Coltrane. Ben Ratliff

Coltrane - Ben Ratliff


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Überblick und schlenderte mit Bedacht durch die Läufe und technischen Tricks – doch es gab nun mehr davon, und er spielte sie mit größerer Hingabe und Präzision. Für eine Hälfte des Albums wählte er die dunkle Klangfarbe von Sahib Shihabs Baritonsaxofon als harmonische Begleitung. Im Großen und Ganzen machte er aus der Platte etwas Besonderes, etwas Eigenes.

      „Straight Street“, eine Anspielung auf seine wiedergewonnene Nüchternheit, war ein Stück nach dem Muster AABA mit zwölf Takten in jedem Teil anstatt der üblichen acht und enthielt seltsame kompositorische Strukturen sowie eigentümliche Akkordwechsel. Bronislaw Kapers Motiv aus „While My Lady Sleeps“ wurde zu einer von Coltranes Lieblingsmelodien. Obwohl er in der Regel nicht oft aus fremdem Material zitierte, ließ er sie gern anklingen, wenn er über anderen Stücken improvisierte. Sie hatte eine ähnliche harmonische Atmosphäre wie ein anderer berühmter Standard von Kaper, „On Green Dolphin Street“, das ebenfalls zu einem seiner Lieblingsstücke wurde. Die großen Intervalle von „While My Lady Sleeps“ mögen die Keimzelle von Coltranes späteren, exotischen und hymnischen Balladen wie „Dear Lord“ und „Lonnie’s Lament“ gewesen sein.

      Im Frühsommer 1957 fragte ihn Thelonious Monk, ob er sich seinem Quartett anschließen wolle. Es ging darum, den Sommer über im Five Spot zu spielen. Der Club lag in der Bowery, ein wenig südlich vom Astor Place im New Yorker East Village, am nördlichen Ende dessen, was man als absolutes Elendsviertel Manhattans betrachtete. Das Sommerengagement wurde schließlich bis zum Jahresende fortgesetzt.

      Jenes Jahr wurde oft als Wendepunkt in Coltranes Karriere bezeichnet. Es ist daher sehr verlockend, einmal haarklein unter die Lupe zu nehmen, was Coltrane – im Hinblick auf Harmonie, Rhythmus und Melodie – von Thelonious Monk lernte.

      In Interviews blieb Coltrane eine genaue Antwort schuldig. „Die Arbeit mit Monk brachte mich einem musikalischen Architekten höchsten Ranges nahe“, sagte er 1960. „Ich lernte von ihm in jeder Hinsicht – mit den Sinnen, theoretisch, technisch … Ich diskutierte mit Monk musikalische Fragen, und er setzte sich dann ans Klavier und zeigte mir die Antworten, indem er sie einfach spielte. Ich konnte ihm beim Spielen zusehen und erfuhr dabei alles, was ich wissen wollte. Darüber hinaus konnte ich viel lernen, von dem ich noch überhaupt nichts wusste.“

      Die Antwort liegt, in gewisser Weise, hier verborgen: Da „alles, was ich wissen wollte“ auch „viel, von dem ich noch überhaupt nichts wusste“ umfasste, ging es Coltrane vielleicht nicht so sehr um bestimmte Phrasen oder Akkordwechsel, an denen er sich orientieren konnte, sondern um weit größere Bereiche des Musizierens, die er noch gar nicht bedacht hatte. Es wurde eine Art Seminar mit dem Ziel, einen schlafenden Riesen zu wecken Monk schenkte ihm bereitwillig seine Zeit. Sie verbrachten in jenem Sommer oft ganze Tage miteinander.

      Monk konnte Coltrane besser den Spiegel vorhalten als sonst jemand. Monks eigener Stil war herausragend und beeindruckend. Aber es war nicht sein Stil, der Coltrane beeinflusste; es war die in Töne gefasste Andeutung unbegrenzter Möglichkeiten in Monks Kompositionen, Arrangements und Improvisationen, die Coltrane die Augen dafür öffnete, was er bereits spielen konnte. Benny Golson bestand darauf, Monk sei „für John nur ein weiteres Eisen im Feuer“ gewesen. „Er wusste schon ganz genau, wohin er wollte.“

      Die A-Teile in den zweiunddreißigtaktigen Monk-Stücken jener Periode sind ziemlich ungewöhnlich. Die harmonische Bewegung der Mittelteile (der B-Teile) noch viel mehr. Manchmal ist es nur eine Frage von Umsetzung und Stimmführung der Akkorde auf dem Instrument: Ohne die funktionelle Harmonie an sich zu beeinträchtigen, stellen die Akkorde der linken Hand die harmonischen Beziehungen auf den Kopf und zwängen den Saxofonisten, der mit ihm spielt, in die engen Grenzen des Komponisten. „Bei Monk musste ich immer scharf aufpassen“, sagte Coltrane. „Denn wenn man einmal nicht darauf achtete, was gerade geschah, fühlte man sich plötzlich so, als betrete man einen leeren Fahrstuhlschacht.“

      Wenn er selbst seinen großen Auftritt gehabt hatte, ließ Monk Coltrane freie Bahn, verließ manchmal sogar die Bühne und ließ die Band bis zu zwanzig Minuten am Stück spielen. Noch mehr als das, was Miles getan hatte, war dies kein Unterricht, sondern Nachhilfe; es war die Instruktion mittels einer Hypothese: „Stell dir vor, du könntest ein Musiker sein, der solchen Anforderungen gerecht wird.“ Entweder wegen seiner größeren Verantwortung oder auch aus einem anderen Grund wechselte Coltrane während seiner Zeit bei Monk das Rohrblatt. Nachdem er sich daran gewöhnt hatte, ein sehr hartes Blatt zu benutzen, nahm er nun weichere. Dadurch eröffnete sich ihm eine größere Flexibilität für sein Spiel. Es ist spürbar, wie er sich auf einmal in der Musik wohl fühlt.

      Als er sich von seinen frühen Helden Lester Young, Charlie Parker und Dexter Gordon erst einmal losgesagt hatte, begann Coltrane, auf eine eher indirekte Art und Weise zu lernen, anstatt wie bisher nur seinen Vorrat an Phrasen zu vergrößern. Dasselbe gilt für seine Zeit bei Miles Davis. Coltrane erzählte Valerie Wilmer, dass ihm Miles vermittelt habe, „die Einfachheit zu schätzen“, und dass er, bevor er sich dessen Band anschloss, davon geträumt habe, so Saxofon zu spielen wie Miles Trompete. „Aber als ich dann bei ihm einstieg, begriff ich, dass ich niemals so würde spielen können“, erklärte er. „Ich glaube, das war es, was mich in die entgegengesetzte Richtung gehen ließ“ – hin zu Mosaiken aus Sechzehntelnoten, hin zu hoch aufgetürmten Akkordgebilden.

      Wenn man diesen Gedanken weiterdenkt, wird klar, dass es nicht nur Monks individueller Solostil allein war, der in jenem Sommer die Verwandlung bei Coltrane herbeiführte. Es war Monks Abwesenheit: die Momente, wenn er vom Piano aufstand und wegging oder im Kreis herumlief, um die Musik aus verschiedenen Winkeln zu hören. Dabei ließ er Coltrane oft fünfzehn oder zwanzig Minuten allein und gab ihm so Zeit zur Improvisation mit Wilbur Wares Bass als einziger Harmoniebegleitung.

      Ein Klavier – oder eine Gitarre, ein Vibraphon oder ein beliebiges Akkordinstrument – liefert einen Bezugsrahmen für ein monophones Instrument wie das Saxofon, das immer nur jeweils einen einzigen Ton spielen kann. Der Saxofonist muss sich stets innerhalb der vorgegebenen Logik der Klavierakkorde bewegen. Nimmt man das Klavier weg, hat er größere Freiheit, seine eigenen Harmonien zu schaffen.

      Ware war zudem offener als jeder andere Bassist, mit dem er zuvor gespielt hatte. „Ein Bassist wie Ware, der ist sehr innovativ, Mann“, erklärte Coltrane im Juni 1958 August Blume. „Er spielt nicht immer den dominanten Ton … Er spielt manchmal irgendwie anders herum. Er spielt Sachen, die irgendwie fremd sind. Wenn man nicht wüsste, was für ein Song es ist, könnte man ihn nicht erkennen, weil er ihm ein ganz anderes Gesicht gibt, er spielt um ihn herum oder darüber oder darunter oder sonstwas … Manchmal spielte er abgewandelte Akkordwechsel, dann spielte ich abgewandelte Akkordwechsel. Daraufhin spielte er wieder irgendwelche anderen Abwandlungen von den Folgen, die ich gerade gespielt hatte. Keiner von uns beiden spielte die eigentlichen Akkordwechsel des Stückes, bis wir zu einem bestimmten Punkt kamen – wenn wir zusammen dorthin kamen, hatten wir jedenfalls Glück.“

      Was Monk betraf, erzählte Coltrane weiter, so bewege sich dieser mit seinem Spiel aus Überzeugung jenseits aller Konventionen. „Er macht da hinten ständig irgendetwas, das äußerst geheimnisvoll klingt“, sagte er. „Wenn man aber einmal weiß, was er da tut, hat es überhaupt nichts Geheimnisvolles mehr an sich. Es sind ganz simple, kleine Sachen, wie einfache Wahrheiten. Er nimmt zum Beispiel einen Akkord, einen Durakkord … einen Mollakkord, und lässt die Terz raus. Ja, und dann sagt er: ,Das ist ein Mollakkord, Mann!‘ Ich sage: ,Da fehlt doch die kleine Terz, man kann doch gar nicht wissen, was es ist.‘ Er sagt: ,Woher will man wissen, dass es kein Mollakkord ist? Genau das ist es nämlich, ein Mollakkord, in dem die kleine Terz fehlt.‘ Und wenn er das Ding dann spielt, Mann, dann sitzt es genau an der richtigen Stelle und ist genau so intoniert, dass es wie ein Mollakkord klingt.“

      So eingehend Monk Coltranes Fragen über Musik beantwortete, so indirekt war sein Führungsstil als Bandleader. Das Monk Quartet mit John Coltrane nahm insgesamt drei Songs auf, die später auf Thelonious Monk With John Coltrane veröffentlicht wurden. Die Platte deutete an, was sich musikalisch tat, wenn sie auch die Atmosphäre der allabendlichen Konzerte im Five Spot nicht annähernd einzufangen vermochte.

      Zumindest Monks „Trinkle Tinkle“ vermittelt jedoch einen recht guten Eindruck davon. Es ist eines von Monks


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