Der Iceman. Anthony Bruno

Der Iceman - Anthony Bruno


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hatten eine neue Uhr bekommen, nur er nicht.

      Am nächsten Tag ging er nach der Schule zum Krämerladen an der Ecke und war entschlossen, sich selbst etwas zu seiner Firmung zu kaufen. Fast einen Dollar besaß er in Kleingeld, und dort hatte er Armbanduhren für 79 Cent gesehen, die auf einem Pappkarton befestigt über der Regi­strierkasse hingen. Mit heftig klopfendem Herzen zählte er seine Münzen auf die Theke. Der Mann nahm das Pappstück herunter, damit er sich eine aussuchen konnte, obwohl alle gleich waren, zog sie für ihn auf, stellte die Zeit ein und sagte: »Viel Spaß damit, Junge.« Stolz befestigte Richie sie an seinem Handgelenk und bewunderte sie.

      Beim Aufwachen am nächsten Morgen merkte er, dass die Uhr stehengeblieben war, und als er versuchte, sie aufzuzie­hen, hielt er plötzlich das Rädchen zwischen den Fingern. Er lief zum Laden, doch der Händler weigerte sich, sie zurück­zunehmen.

      Richie trug sie trotzdem, um wenigstens nicht der Einzige ohne Uhr zu sein. Aber ständig verfolgte ihn die Angst, Johnny würde sehen, dass sie nicht die richtige Zeit anzeigte, dass das Rädchen zum Aufziehen fehlte, das billige Band brüchig war und braune Flecken auf seiner Haut hinterließ. Er konnte direkt hören, was Johnny sagen würde und in welchem Tonfall, und vermutlich würde es auf eine weitere Tracht Prügel vor den Augen der ganzen Meute hinauslau­fen. Richies Herz raste, und er biss die Zähne aufeinander vor Angst und Wut, wenn er nur daran dachte.

      Dieser Dreckskerl und seine Bande hatten ihn jahrelang gepiesackt. Aber nun war Schluss. Er würde ihnen zeigen, dass niemand ihn mehr herumschubsen konnte. Von jetzt an nicht mehr.

      Angestrengt starrte er in die Dunkelheit. Dort, auf der anderen Seite des Hofs, würde Johnny um die Ecke des Gebäudes kommen. In letzter Zeit hatte er von dieser Ecke aus jeden Abend die anderen zu sich heruntergerufen. Dann standen sie im Hof, rauchten, rissen Witze und brüllten hinauf zu den Mädchen, die sie kannten, und sagten Schwei­nereien über sie. Manchmal rief Johnny auch zu ihm hinauf: »He, Polacke, schläfst du da oben? Oder tust du nur so, damit deine Mutter nicht merkt, dass du wichst?«

      Jeden Abend ging das so. Aber das würde aufhören.

      Plötzlich entdeckte er etwas und kniff die Augen zusam­men. Ein orangefarbener, glühender Punkt tauchte an der Ecke auf und kam in seine Richtung – eine brennende Ziga­rette. Richie drückte sich mit angehaltenem Atem an die Wand und umklammerte fest die Stange in seiner Hand. Sein Puls raste, doch diesmal bezwang er den Drang, davonzu­rennen. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Er wollte es Johnny zeigen und ihm ein für allemal eine Lektion erteilen.

      Hinter dem orangeglühenden Punkt schimmerte jetzt ein Gesicht. Die kleinen dunklen Augen, das widerliche Grin­sen – Johnny. In einer Wolke von Zigarettenrauch schlenderte er heran und war überrascht, Richie zu sehen, aber gleich­zeitig freute es ihn, sein Lieblingsopfer im dunklen Hof allein anzutreffen.

      Ein paar Schritte vor ihm blieb er stehen, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und betrachtete ihn abschät­zig. »Was machst du hier draußen, du blöder Polacke? Hast du Lust auf eine Abreibung, oder was?« Er lachte anzüglich.

      Richie antwortete nicht. Er konnte kein Wort herausbrin­gen. »Mann, ich rede mit dir, Polacke. Ich hab gefragt, was du hier treibst.«

      Sein bösartiger Ton ließ Richie zusammenzucken. Das passierte ihm jedesmal.

      »Mach’s Maul auf, Polacke, oder ich trete dir deine drecki­gen Zähne ein.«

      Er kam näher, und Richie hob automatisch die Stange.

      Johnny wich zurück. »Was willst’n damit, Blödmann?«, grinste er.

      Richie blieb stumm und rührte sich nicht.

      »Was ist? Spielst du hier Hockey, Polacke?«

      Er griff nach der Stange, um sie ihm wegzunehmen, aber Richie zog sie hastig zurück.

      »Gib mir das Ding«, fuhr Johnny ihn an und sprang auf ihn zu.

      Es passierte ganz automatisch. Er traf ihn an der Wange – nicht fest, aber er hatte ihn getroffen. Richie war darüber noch entsetzter als Johnny und wäre am liebsten losgerannt, doch er konnte nicht, und tief im Innern wollte er es auch gar nicht. Er wollte diese Sache hinter sich bringen. Er wollte diesem Ekel zeigen, dass ihn keiner mehr herumschubsen konnte.

      Der Junge funkelte ihn wütend an und hielt sich die Wange. »Du Miststück«, flüsterte er. »Du dreckiges kleines Miststück.« Mit einem Satz wollte er sich von neuem auf ihn stürzen.

      Diesmal holte Richie richtig aus. Johnny hob die Hand, um den Schlag abzublocken, und bekam ihn mit voller Wucht auf den Unterarm. Er jaulte auf und presste den schmerzenden Arm fluchend an sich.

      Hastig schlug Richie noch einmal zu und traf seinen Kopf. »Mann! Lass das!«

      Johnny brüllte lauthals und bettelte ihn an, aufzuhören; doch Richie schlug weiter und weiter. Er hob die schwere Stange hoch, ganz hoch und ließ sie auf den Rücken seines Peinigers hinuntersausen, wie man es auf dem Rummelplatz beim Hau-den-Lukas machte, damit die Glocke ordentlich läutete. Er wollte, dass Johnny den Mund hielt. Die anderen aus der Bande würden ihn sonst noch hören und ihm zu Hilfe kommen. Er sollte endlich still sein!

      »Halt’s Maul«, stöhnte er durch zusammengebissene Zäh­ne. Aber Johnny schrie unaufhörlich, hilflos wie ein Mäd­chen, und Richie schlug immer weiter zu, so fest er nur konnte, und plötzlich verspürte er etwas, das er in seinem ganzen Leben noch nie empfunden hatte: Macht. Jeder neue Schlag verstärkte dieses Gefühl, bis er Johnny, der keine Gegenwehr mehr zeigte, auf die Knie fallen sah. Es war ein wunderbares Gefühl, das ihn völlig berauschte. Unerbittlich hieb er auf Johnnys Kopf ein. Er konnte nicht mehr aufhören. Heute wollte er es ihm zeigen, damit er endlich kapierte, dass niemand Richard Kuklinski herumstieß. Niemand. Kein Mensch.

      Als er schließlich innehielt, lag Johnny flach auf dem Boden, und es war schwer, ihn in dieser Position noch richtig zu treffen. Keuchend beugte er sich über ihn und wartete, ob Johnny noch mal aufstand. Er war erschöpft, aber er fühlt sich unendlich gut und richtig mächtig. Er hatte es Johnny gezeigt. Keiner aus der ganzen Bande würde es jetzt noch wagen, sich mit ihm anzulegen. Er hatte es allen gezeigt.

      Langsam stieg er die Treppen hinauf zu seiner Wohnung und hängte die Stange wieder in den Schrank, dann ging er ins Bett. Eine Weile lag er noch wach und genoß die Erregung seines Triumphs, ehe er in einen tiefen Schlaf sank.

      Am nächsten Morgen brüllte seine Mutter an der Schlafzim­mertür, er solle endlich aufstehen, es sei Zeit für die Schule. Richie hatte tief und fest geschlafen und wenig Lust, sich schon zu rühren, aber der Klang von Männerstimmen, der von draußen hereindrang, lockte ihn ans Fenster. Im Hof parkten Polizeiautos. Mindestens ein Dutzend Beamte stan­den dichtgedrängt an der Backsteinwand, wo er Johnny gestern abend liegengelassen hatte. Zahlreiche Leute aus dem Wohnblock waren ebenfalls dort unten – die üblichen Wichtigtuer, die natürlich schleunigst herausfinden wollten, was da los war. Ein paar Kinder aus Johnnys Bande redeten mit den Bullen, und er sah, dass eines stirnrunzelnd den Kopf schüttelte.

      »Richie, du kommst zu spät!«, schrie seine Mutter aus der Küche.

      »Was ist da draußen los?«, brüllte er zurück.

      »Was?«

      »Draußen. Im Hof.«

      »Kennst du diesen frechen Bengel von unten? Irgend jemand hat ihn gestern Nacht umgebracht. Jetzt mach voran und zieh dich an, oder du kannst das Frühstück vergessen.«

      Benommen starrte er hinunter in den Hof. Johnny war tot? Das hatte er nicht gewollt, ganz bestimmt nicht. Er hatte ihm bloß eine Lektion erteilen wollen, mehr nicht. Er hatte ihn doch nicht töten wollen!

      »Richard! Bist du endlich angezogen?«

      Voller Angst, dass die Bullen hochschauen und ihn sehen würden, trat er hastig vom Fenster zurück. ln seinem Bauch hatte er plötzlich krampfartige Schmerzen. Er schlich hinaus in den Flur, öffnete leise die Schranktür und inspizierte die Stange. Nirgends war Blut zu sehen. Vielleicht hatte er John­ny gar nicht getötet. Vielleicht war es jemand anderer gewe­sen,


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