The Rolling Stones. Stanley Booth

The Rolling Stones - Stanley Booth


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Familie zu akzeptieren. Werden wir sie nüt­zen? Ja und nein. Die Kreuzigung geht weiter.

      Was auch immer sie heute sind oder in der Zukunft vielleicht sein wer­den – als sie jung waren, haben sich die Rolling Stones oft schon dadurch, wer sie waren, was sie waren, wie sie lebten und woran sie glaubten, in Gefahr begeben. In jenen Jahren begleitete ich sie. Manche Zeitzeugen haben diese Ära überlebt, andere nicht. Dies ist die Geschichte jener Tage, als beide, die Welt und die Stones, noch jünger waren und als die Bedeu­tung der Dinge noch klarer war oder zumindest klarer zu sein schien.

      Vor fast einer Ewigkeit.

      Brunswick, 1995

      STANLEY BOOTH

      The Killing Ground

      See the way he walks down the street

      Watch the way he shuffles his feet

      Oh, how he holds his head up high

      When he goes walkin’ by

      He’s my guy

      When he holds my hand I’m so proud

      ’Cause he’s not just one of the crowd

      My baby’s always the one

      To try the things they’ve never done

      And just because of that they say

      He’s a rebel

      And he’ll never ever be

      Any good

      He’s a rebel

      ’Cause he never does

      What he should

      Gene Pitney: „He’s a Rebel“

      Es ist spät. All die kleinen Schlangen schlafen. Die Welt außerhalb des Autofensters ist schwarz bis auf die staubige, von den Scheinwerfern erhellte, unbefestigte Straße. Weit von der Stadt entfernt, nach den letzten Kreuzungen, wo sie in England die Selbst­mörder mit Holzpfählen durch ihre Herzen begraben haben, sind wir auf der Suche nach einer eigenartigen kalifornischen Hügellandschaft, wo wir IHM begegnen und vielleicht sogar mit ihm in seinen zerfetzten, blutigen Kleidern tanzen könnten: kommt und spielt.

      Eine Bahnüberführung öffnete sich vor uns in den freien Himmel; als wir sie hinter uns lassen, stoßen wir auf eine unbeschilderte Straßengabelung. Die Crystals sin­gen „He’s A Rebel.“ Der Fahrer blickt nach links, nach rechts, dann wieder nach links. „Der hat keine Ahnung, wo er hinfährt“, sagt Keith. „Sind Sie sicher, dass das der richtige Weg ist?“ fragt Mick. Ohne zu antworten, biegt der Fahrer nach links ab. Das Radio ist ziemlich laut. „Vielleicht hat er dich nicht gehört.“ Mick schließt die Augen. Natürlich haben wir uns verfahren, aber wir sind von vierzig Stunden ohne Schlaf so müde und mit jedem Moment weniger imstande, zu protestieren oder die Richtung zu ändern, dass wir in dieser schwarzen Cadillac-Limousine einfach weiter in die Unermesslichkeit des Raumes vordringen.

      „Da vorne ist irgend etwas“, sagt der Fahrer. Am Straßenrand parkt ein VW-Bus, ein deutscher Schäferhund ist mit einem Strick am Griff der Hintertür angebun­den. Als wir vorbeifahren, bellt er. Dann kommen weitere Autos und Busse. In man­chen halten sich Leute auf, die meisten sind aber auf der Straße, gehen in kleinen Grup­pen, tragen Schlafsäcke, Segeltuchrucksäcke und Babys oder führen noch mehr große, hässliche Hunde mit sich herum. „Steigen wir aus“, sagt Keith. „Verlieren Sie uns nicht“, trägt Mick dem Fahrer auf, der noch fragt: „Wo gehen Sie hin?“ Aber da sind wir fünf schon auf und davon, Ron „The Bag Man“, Tony „The Spade Heavy“, der „Okefenokee Kid“ und natürlich Mick und Keith, ihres Zeichens Rolling Stones. Die anderen in San Francisco verbliebenen Bandmitglieder schlafen inzwischen im Huntington Hotel, mit Ausnahme von Brian, der tot ist und deshalb, so sagen manche, nie­mals schläft.

      Die Straße fällt zwischen welligen Buckeln mit trockenem Gras ab. Es ist eine kahle Landschaft wie in den Szenen von Science-Fiction-Filmen der 50er Jahre, in denen Außerirdische den Teenager und seine vollbusige Freundin im geparkten Hot-Rod-Schlitten heimsuchen. Jetzt aber wimmelt es hier von jungen Leuten mit meist langen Haaren, die warme Kleidung, Jeans, schwere Army-Jacken anhaben – wegen der kühlen Luft der Dezembernacht, die uns wieder etwas belebt, während wir gehen. Mick trägt einen langen, burgunderfarbenen Überrock, und Keith hat einen vor lauter Schim­mel grün angelaufenen Nazi-Wintermantel aus Leder an. Morgen, oder genauer ge­sagt heute, in ungefähr sechzehn Stunden, wird er ihn in wahnsinniger, blinder Panik zurücklassen, um diesen Ort schnell zu verlassen, zu dem wir jetzt leichthin stolzieren. Mick und Keith lächeln. Es macht ihnen Spaß, dass sie die Macht haben, diese Men­schenansammlung Wirklichkeit werden zu lassen, nur indem sie ihren dementsprechen­den Wunsch artikulierten. Und noch mehr gefällt ihnen, dass sie die Freiheit besitzen, genau wie jeder andere diesen starkfrequentierten, ausgedörrten Weg entlangspazieren zu können. Man hört Gelächter und leise Gespräche innerhalb einzelner Grüppchen, aber kaum Konversation darüber hinaus, obwohl es scheint, dass niemand von uns ein Fremder ist. Jeder trägt die Zeichen, die Insignien der geschlagenen Schlachten, die uns an diesen verlassenen Ort am westlichen Abhang der Neuen Welt verschlagen haben, lange bevor die meisten von uns dreißig geworden sind.

      „Tony, besorg uns einen Joint“, bittet Keith, und bevor wir zwanzig Schritte wei­ter sind, hat sich der schwarze, hünenhafte Tony zurückfallen lassen und zu einem paf­fenden Jungen gesellt, der ihm den Joint gibt und sagt: „Behalt ihn.“ Also rauchen wir und folgen dem Pfad in einen Talkessel hinunter, wo die Buckel sich zu niedrigen Hügeln strecken, die schon von Tausenden Menschen bevölkert sind, die sich um La­gerfeuer versammeln. Manche schlafen, manche spielen Gitarre, manche reichen etwas zum Rauchen und große, rote Krüge mit Wein herum. Für einen Augenblick stocken wir; das Ganze hat die traumartige Beschaffenheit tiefstempfundener Wünsche nach dem Zusammensein mit allen guten Leuten, mit der ganzen Familie, mit allen, die man liebt, in irgendeinem privaten Land der Nacht. Es ist so vertraut wie unsere frühesten Täume und doch so überwältigend und endgültig mit den Lagerfeuern, die wie weit entfernte Sterne flackern, soweit das Auge reicht, dass es schon wieder ehrfurchtgebietend ist. Und als wir den Hügel links von uns besteigen und dabei auf Schlafsäcken und Decken gehen, wobei wir versuchen, niemandem auf den Kopf zu treten, sagt Keith, es sei wie in Marokko, außerhalb der Tore von Marrakesch. Hört ihr die Flöten?

      Die Leute lagern bis direkt vor einem Sturmzaun, der oben mit Stacheldraht ver­sehen ist. Und während wir den Eingang suchen, nähern sich von hinten die „Maysles Film Brothers“ mit gleißenden, bläulichweißen Quarzlampen, die sie auf die schla­fenden Körper richten. Mick schreit, sie sollen die Scheinwerfer ausmachen, aber sie stel­len sich taub und kommen näher. Die Kids, die „Hi, Mick!“ riefen, als wir vorbeigingen, schließen sich uns an; bis wir das verschlossene Tor erreicht haben, hat sich eine Karawane von Kids gebildet, die durch die Scheinwerfer irritiert sind. Drinnen sehen wir das Clubhaus der Altamont-Speedway-Rennbahn, vor der Leute herumstehen, die wir kennen. Mick ruft: „Könnten wir hinein, bitte?“ Einer kommt herüber, erkennt uns und geht jemand holen, der das Tor öffnen kann. Das dauert eine Weile, und die Kids wollen Autogramme und mit uns hineingehen. Mick sagt ihnen, dass wir bis jetzt nicht einmal selber reinkommen. Keiner außer mir hat einen Kugelschreiber, aber ich habe gelernt, ihn nicht aus der Hand zu geben, weil sich die Leute im Taumel ihrer glückseligen Heiterkeit mit der Unterschrift und mit meinem Werkzeug davonmachen. So stehen wir also fluchend in der Kälte herum, von einem Fuß auf den anderen tre­tend, und keiner kommt, um uns einzulassen. Das windschiefe Tor scheppert, als ich daran rüttle, und ich sage, wir könnten es doch ziemlich leicht niederreißen. Und Keith bemerkt: „Der erste Akt der Gewalt.“

      1

      Etwas über die wundersamen Wanderungen dieser Griots ge­nannten Hüter der Tradition durch die gelbe Wüste nach Norden in das Maghrebinische Land, oftmals eine einsame Wanderung; ihre Vorstellungen in arabischen Camps auf dem langen Weg, als die schwarzen Sklaven herauskamen, um zuzuhören und Tränen zu vergießen; dann die gefährliche Reise nach Konstantinopel; wo sie alte Kongo-Melodien für die großartige schwarze Bevölkerung von Stamboul


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