Coltrane. Ben Ratliff
Druck stattfanden, der Fall war), hätte Davis, der ja gerade ein Comeback versuchte, seine Karriere mit gleich vier durchschnittlichen Alben auf dem Markt leicht zum Stillstand bringen können. Trotz aller Schwächen, die aber meist harmlos ausfallen, handelt es sich um exzellente Aufnahmen. Es wurden großartige Platten. Keine Meisterwerke zwar, aber einfach tolle Platten.
Im Frühjahr 1956 war die Gruppe zusammengewachsen. Abgesehen von Coltrane, der den Platz vorn am Bühnenrand einnahm, war auch die Rhythmusgruppe vom Allerfeinsten. Diese Aufnahmen waren der Höhepunkt eines Stils, den man später Hard Bop nannte.
Die Musik dieser Sessions ist mittlerweile in Ehren gealtert, vor allem jene aus der Session vom 26. Oktober, und sie stellt, in ihrer Gesamtheit betrachtet, ein frühes Konzeptalbum von Miles Davis dar – vielleicht sogar eines, das man in eine Reihe mit Miles Ahead, Porgy And Bess und Sketches Of Spain stellen kann. (Die Titel, die schließlich für die Platten ausgewählt wurden, verstärken den Eindruck, dass sie zusammen gehören. In der Reihenfolge der Katalognummern lauten diese Cookin’ With The Miles Davis Quintet, Relaxin’ With The Miles Davis Quintet, Workin’ With The Miles Davis Quintet und Steamin’ With The Miles Davis Quintet.) Da Davis ein verständliches Interesse daran hatte, in möglichst kurzer Zeit eine große Menge Material durchzuackern, waren die Aufnahmen eigentlich Konzerte im Studio. Wenn eine Nummer vorbei war, begann er gleich mit der nächsten. Er setzte darauf, dass er so die entspannte Lockerheit eines Liveauftritts schaffen könnte statt der eingezwängten, sterilen Atmosphäre einer Studiosession. Freilich wollte er gleichzeitig auch seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen. Er wollte seine Gedanken auf eine lange Musikfolge richten, ohne sich an die normalen Konventionen im Studio halten zu müssen, wo Stück für Stück einzeln aufgenommen wird. Seine Rechnung ging auf.
Lockerheit bedeutete, dass Coltrane bei einigen der besten Prestige-Stücke – „Surrey With The Fringe On Top“ und „If I Were A Bell“ – aus dem Hintergrund ans Mikrofon eilte, ganz offensichtlich noch nicht bereit für seinen Einsatz. Es bedeutete, dass das Arrangement und der musikalische Gesamtrahmen eines Stückes nicht so fest fixiert waren. Es bedeutete, dass Stücke auch langsam herunterköcheln konnten, anstatt mit einem kontrollierten Plopp zu enden.
Der Bassist Paul Chambers bildete mit seinem kraftvollen Pizzicatospiel am tiefen Ende seines Instruments das groovende Rückgrat der Gruppe. Einige seiner Soli, gestrichen oder gezupft, zeugen von einem Rhythmusgefühl, das ihn in eine Reihe mit Jimmy Blanton und Oscar Pettiford stellt. Im Wesentlichen jedoch war er ein Anker. „Ein Bassist von Paul Chambers’ Format ist in New York schwer zu finden“, sagte Coltrane. „Er begreift seine Funktion an der Schnittstelle: Er hört gleichermaßen auf das Klavier und auf das Schlagzeug. Seine ganze Arbeit besteht darin, im Dienste dieser Instrumente zu improvisieren. Seine Melodieführung ist ein Ergebnis aus den Melodieführungen der anderen zwei Musiker.“ Der Schlagzeuger Philly Joe Jones trommelte harte, prägnante Fills und spielte alles – vom Solo bis zur leisen Begleitung eines Bass-Solos – mit einem ungemein sicheren Gespür für das Tempo. Der Pianist Red Garland ist am ehesten für seine sauberen Blockakkorde bekannt geworden, in rhythmischer Hinsicht jedoch war er erdig und elegant, eine gemäßigtere Ausgabe von Horace Silver, obwohl er einen ganz ähnlichen Bereich hinter dem Beat ausleuchtete.
Für Garlands Geschmack waren Coltranes Einsätze und Ausstiege ein Stück zu modern, jedoch trotzdem nachvollziehbar und leicht zu handhaben. „Die Kontinuität seiner Ideen und seine einzigartige Weise, mit Akkordwechseln umzugehen, haben mich immer verblüfft“, sagte Garland gegenüber Nat Hentoff. „Er kann an einer völlig ungewöhnlichen Stelle mit einem neuen Akkord beginnen. Der Durchschnittstyp fängt vielleicht mit der Septime an, Coltrane jedoch beginnt auch gern mal mit einer verminderten Quinte. Er hat eine verdammt eigene Art, die Akkorde aufzubrechen, aber es macht mir keine Schwierigkeiten, ihn zu begleiten, da er ja dieses Gefühl für Kontinuität hat, von dem ich gesprochen habe.“
„Kontinuität“ ist ein Begriff, der viel über Coltranes Denkweise aussagt. Er verband nicht nur Phrasen miteinander, die harmonisch weit voneinander entfernt schienen, sondern er schuf damit auch Verbindungen zwischen ganzen Theorieblöcken, die zunächst einmal scheinbar nichts miteinander zu tun hatten.
Der Hornist David Amram begegnete ihm zum ersten Mal Anfang 1956 vor dem Café Bohemia in der Barrow Street im West Village von Manhattan. Amram hatte gerade einen Auftritt mit der Band von Charles Mingus beendet, und Coltrane saß vor dem Club und aß ein Stück Pastete:
„Er fragte: ,Na, wie geht’s?‘ Ich sagte: ,Alles bestens.‘ Und dann fragte er: ,Was hältst du von Einsteins Relativitätstheorie?‘“ Ich glaube nicht, dass es ihn besonders interessierte, was ich darüber wusste. Er wollte wohl zeigen, was er alles darüber wusste. Ich hatte Pech, und er erging sich in endlosen Ausführungen über die Symmetrie des Sonnensystems, redete von schwarzen Löchern im All, von Sternenzeichen und der ganzen Struktur des Sonnensystems und wie es Einstein gelungen war, all diese komplexen Zusammenhänge auf etwas sehr Einfaches zu reduzieren. Dann erklärte er mir, dass er versuche, etwas ganz Ähnliches in der Musik zu machen, etwas, das sich aus naheliegenden Quellen speise, den Traditionen des Blues und des Jazz. Dabei wolle er jedoch einen ganz anderen Ansatz, eine gänzlich neue Herangehensweise an solche Quellen schaffen.“
„Surrey With The Fringe On Top“ vom 11. Mai ist vermutlich Coltranes erstes im Studio aufgenommenes Solo mit einer eigenen Persönlichkeit – das erste, bei dem er seinen provokativen Umgang mit Akkordfolgen, seine ausgefallenen rhythmischen Notengruppierungen, das Wechselspiel zwischen schnellen und langsamen Sequenzen und so weiter in den Dienst einer musikalischen Persönlichkeit stellt, mit der man lieber etwas Zeit verbringen möchte, als sie einfach nur zu studieren. Dafür hat er einiges von seiner experimentellen Kälte verloren. Er hat gelernt, wie man auf einen eleganten Schluss zusteuert, anstatt eine Improvisation voller Ungeduld mittendrin abzubrechen. Es gibt jedoch immer noch einige Schwachpunkte: Seine Artikulation klingt in den schnellen Passagen immer noch verklemmt, und man spürt, dass er sich insgesamt noch nicht ganz wohl fühlt.
Bei der Session vom 26. Oktober 1956 jedoch merkt man bereits im ersten Stück, „If I Were A Bell“, dass Coltranes Phrasierung, seine seltsam klumpigen Notengruppierungen ihre eigenen komfortablen Dimensionen gefunden und sich in wahre Fanfarenklänge verwandelt haben. Er ist besser darin geworden, den Raum zu nutzen, der ihm zur Verfügung steht. Erst kürzlich war er zum Balladenspieler geworden. Vielleicht, um auf Nummer sicher zu gehen, hatte ihn Davis noch bei der Session vom 11. Mai gebeten, die Balladen auszulassen. Nun hingegen ist er auf „Round About Midnight“ und „You’re My Everything“ zu hören.
Coltranes Transformationen definieren auch die Geschichte seines Werks. Sie sind das Thema dieses Buchs. Die eben angesprochene Verwandlung von dem streng mathematischen, durchweg in Achteln gespielten „Ah-Leu-Cha“ exakt ein Jahr zuvor bis zu „If I Were A Bell“ ist ein Siebenmeilenschritt. Wie Eddie „Cleanhead“ Vinson sagte: Schon in seinen Tagen als namenloser Musiker änderte Coltrane seinen Stil fast alle sechs Monate.
Das Miles Davis Quintet war nonstop auf Tournee und begann, einen kleinen Mythos um sich herum aufzubauen. Wie fast alle ernsthaften Jazzgruppen der damaligen Zeit legten sie größten Wert auf ihr Äußeres. Davis war es ganz besonders wichtig, dass seine Bandmitglieder scharf aussahen. Er selbst kleidete sich nach seinem Comeback elitär: Er bestellte adrett geschnittene Tweedanzüge, die er sich vom Andover Shop am Harvard Square maßschneidern ließ. Coltrane konnte da nicht ganz mithalten. Er sah zu ernst aus. Er hatte schwere Knochen, ganz im Gegensatz zum vogelartigen Miles, und er trug dunkle Anzüge mit weiten Jacketts und dünnen Krawatten. Er sah nicht scharf aus. Er war das Abbild eines tiefen, weitläufigen Innenlebens, eines Desinteresses an allen Äußerlichkeiten.
In den fünfeinhalb Monaten zwischen der ersten und der zweiten langen Session für Prestige hatte das Davis-Quintett ein zweiwöchiges Engagement im Café Bohemia in New York, zwei Wochen in der Crown Propellor Lounge in Chicago, eine Woche im Peacock Alley in St. Louis, dann wieder eine Woche im Café Bohemia, gefolgt von einer Woche im Storyville in Boston und zwei weiteren Wochen im Bohemia. Obwohl sich Jazzkenner darin einig waren, dass die Gruppe etwas Besonderes geworden war und problemlos alleine auftreten konnte, teilte sie sich den Abend in den Clubs typischerweise mit mehreren anderen Künstlern. Die Anzeige eines Nachtclubs