde zur Grundlage eines neuen, urbanen Verständnisses von Jazz, zu einer Möglichkeit, Kneipenmusik und anspruchsvollere, intellektuelle Sachen miteinander zu verbinden. Es wurde herumgereicht: erst von Jacquet an Gordon, dann von Gordon an Coltrane.

      Von (Earl Lavon) Freeman, der Tenorsaxofonist, der die Fünfzigerjahre mit Auftritten in den Clubs von Chicago verbrachte, hat gesagt, Coltranes Leistung bestehe darin, dass er die drei wichtigen Spielweisen des Tenorsaxofons verinnerlicht habe: den schnellen, aggressiven, am Bebop orientierten Stil mit vielen nervösen hohen Tönen, den weichen Stil von Lester Young und schließlich den von Dexter Gordon.

      Dennoch sollte es noch lange dauern, bis Coltrane sich als Musiker ganz entfaltete. Während seiner harten Lehrjahre in der Bebop-Ära, als er bei Dizzy Gillespie als Sideman arbeitete, eignete er sich jedoch große Teile des Handwerkszeugs an, das seinen späteren Stil ausmachte. Eines davon


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