Der Iceman. Anthony Bruno

Der Iceman - Anthony Bruno


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spielte er mit. Erst Monate später beichtete sie ihren Eltern, dass sein richtiger Name Kuklinski sei.

      Barbara warf Brotstücke ins Wasser und dachte mit einem versonnenen Lächeln an diese Zeit zurück, als Richard noch hager gewesen war, schüchtern und stets rücksichtsvoll. Sie erinnerte sich an die Wochen nach der Geburt ihrer ältesten Tochter Merrick. Das Baby hatte eine Niereninfektion bekommen, und Richard hielt Nacht für Nacht bei ihr Wache. Er saß neben der Wiege, mit der Hand auf Merricks Rücken, um sie zu wärmen, beobachtete ihr Atmen, säuberte sie, wenn sie sich erbrach, und wechselte die Windeln.

      Barbara wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Es gab viele kostbare Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben. So manche gute Zeiten hatten sie zusammen gehabt, sehr gute sogar. Sie seufzte, und ihr Lächeln verschwand. Es hatte aber auch andere Zeiten gegeben.

      Wenn es nicht so lief, wie Richard es sich in den Kopf gesetzt hatte, konnte er ein ausgemachtes Scheusal sein. Nach 25 Jahren Ehe wusste Barbara instinktiv, wann dies der Fall war. Sie konnte es förmlich wittern. In ihrer Vorstellung gab es eigentlich zwei Richards – den guten Richard und den bösen, und sie hatte das schreckliche Ge­fühl, dass im Augenblick der böse neben ihr saß.

      Allerdings war sie nicht ganz sicher, aber das konnte man nie sein – bis es zu spät war. Sie ließ sich oft genauso täuschen wie die Kinder, da ihm nie etwas anzumerken war, wenn er aus irgendeinem Anlass wütend wurde. Wochenlang unter­drückte er seinen schwelenden Zorn, und plötzlich erfolgte aus heiterem Himmel ein Ausbruch, bei dem er stundenlang ohne Ende schrie und tobte. In solchen Situationen war es das Beste, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch für Barbara war das kaum möglich. Den Kindern wurde üblicherweise das Schlimmste erspart, aber sie musste dasitzen, ihm zuhören und es einfach irgendwie ertragen. Das war die einzige Möglichkeit. Sie wusste aus Erfahrung, welche Folgen es haben konnte, ihn etwa stehenzulassen.

      Barbara berührte automatisch ihre Nase und dachte daran, wie sie zum dritten Mal gebrochen gewesen war. Hastig zog sie ihre Hand zurück, nahm ein Stück Brot aus der Tasche und begann es zu zerbröckeln, da sie befürchtete, er könne ihre Gedanken erraten.

      Im Laufe der Jahre hatte sie versucht, die schrecklichen Dinge, die der böse Richard ihr angetan hatte, zu vergessen oder wenigstens irgendeine plausible Erklärung dafür zu finden, die ihr helfen würde, damit fertig zu werden, aber sie konnte sich nicht selbst belügen. Es war schwer, Narben, die man im Spiegel sah, zu vergessen oder die Minuten voller Angst, wenn man mitten in der Nacht aus tiefem Schlaf erwachte und spürte, dass einem ein Kissen auf’s Gesicht gedrückt wurde, oder man aus der Dusche kam und vom eigenen Ehemann im Schlafzimmer mit gezückter Waffe erwartet wurde. Nein, sie konnte es nicht vergessen, und es war auch nicht vernünftig zu erklären. Trotzdem würde sie niemals irgendwelche dieser Vorfälle zur Sprache bringen. Das wagte sie nicht.

      Es wäre genauso, als würde man Richard fragen, was er beruflich tat. Sie wusste, dass er sich mit irgendwelchen inter­nationalen Finanzgeschäften befasste, weil zu allen Tages­- und Nachtzeiten aus der ganzen Welt Anrufe ins Haus kamen; außerdem traf er sich hier und da mit Geschäftspart­nern. Aber etwas Genaueres hatte sie nie erfahren, und sie wollte es auch gar nicht. Wenn Richard um drei Uhr morgens aufstand, sich anzog und wegging, stellte sie sich schlafend. Gelegentlich erzählte er ihr von irgendwelchen Leuten, mit denen er zu tun hatte, aber das war etwas anderes. Grund­sätzlich hütete sie sich vor Fragen. Es war besser so. Sie wusste, dass ihr Ehemann kein Engel war, und da er für seine Familie sorgte, vermied sie jede unnütze Neugier. Das hätte nur bedeutet, Schwierigkeiten heraufzubeschwören.

      Sie warf die Brotstückchen ins Wasser und musterte ihn mit einem verstohlenen Blick. Er schaute wieder über seine Schulter hinüber zum Telefon. Offenbar wollte er sicherge­hen, dass keiner es benutzte, falls er plötzlich jemand anrufen musste. Nur Gott mochte wissen, was er tun würde, wenn irgendein armer Teufel daherkam und versuchte, sein Tele­fon in Beschlag zu nehmen.

      Plötzlich ertönte Richards Pieper, und die Enten zu ihren Füßen stoben erschrocken davon. Er löste das Gerät von seinem Gürtel und musterte die Anzeige. Richard war ganz fasziniert von diesem neuen Spielzeug. Seit er diesen Pieper hatte, schaltete er daheim den Anrufbeantworter nicht mehr ein und ging nie mehr ohne dieses Ding irgendwohin. Sogar im Haus trug er ihn bei sich.

      Richard stand von der Bank auf.

      »Wer ist es?«, fragte sie, obwohl es sie eigentlich nicht interessierte. Sie wollte einfach, dass er bei ihr blieb und sich entspannte, so wie immer.

      Er schaute durch die dunklen Brillengläser auf sie herab. »John.«

      »Ach so«, nickte sie und wandte sich wieder den Enten zu, während er davonging.

      Richard hatte früher nie von hier aus Telefonanrufe erle­digt. Der Ententeich war immer ein geheiligter Platz gewe­sen. Diese Zeit gehörte nur ihnen allein. Hier hatte der gute Richard seine Batterien neu aufladen können. Manchmal waren sie jeden Tag hergekommen. Sie frühstückten irgend­wo gemeinsam, gingen dann zum Teich, hielten Händchen, fütterten die Enten und saßen ruhig und einträchtig schwei­gend nebeneinander. Richards Benehmen war stets tadellos zuvorkommend. Wenn es kalt wurde, legte er eine Decke für sie auf die Bank, breitete eine andere über ihren Schoß aus und polsterte mit einem Kissen die Rücken­lehne. Er war rührend um sie besorgt. Es gab nichts Wichtige­res für ihn als sie. Das war das ganze Problem.

      Richard war besessen von ihr. Er wollte in jedem einzelnen Moment wissen, wo sie war, und deshalb wollte er sie ständig zu Hause bei sich haben. Die vergangenen Jahre hatte sie bei einer Telemarketing-Firma gearbeitet. Zunächst war der Job kaum der Rede wert gewesen, aber sie hatte sich hochgear­beitet bis zur Schichtleiterin und hatte Spaß an ihrem Beruf. Es war der erste Job, den sie seit der Hochzeit ange­nommen hatte, und durch ihn hatte sie ein ganz neues Selbstwertgefühl gewonnen. Aber Richard hasste diesen Job.

      Er bedrängte sie zu kündigen und versuchte, sie unter Druck zu setzen. Wiederholt strich er um das Gebäude herum, spähte durch die Fenster und spionierte ihr nach. Eines Abends holte er sie ab und sah einen Kollegen, der zufällig mit ihr gemeinsam zum Parkplatz ging. Der Mann bedeutete ihr absolut nichts, es war einfach jemand, mit dem sie zusam­menarbeitete, aber als sie in den Wagen stieg, trug Richard seine dunkle Brille. Wenn sie nicht sofort kündige, meinte er nüchtern, würde ihrem ›Freund‹ etwas Schlimmes passie­ren. Sie wusste, dass es ihm ernst war, und gab am nächsten Freitag ihre Stelle auf. Das war vor sechs Wochen gewesen.

      Es ließ sich schwer sagen, ob diese wahnwitzige Eifersucht eine Seite des guten Richards oder des bösen war. Vermutlich gehörte es ein wenig zu beiden. Er liebte sie wirklich – daran hatte sie keinen Zweifel, aber es war eine beinahe abartige Liebe.

      Er verlangte in allem Perfektion und wollte, dass seine Familie dem Bild der perfekten amerikanischen Familie entsprach. Nichts machte ihn glücklicher, als gemeinsam etwas zu unternehmen. Wenn sie alle gut angezogen in ein nettes Restaurant ausgingen, platzte er vor Stolz und Freude. Aber inzwischen waren die Kinder älter – Merrick war einund­zwanzig, Christen zwanzig, und Dwayne war in der Ab­schlussklasse der Highschool –,

      und sie hatten alle ihr eigenes Leben. Sie wollten mit ihren Freunden zusammen sein, nicht mit den Eltern – wenigstens nicht andauernd, was für Richard völlig unverständlich war. Es traf ihn tief, wenn eines der Mädchen es ablehnte, mit ihm femzusehen, weil sie etwas anderes vorhatte. Er begriff nicht, dass die Kinder erwachsen wurden und auf eigenen Füßen stehen wollten. Barbara fürchtete sich vor dem Tag, wenn sich eines von ihnen entschied, das gemeinsame Nest zu verlassen. Das würde nicht ohne Auseinandersetzung abgehen.

      Aber wenigstens war er ihnen gegenüber nie handgreiflich geworden, auch wenn er sie sicher oft auf andere Weise verletzt hatte. Selten fand er ein Wort der Anerkennung: Hatte es Zeugnisse gegeben, lobte er sie nie für die Einsen, sondern schimpfte über die Zweien. Doch das entsprach Richards Lebenseinstellung: Das Glas war immer halb leer und nichts, absolut nichts, war gut genug. Nicht für ihn.

      Aus diesem Grund war ihm Geld so wichtig. »Es sind die Scheinchen, worauf’s ankommt, Baby«, sagte er stets zu ihr. Geld war das Einzige, das ihn glücklich machte – Geld und was man sich damit leisten konnte. Er liebte es einzukaufen – Kleider von Christian


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