The Rolling Stones. Stanley Booth

The Rolling Stones - Stanley Booth


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Vorbote einer zukünftigen Flutwelle zu sein. Das war eine Illusion, eine gefährliche Selbsttäuschung. Die Zeit hat uns eines anderen belehrt. Aber wenn die Rolling Stones heute wie so viele Bands, die ihnen nach­geeifert haben, nicht mehr sind als ein Produkt, ein Unterhaltungspaket, dann sind sie tatsächlich trivial und belanglos, außer vielleicht in irgend­einem soziologischen Sinn.

      Um, wie Mick sagen würde, brutal ehrlich zu sein: Ich hasse es, die Rolling Stones dieser Tage bei der Arbeit zu sehen. Vielleicht ist hassen nicht das richtige Wort – aber der Vergleich mit der Vergangenheit ist ekelhaft und beschwört Erinnerungen an jenen sprichwörtlichen Indianer her­auf, der gesagt hat: „Vor langer Zeit gut –jetzt ein Haufen Scheiße.“ Jeder für sich genommen sind sie vermutlich nach wie vor wundervoll – zu­mindest Keith Richards und Charlie Watts. Aber die enormen Stadien, in denen die Stones auftreten, der unvermeidlich schwammige Sound, der Leviathan ihrer Bühnenmaschinerie, die leere Präzision, der Mangel an Spontaneität und die Tatsache, dass weder auf noch vor der Bühne getanzt wird – das alles zieht doch mächtig runter. Man gibt am Eingang sein Ticket ab und schon steckt dir jemand ein Flugblatt zu oder ein Antrags­formular für das Zungen-Logo der Rolling Stones, von Visa oder Mastercard. Die Nato sollte mit den Rolling Stones einen Vertrag schließen, die Zunge auf Panzer kleben, auf Flugzeugträger und auf Bomber und da­durch wahnsinnigen Militärausgaben mehr Popularität verschaffen. Da er den letzten Funken von moralischer oder sozialer Bedeutung verloren zu haben scheint, so dass er auf keinen Fall mehr gegenkulturell ist, könnte sich der Rock ’n’ Roll als weit offener Sesam für ein Nirwana von Firmen-Sponsoring herausstellen – Designer-Drinks, Designer-Kleidung, modi­sche Accessoires, Jeans und Waffen werden zum Ruhme Gottes und der Menschheit an Krisenherde verschickt. Sony und Mitsubishi präsentieren im Verbund mit Boeing, Lockheed, Deutsche Grammophon und Disney den neuen Kassenknüller im Entertainment-Bereich – Titel: „Der Zu­sammenbruch der westlichen und östlichen Zivilisation“. Eine Armee von Soldaten, die wie Michael Jackson aussehen, kämpft gegen ein Heer von Prince-Klonen. Beide werden von Madonna-Kopien niedergemacht. Mi­chael verliert Lisa Maria zur Hauptsendezeit an Madonna.

      Es ist eine andere Welt. Im November 1994 hat in Atlanta irgendein widerliches Trio, dessen Namen ich bis heute nicht weiß, die Show für die Rolling Stones eröffnet, gefolgt von dem durch und durch mittelmäßigen Bryan Adams. Ein paar Tage später traten in Gainesville die Spin Doctors im Vorprogramm auf. Ich habe nur einen Song der Doctors gesehen, aber das genügte mir. Vor fünfundzwanzig Jahren eröffnete der mittelmäßige Terry Reid die Show, aber nach ihm kamen wenigstens Chuck Berry oder B. B. King oder Ike & Tina Turner. Damals haben die Stones allerdings vor vielleicht fünfzehntausend Leuten gespielt und nicht vor fünfzigtau­send. Die Musik war das Wichtigste, und sie musste nicht mit aufblasba­ren Menagerien, gigantischen Jukebox-Lichtern, feuerspeienden Me­talldrachen, Videoshows und Feuerwerken in Konkurrenz treten. Micks bedauerliche Annahme, er müsse ein ungeheures Spektakel präsentieren, entwickelt sich zum Bumerang, indem er von einem riesigen, über ihm hängenden Gummi-Elvis in den Hintergrund gedrängt wird.

      Wenn man die Stones in B. B. Kings Club auf der Beale Street oder ins „Fox Theater“ in Atlanta oder in ein Lokal von der Größe des „Star Clubs“ in Hamburg stellt, dann werden sie immer gut sein, solange sie be­stehen – überall dort, wo sie nicht als Miniaturfiguren auf der Bühne er­scheinen. Keith meinte, wenn die Leute dereinst die enorm großen Ver­anstaltungsorte nicht mehr füllen, dann könnten die Stones wieder in klei­nerem Rahmen spielen. Ich kann es kaum erwarten.

      Doch einmal abgesehen vom Ruhm, ihrer Berühmtheit und ihrem ge­genwärtigen Zustand – die Stones haben in ihrer besten Zeit großartige Musik gemacht. Als es den Anschein hatte, dass Musik mehr als Unter­haltung war, standen sie auf der Seite des Volkes und nicht auf der Seite der Autoritäten. Die musikalische Tradition, aus der die Rolling Stones kommen, nimmt Rassismus oder Todesstrafe, die Einstellung eines Fa­brikbesitzers oder Arbeiters ebenso wie Militarismus zwar zur Kenntnis, weigert sich aber, sie als gerecht und richtig zu akzeptieren. Trotz der pa­triotischen Trommelschläge und Hornsignale von Furry Lewis und trotz Woody Guthries Gitarre mit der legendären Aufschrift „Diese Maschine killt Faschisten“. Der Blues versteht und verteidigt manchmal sogar einen Mord – aber niemals staatlich sanktioniertes Meucheln. Diese Tradition ist natürlich ein Zweig des Romantizismus, aber in einer besonders be­eindruckenden Form, mit exaltierter Sprache, dramatischen Situationen, epischen Visionen. „Ich wasch’ mein Gesicht im Golf von Mexiko“, hat Furry gesungen, „erwach’ dann tausend Meilen tiefer.“ Als Allen Ginsberg Furry traf, komponierte und sang er für ihn eine spontane Ode, die mit den Worten begann: „We thank you, o King“. Heutzutage, da die Musik (wieder einmal) nichts als Unterhaltung zu sein scheint, kann man den Stones wirklich keinen Vorwurf machen. Es hätte einer Omnipotenz be­durft, der kein Künstler jemals fähig ist, um von den Fluten der Verände­rungen unbeeinträchtigt zu bleiben. Sie sind auch keineswegs die einzigen Künstler, die zusehen müssen, wie ihre Kunst durch den Erfolg untergra­ben und durch Abnutzungserscheinungen zumindest teilweise ihrer Bedeu­tung beraubt wird. Der in der gesamten Szene festzustellende Verlust von Inhalten lässt auch die Musik der Stones im Regen stehen. Jerry Garcia von den Grateful Dead entwarf Krawatten, die unter anderem auch Präsident Clinton trug. Aretha Franklin, deren Version von Otis Reddings „Respect“ vor sozialer Bedeutung nur so zu strotzen schien, ist zu einem matronenhaften Aushängeschild geworden, und zwar für „den Herzschlag Amerikas – den aktuellen Chevrolet“. Bob Dylan hat den Steuerberatern und Buch­führern der Firma Coopers & Lybrand die Verwendung von „The Times They Are A-Changin‘“ gestattet. Die Zeiten haben sich in der Tat geändert.

      Dennoch scheint es bedauerlich, dass es heute junge Leute gibt, Leute unter dreißig, die sich als Fans der Rolling Stones betrachten und die es nach ihrem ganzen äußeren Erscheinungsbild sicher auch sind, die aber keinerlei Vorstellung davon haben, was das in moralischer und histori­scher Hinsicht einmal bedeutet hat. Dafür können sie nichts, denn man kann niemand den Vorwurf daraus machen, er habe die moralische Bot­schaft nicht mitgekriegt, wenn diese Botschaft schon vor langer Zeit ausra­diert wurde. Ein unheilvolles, jedoch nicht linksrevisionistisches Gedan­kenmuster ist nicht nur in Amerika in letzter Zeit klar ersichtlich gewor­den, wo Leute, die zu jung sind, um ihn als den verschwitzten, ratlosen Halunken erlebt zu haben, der er immer gewesen ist, eine Figur wie Ri­chard Nixon für brillant halten – einen Mann, den man bestenfalls als machiavellisch bezeichnen könnte. Diese Leute preisen auch seine romanti­sche Verklärung von China, die nur eine eher scheinbare denn reale Ab­kehr von seiner normalerweise gepflegten, käuflichen Lebensführung dar­stellte – obwohl doch rechtslastige amerikanische Präsidenten in Wirk­lichkeit selten ein Problem damit hatten, Diktatoren anzuerkennen, im Iran, in Taiwan, in Korea, Portugal, Spanien, Vietnam, Nicaragua, auf den Philippinen, in vielen Ländern, weil sie einander so sehr gleichen. Zu­mindest hat Nixon, im Gegensatz zu Mao, gebadet und sich die Zähne ge­putzt.

      Nichtsdestotrotz ist es eine Wahrheit, dass niemand zugleich Nixon – oder eine lange Liste von anderen historischen Arschlöchern – und die Rolling Stones sowie die Tradition, für die sie stehen, schätzen kann. Bill Clinton andererseits steht so offen und ehrlich zur Tradition der Rolling Stones, dass es geradezu ein Wunder ist, dass er gewählt wurde. Die radi­kale religiöse Rechte in den Vereinigten Staaten betet in demselben süßen christlichen Geist für seine Ermordung, in dem sie einmal die Platten der Beatles und der Rolling Stones verdammt und den Flammen der Hölle übergeben hat. Jene fleischfressenden Pflanzen namens Gier, Intoleranz, Paranoia, Selbstverherrlichung – alles Feinde des Heiligen Geistes, der durch die Poeten wie zum Beispiel Rilke und auch die Meister des Blues spricht – sterben niemals, kommen nie außer Mode. Die Phase in den Sixties, als es schien, dass Menschen tatsächlich völlig selbstlos das Beste für so viele Mitmenschen wie möglich wünschen könnten, war nur ein Me­dienspektakel. Der Impuls, der zu Altamont führte, war aufrichtig, aber die feste Absicht, etwas Neues in der Gesellschaft zu kreieren, wurde von unserer Angst vor Gewalttätigkeit überwältigt, so dass wir die Frage, wie man asoziale Aktivitäten im Zaum hält, wie man mit ihnen umgeht, un­beantwortet ließen. Fehlschlag.

      Dennoch müssen wir kämpfen. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, hat Jesus gesagt. „Die, die gehen, steigen in den gottverdammten Zug“, sagte William Faulkners Boon Hogganbeck. „Die, die nicht gehen, machen den


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