Coltrane. Ben Ratliff
warten, dass man endlich verschwindet; er weigert sich strikt, schneller zu werden. Ein anderes (zu hören im dritten Chorus seines Solos in „Congo Blues“) ist ein kurzes, aber scharfes Aufwärtsglissando, das ein Intervall von sechs Halbtönen überspringt. Es klingt wie ein Seufzer rückwärts.
Es passiert nicht viel
Coltrane hatte seinen Weg mehr oder weniger gefunden. Im Frühjahr 1952 quittierte er seinen Dienst bei Gillespie. Die folgende Phase, bis er sich 1955 Miles Davis anschloss, ist jedoch vornehmlich davon gezeichnet, dass nur wenig von Bedeutung geschieht. Er lernte immer noch und betrachtete sich nach wie vor als Musiker in der zweiten Reihe.
Er trank und nahm Heroin, was damals nichts Ungewöhnliches war. In einer wegweisenden soziologischen Studie aus den Jahren 1954 und 1955 legt Charles Winick dar, dass von den dreihundertsiebenundfünfzig methodisch befragten New Yorker Jazzmusikern sechzehn Prozent heroinabhängig waren. Hätte man diesen Prozentsatz auf die Gesamtzahl der New Yorker Jazzmusiker übertragen, die Winick mit etwa fünftausend bezifferte, hätte man vermutlich festgestellt, dass sich unter den aktiven Jazzmusikern im New York der Jahre 1954/1955 über siebenhundertfünfzig regelmäßige Heroinkonsumenten befanden. Winicks Studie muss man allerdings mit ein wenig Skepsis begegnen: Man muss bedenken, welche Vorbehalte ein Jazzmusiker damals einem Mitglied der bürgerlichen Welt mit einem Notizblock in der Hand gehabt haben muss und auch, welche Sorte Mensch sich zu solch einer Befragung überhaupt bereit erklärt haben könnte.
Daneben studierte Coltrane eifrig weiter den Jazz, für sich alleine und bei Dennis Sandole an der Granoff School of Music in Philadelphia. Ein Drittel der Veteranen des Zweiten Weltkriegs nutzten die Bildungszuschüsse für G.I.s, um das College zu besuchen; Coltrane war ein ehemaliger Armeeangehöriger, der darauf erpicht war, sich weiterzubilden. Er spielte in verschiedenen Bands, wovon einige ziemlich bekannt waren, andere heute längst vergessen sind. Er machte sich dabei nicht unbedingt einen Namen als Solist. Seine Konzerte hatten zwar einen gewissen Lerneffekt, verhalfen ihm aber nicht zu einem besonderen Status.
So spielte er kurzzeitig bei Gay Grosse, einem Bandleader, der ein drittklassiger Jump-Blues-Sänger und Möchtegernsaxofonist war. Grosse trat regelmäßig im Club Congo in Cleveland auf und hatte in dieser Gegend auch einige lokale Jukeboxhits. Auf der Ballade „Bitter Sweet“, aufgenommen im Januar 1952, ist Coltrane zu hören: Er spielt sein Altsaxofon klar und langsam, aber ohne jede Aussagekraft. Es könnte sich dabei um eine Hommage an Johnny Hodges handeln, an dessen langsamen, zärtlichen Stil. Trotzdem schläft man bei Coltranes Solo beinahe ein.
1953 spielte er eine Zeitlang in der Band des Saxofonisten Earl Bostic. Bostic war eine seltene Spezies: ein R&B-Hitlieferant mit makellosem Timing und großen technischen Fähigkeiten, der über einen Rock’n’Roll-Backbeat spielte. Sein bekanntester Song, „Flamingo“, war zwei Jahre zuvor ein Hit gewesen. Es war eine dreckige Version einer sahnigen Ellington-Ballade (geschrieben von Ted Grouya und Edmund Anderson), die ursprünglich Herb Jeffries gesungen hatte. Bostic, stämmig, gedrungen und mit einer Hornbrille auf der Nase, sah aus wie der Rektor einer schwarzen Mittelschule. Sein Sound war eine aufgedonnerte, leicht erregbare Variante von Johnny Hodges. Hodges selbst spielte ein Solo in Ellingtons Version von „Flamingo“ aus dem Jahr 1940, aber Bostic wandelte es ab. Wenn die zugeknöpfte Gefühlsbetontheit von Hodges und sein sanftes Brummeln einen Mann darstellten, der eine schöne Frau beobachtete, dann stellte Bostic zwar denselben Mann dar – aber bei ihm trug der eine Röntgenbrille. Sein Balladenton war laut, überdreht und hitzköpfig.
Jeder technisch orientierte Saxofonist beneidete Bostic. Auf Tournee verbrachte er die Freizeit damit, seinen Musikern zu erklären, wie man für Saxofone verschiedener Hersteller unterschiedliche Fingersätze anwandte, um bessere Sounds zu erzeugen. Sein sicheres und kontrolliertes Herangehen an Jukeboxproduktionen und seine makellose Technik waren für Coltrane im Frühling, Sommer und Herbst des Jahres 1953 eine gute Schule.
Wenn man sich für Coltranes Entwicklung auf dem Tenorsaxofon interessiert, sind jedoch die beiden Songs, die er 1954 mit James „Coatesville“ Harris aufnahm, einem Schlagzeuger aus Philadelphia (der in den Vierzigern eine Zeitlang für Louis Armstrong getrommelt hatte), weitaus ergiebiger. „Hamhocks And Hominy“ ist eine durchschnittliche Platte zum Mitsingen und Tanzen, die davon handelt, dass ein Mädchen ihren Mann dank ihrer Kochkunst „wie einen Fisch an der Angel“ hat. Coltrane setzt zum Solo an, und voilà: Da ist er, sein Sound. Man kann die Breite und Kraft seiner Melodie deutlich hören. Hatte das Altsaxofon eventuell noch die ständige Versuchung ausgeübt, in die musikalische Sprache von Johnny Hodges zu verfallen, ist Coltrane mit dem Tenorsaxofon nun ganz auf sich selbst gestellt. Auf solchen Platten würde man vermuten, dass der Saxofonist einen Ton ständig wiederholt, dem Stil entsprechend. Statt dessen bleibt er weit hinter dem Beat zurück und baut in maßvollen Schritten sein Solo auf.
Coltrane hatte nun bei zwei der unter jungen Musikern vergötterten Techniker gespielt: Gillespie und Bostic. Als nächstes sollte er mit einem dritten zusammentreffen: Johnny Hodges höchstpersönlich.
Hodges war ein Protégé von Sidney Bechet. Er hatte anfangs auch Bechets Instrument gespielt, das Sopransaxofon, und dessen knurrenden und grummelnden Ton imitiert(den Bechet „Goola“ nannte – nach dem Namen seines Hundes). Hodges fand seinen eigenen Ausdruck, indem er Bechet für seine eigenen Zwecke zurechtbog, die Breite des Sounds beibehielt und die rhythmische Nervosität wegließ. Mit seiner überzogenen Stilisierung – durchgehende Saxofonglissandi mit wechselnder Dynamik von gertenschlank bis überwältigend, elegante rhythmische Pirouetten – schuf Hodges eine neue Art maskuliner Sensibilität im Jazz. Dies kam seinem langjährigen Arbeitgeber Duke Ellington sehr entgegen. Wenn es darum geht, verschiedene Arten der Maskulinität von fast parodistischer Entkräftung bis hin zu unnachgiebiger Härte in der Musik auszudrücken, bleibt Ellington der ewige Großmeister des Jazz.
Hodges war sehr gut darin, mit der linken Hand das Tempo zu zügeln. Er spielte niemals hastig, und dies gab ihm die Möglichkeit, kleine, aufregende Pointen inmitten lockerer, fließender Melodien mit langen Tönen einzubetten. Sie klangen nie improvisiert, selbst dann nicht, wenn sie es waren. Obwohl Coltrane lange brauchte, um den richtigen Zugang zu Balladen zu finden (er war bis Mitte dreißig noch kein wirklich origineller, fesseln-der Balladenspieler), so fand er doch, dass die superentspannten, dunkel erotischen Tempi von Hodges auch gut zu seinem eigenen Spiel passen würden. So könnte eine ganz neue Stimmung entstehen, eine Balance zwischen Heiligkeit und Machbarkeit, eine Stimmung, die man im Jazz bislang nicht gekannt hatte.
„Smoke Gets In Your Eyes“ war Coltranes spezielle Solonummer, als er in der Band von Hodges spielte. Vielleicht ist es die Fremdartigkeit dieses Songs, die ihm, zusammen mit der Fremdartigkeit des Sounds von Hodges, den Weg zeigte und ihn in Richtung dunklerer Klänge wies. In „Castle Rock“, seinem Parade-Blues (eigentlich eine Rock’n’Roll-Nummer), war er ebenfalls hart, maskulin, kathartisch. Er musste seinen Ton ausweiten, um die vollen, rauchigen, klagenden und tiefen Noten spielen zu können, die immerhin eine Oktave unter der Tonika lagen. Auch sein Rhythmus nahm Gestalt an: In „Castle Rock“ fand er zusammen mit dem Schlagzeuger einen hübschen Groove.
Benny Golson, der Coltrane in all seinen Phasen gesehen hatte, bemerkte, dass sein Freund unterwegs zu etwas Neuem war. Golson erinnert sich, dass Coltrane noch unmittelbar zuvor eine offensichtliche Faszination für Dexter Gordon gehegt hatte. Nun hingegen, auf Tournee mit Johnny Hodges, entwickelte er „einen Stil, der keinen Namen hatte, aber irgendwie in der Gegend herumhüpfte und -sprang“. Coltrane begann, eigene Formen und Rhythmen zu spielen.
„Der Job machte mir richtig Spaß“, erzählte John Coltrane später. „Ich mochte jedes Stück in diesem Programm. Nichts davon war oberflächlich. Alles hatte eine Bedeutung, und alles swingte. Und dann die Sicherheit, mit der Rabbit Hodges spielt! Ich wünschte, ich könnte ebenso selbstsicher spielen wie er.“
Coltrane verließ Hodges im Herbst 1954 und arbeitete das folgende Jahr über jeweils für kurze Zeit mit verschiedenen Bands im Großraum Philadelphia. Eine dieser Bands wurde von dem Organisten Jimmy Smith geleitet. Coltrane wollte sich jedoch nun zunehmend selbst spielen hören, und der laute Orgelsound von Smith – „diese Akkorde, die mich da anbrüllen“, wie er sich später einmal