Coltrane. Ben Ratliff
Sonny Rollins, wenn er in New York war, in den frühen Fünfzigern immer wieder mal engagierte. Sowohl Davis als auch Rollins nahmen bis 1955 Heroin.
1955, im Jahr als Charlie Parker starb, musste etwas Neues im Jazz passieren. Das Heroin hatte die Musik gelähmt, manchem den Tod gebracht und Neuentwicklungen verhindert. Ein großer Teil der kleinen neuen New Yorker Jazzszene kreiste immer noch um die Standards, die Parker in Sachen Rhythmus, Harmonie und Bühnenpräsenz gesetzt hatte, um seine besondere Logik asymmetrischer Achtelphrasierung. So viele Saxofonisten hatten seine Soli Note für Note studiert und sein Tempo, seinen Ton und seine Licks in ihrem Sound übernommen, dass der Jazz vorübergehend zu einem Stillstand gekommen war. Zu guter Letzt interessierte sich der harte Kern seiner Jünger nur noch für seine Soli – soll heißen: mehr als für die Ensembles, mehr als für alles andere.
Parker selbst, durch Alkohol und Heroin physisch und psychisch am Ende und nur noch ein Klumpen aus blutenden Magengeschwüren, kaputten Nieren und einer verwüsteten Leber, hätte als Symbol für die Erschöpfung des Bebop stehen können. Davis, der stets instinktiv gegen den Strom schwamm, stellte eine neue Gruppe zusammen.
Davis hatte gerade zum ersten Mal einen Heroinentzug hinter sich und äußerte sich dazu im Winter 1953/1954 gegenüber der Presse. Er war plötzlich fasziniert vom Trio des Pianisten Ahmad Jamal, der adrette, unaufdringliche Stücke für eine Band schrieb, die die Makro-Improvisation beherrschte – also die Improvisation in der Form (sprich: in der Struktur), und nicht nur inhaltlich (in Soli). Davis gab im Sommer 1955 beim Newport Jazz Festival ein beeindruckendes, sehr persönliches Konzert, das gemeinhin als „Comeback-Konzert“ betrachtet wurde.
Damals waren viele Jazzmusiker anerkannte Volkshelden, und die Drogen, die sie nahmen, wurden als Teil ihrer Welt angesehen. Anders als heute wurden Jazzmusiker als geheimnisvolle Kreaturen betrachtet, die ihre eigene Sprache hatten und nur ihre eigenen Gesetze befolgten. Sie liefen sozusagen außer Konkurrenz – was nicht heißen soll, dass man sie deshalb besser verstand. Mit den richtigen Leuten im Publikum konnten bestimmte geschickt lancierte Konzerte einen mythischen Status erlangen, was auch oft genug geschah. Heute werden die meisten großen Jazzkonzerte zu schnell kontextualisiert und dadurch sofort zum Durchschnitt degradiert.
Columbia Records nahm Davis unter Vertrag und zahlte neben einem Vorschuss von zweitausend Dollar pro Jahr noch einen Tantiemenanteil von vier Prozent, was gemäß den Vertragsbestimmungen einen Vorschuss in Höhe von insgesamt viertausend Dollar ergab. Für Jazz war das damals eine Menge Geld.
Folgt man den Memoiren von Davis und bedenkt man den guten Ruf von Rollins zur damaligen Zeit, hätte er sich wahrscheinlich für Sonny Rollins als Tenorsaxofonist der Gruppe entschieden. Es machte Miles jedoch nervös, dass Rollins unentschlossen war, ob er in New York bleiben sollte oder nicht.
Rollins war ungeheuer intelligent und sehr einnehmend. Er war immer noch auf der Suche, aber trotzdem schon ein Bandleader. Geboren 1930, war er in Harlem aufgewachsen – zum Teil in Sugar Hill, einem Viertel, in dem die besten Jazzmusiker der Stadt lebten. Da er sich inmitten der von ihm bewunderten Jazzkultur entwickelt hatte, war er Coltrane einen Schritt voraus. Mit dreizehn hatte er bereits Coleman Hawkins getroffen. Er hatte einfach mit einem Stift und einem Hochglanzfoto vor dessen Haustür in der
153. Straße gewartet. Im Alter von zwanzig Jahren machte er erste Aufnahmen für Prestige.
Davis entschied sich schließlich für Coltrane. Philly Joe Jones, sein Schlagzeuger, kannte Coltrane aus gemeinsamen Teenagerjahren in Philadelphia und empfahl ihn seinem Chef. Coltrane war freilich kein gänzlich unbeschriebenes Blatt mehr, da er zumindest schon einmal mit der Band von Davis zusammengespielt hatte – 1950 im Audubon Ballroom in New York. Rollins erinnert sich daran, dass der Auftritt vielen größeren Konzerten der Bebopper geähnelt hatte – eine Show für Tänzer, bei der nur ein paar Aufpasser vorn am Bühnenrand standen. Coltrane kannte zudem bereits sehr viele Stücke von seiner Band. Er mag die zweite Wahl gewesen sein, aber wenigstens hatte man nicht die Sorge, dass man ihn bald ersetzen müsste.
„Nun hatten wir Trane am Saxofon, Philly Joe am Schlagzeug, Red Garland am Klavier, Paul Chambers am Bass und mich selbst an der Trompete“, schrieb Davis in seiner Autobiografie. „Und früher, als ich es mir je vorgestellt hätte, spielten wir zusammen einfach unglaubliche Musik. Sie war so geil, dass es mir nachts kalt den Rücken runter lief, und dasselbe bewirkte sie auch beim Publikum. Mann, die Scheiße, die wir nach kurzer Zeit spielten, war richtig beängstigend. So beängstigend, dass ich mich manchmal zwickte, um zu prüfen, ob das alles auch wirklich wahr war.“
Prestige
Von 1955 bis 1957 veränderte sich Coltranes Leben. Einige Tage vor Beginn einer stressigen Reihe von Clubkonzerten mit dem Miles Davis Quintet heiratete er eine Landsmännin aus North Carolina, deren Familie ebenfalls nach Philadelphia gezogen war. Naima Coltrane, geborene Juanita Grubbs, war eine Muslimin. Coltrane war zu jener Zeit immer noch heroinabhängig, was auch in der Öffentlichkeit deutlicher sichtbar wurde. Er ließ sich seine Arbeit zuteilen.
Seine ersten Soli mit der Band finden sich auf einer Aufnahme für Columbia vom Oktober 1955 – in Charlie Parkers „Ah-Leu-Cha“, im „Two Bass Hit“ von John Lewis und Dizzy Gillespie, in Jackie McLeans „Little Melonae“ und in „Budo“ von Miles und Bud Powell. Alle sind auf dem Miles-Davis-Album Round About Midnight zu hören. Diese Soli wurden hoch gelobt, erzeugen aber nicht ganz das Kribbeln, von dem Davis sprach.
In „Ah-Leu-Cha“ legte Coltrane eine überdurchschnittliche Leistung hin, mit einem trockenen Swingfeeling in der Manier von Gene Ammons und mit immer noch hörbaren Anleihen an Dexter Gordons Spiel. Es ist ein recht ordentliches Solo, das mit Hilfe verminderter Skalen Tonfolgen in den Raum stellt und dann auf diese reagiert, bevor es an die nächste Tonfolge geht. In „Two Bass Hit“ zitierte er während der ersten acht Takte immer wieder Dizzy Gillespies Einleitungsmotiv aus der 1947 entstandenen Originalversion des Songs. (Er zeigte, dass er sich im Studio gut zurecht fand, wie schon damals auf Hawaii.) Ansonsten verlor er sich in rhythmisch sicheren, aber ziemlich langweiligen Achtelmustern. In „Budo“ stellte er die klare Tonalität des Stücks mit stotternden Abschweifungen auf den Kopf.
Miles Davis stand bei Columbia unter Vertrag, aber gleichzeitig auch bei dem kleinen Prestige-Label. Die erste Aufnahme des Davis-Quintetts mit Coltrane für Prestige fand im November statt. Auf „Stablemates“, einem Stück von Coltrane und dessen jüngerem Freund Benny Golson, spielte Coltrane sein wahrscheinlich erstes passables und in sich stimmiges Solo bei einer Aufnahme. Er wirkte jedoch immer noch, als wäre er unsicher und nicht ganz bei der Sache, und dieses Gefühl schien sich auf den Rest der Gruppe zu übertragen.
Die Sessions für Prestige wurden ohne vorherige Proben anberaumt, und die meisten Stücke waren nicht Bestandteil des regulären Repertoires der Band. Miles Davis und Bob Weinstock, der Chef des Labels, kratzten aus Standards und Filmmusik (Stücke wie „Diane“ und „Surrey With The Fringe On Top“) hastig immer mehr Material zusammen. Davis sprach stolz davon, er wolle die Fehler in seiner Musik als Beleg der Menschlichkeit konservieren. Trotzdem ist es zweifelhaft, ob es Coltranes Rohrblattquietscher in „Just Squeeze Me“ (vom 16. November 1955) und „Diane“ (vom 11. Mai 1956) in einer Columbia-Session bis zum Mastering geschafft hätten.
Zu jenem Zeitpunkt hätte man die Aufnahme von Coltrane in die Band durchaus als Rückschritt für Davis sehen können. Wenn man die beiden Versionen von Dave Brubecks „In Your Own Sweet Way“ miteinander vergleicht, die 1956 von Miles und Band für Prestige eingespielt wurden – eine mit Coltrane und eine mit Rollins – und sich dann in den Kopf von Miles Davis hineinversetzt, zieht man Rollins auf jeden Fall vor. Sein Spiel ist prägnant, rhythmisch auf den Punkt, selbstbewusst, angenehm modern und in sich geschlossen. Coltrane mag eine offenere Vorstellung von Harmonie andeuten, doch ist sein Solo in der Ausführung schludriger und scheint, vom erzählerischen Gesichtspunkt aus betrachtet, auf der Stelle zu treten. Er haut seine Figuren ohne große Eleganz heraus.
Die Sessions, die das Miles Davis Quintet mit Coltrane für Prestige aufnahm, waren wahre Marathonveranstaltungen – vor allem die ganztägigen Sessions vom 11. Mai und 26. Oktober 1956, bei denen die Gruppe genügend Nummern einspielte