Hinter der Maske - Die Autobiografie. Paul Stanley

Hinter der Maske - Die Autobiografie - Paul  Stanley


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Trotzdem beschloss ich, die Frau anzurufen. Ich war mir nicht sicher, was mich erwarten würde. Aber ich öffnete mich ihr und es fühlte sich gut an. Bald schon arbeitete ich für ihre Organisation und sprach mit Kindern und ihren Eltern über meinen Geburtsfehler sowie meine Erfahrungen und hörte mir auch ihre Geschichten an. Die Auswirkungen auf mich waren unglaublich.

      Es befreite mich, über etwas zu sprechen, das stets so delikat, persönlich und schmerzvoll für mich gewesen war. Die Wahrheit hatte mich frei gemacht – die Wahrheit und Das Phantom der Oper. Irgendwie hatte die Maske des Phantoms mir erlaubt, meinen Käfig zu verlassen. Im Jahr 2000 wurde ich dann zum Sprecher von AboutFace. Ich fand heraus, dass mein eigener Heilungsprozess durch den Austausch mit anderen unterstützt wurde. Es kehrte eine Ruhe in mein Leben ein, die ich nie zuvor gekannt hatte. Ich war immer auf der Suche nach äußeren Faktoren gewesen, mit deren Hilfe ich mich aus der Dunkelheit hatte befreien wollen, während das Problem die ganze Zeit in mir selbst lag.

      Du kannst niemandem die Hand halten, wenn du deine eigene zu einer Faust geballt hast.

      Die Schönheit um dich herum bleibt dir verborgen, wenn du sie nicht in dir selbst findest.

      Du kannst andere nicht entsprechend schätzen, wenn du dich deinem eigenen Unglück ergibst.

      Ich begriff, dass nicht jene Menschen schwach waren, die ihre Emotionen zeigten, sondern die, die ihre Gefühle versteckten. Ich musste neu definieren, was es hieß, stark zu sein. Ein „echter Mann“ hatte stark zu sein. Ja, auch stark genug, um zu weinen, freundlich und mitfühlend zu sein. Stark genug, um die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen. Stark genug, Angst zu haben und trotzdem einen Ausweg zu finden. Stark genug, um zu vergeben und um Vergebung zu bitten.

      Je besser ich mit mir selbst klarkam, desto mehr konnte ich anderen Menschen geben. Und je mehr ich anderen von mir gab, desto mehr fand ich, das ich geben konnte.

      Kurz nach dieser Verwandlung traf ich Erin Sutton, eine smarte, selbstbewusste Rechtsanwältin. Von Anfang an waren wir total offen und ehrlich zueinander. Da war kein Platz für Schauspielerei. Sie war verständnisvoll, fürsorglich, anregend und – vor allem und am wichtigsten – konsequent und selbstsicher. Eine wie sie hatte ich noch nie getroffen. Wir stürzten uns nicht kopfüber in eine Beziehung, aber nach ein paar Jahren stellten wir fest, dass wir ohne einander gar nicht mehr sein konnten.

      „Ich hatte noch nie eine solche Beziehung“, sagte ich zu ihr. „Ich hatte gar nicht gewusst, dass so etwas wie das hier überhaupt existiert.“

      Das ist das Leben, nach dem ich gesucht habe.

      Das ist der Lohn.

      So ist es, wenn man sich … erfüllt fühlt.

      Es war wie eine nie enden wollende Suche nach etwas, von dem ich meinte, es haben zu sollen. Dieses Verlangen bezog sich nicht ausschließlich auf materielle Dinge, sondern auch darauf, wer ich sein wollte. Dieser Antrieb befähigte mich, an diesem Punkt anzukommen. Das erste Ziel meiner Mission hatte darin bestanden, ein Rockstar zu werden, aber führte letztlich ganz woanders hin.

      Und darum geht es eigentlich in diesem Buch. Deshalb wünsche ich mir auch, dass meine vier Kinder dieses Buch eines Tages lesen werden, obwohl der Pfad, für den ich mich entschied, lang und unwegsam war und mich mitunter durch ziemlich wilde Gegenden und Zeiten geführt hat. Ich möchte, dass sie verstehen, wie mein Leben war, ungeschönt und ehrlich. Ich möchte, dass sie verstehen, dass es in unseren eigenen Händen liegt, ein wunderschönes Leben zu haben. Es mag nicht immer einfach sein, und manchmal braucht man länger, um seine Ziele zu erreichen – aber es ist möglich. Für jeden von uns.

      Ich sammle meine Gedanken und schaue erneut in den Spiegel. Von dort starrt mich das vertraute weiß geschminkte Gesicht mit dem schwarzen Stern ums Auge an. Nun muss ich bloß noch eine oder zwei Dosen Haarspray in meine Haare sprühen, um sie anschließend bis unter die Decke aufwölben zu können. Der rote Lippenstift muss natürlich auch noch drauf. Heutzutage ist es schwer für mich, nicht zu lächeln, wenn ich diese Maske trage. Ich merke, dass ich über das ganze Gesicht grinsen muss und bereit bin, mit dem Starchild abzufeiern, denn mittlerweile ist es eher zu einem guten, alten Freund geworden – und nicht länger ein Alter Ego, hinter dem ich mich zusammenkauere.

      Draußen warten 45.000 Menschen. Ich stelle mir vor, wie wir die Bühne erstürmen. You wanted the best, you got the best, the hottest band in the world … Ich zähle „Detroit Rock City“ ein und ab geht die Post. Gene Simmons, Thommy Thayer und ich schweben aus zwölf Metern Höhe auf die Bühne, während ein riesiger schwarzer Vorhang fällt und Eric Singer unter uns das Schlagzeug bearbeitet. Feuerwerk! Flammen! Das nach Fassung ringende Publikum wirkt auf uns wie eine Naturgewalt. Kaawwuumm! Es ist der größte Rausch, den man sich nur vorstellen kann. Wenn ich auf der Bühne stehe, liebe ich es, die Menschen beim Springen, Tanzen, Küssen und Feiern zu beobachten. Sie verfallen in reinste Ekstase und ich genieße das. Es ist wie ein Stammesfest.

      KISS sind mittlerweile Tradition, ein Ritual, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es ist ein fantastisches Geschenk, mit so vielen Menschen auf dieser Ebene kommunizieren zu können – so viele Jahre nach unseren Anfängen. Ich werde wieder das ganze Konzert lang lächeln müssen.

      Das Beste ist, dass ich auch nach dem Konzert, wenn ich wieder auf die bereits erwähnte Totalität des Lebens treffe, lächeln werde.

      Es gibt Leute, die gar nicht mehr heimgehen wollen – nein, sie würden am liebsten nie mehr heimgehen. Und immer wieder mal wollte ich das auch nicht. Aber mittlerweile liebe ich es, nach Hause zu kommen, weil ich mir inzwischen ein Heim – ein echtes Zuhause – geschaffen habe, in dem ich mich von ganzem Herzen wohlfühle.

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      Ein „Zuhause“ kann sehr vieles bedeuten. Für die meisten Menschen ist es ein Ort der Ruhe und Geborgenheit. Mein erstes Zuhause war alles andere als das.

      Ich kam am 20. Januar 1952 als Stanley Bert Eisen zur Welt. Das New Yorker Apartment, in das mich meine Eltern mitnahmen, befand sich an der Ecke West 211th Street und Broadway, ganz im Norden Manhattans. Ich wurde mit einer Ohrmuschelfehlbildung namens Mikrotie geboren, wobei sich das Knorpelgewebe des äußeren Ohrs nicht ordentlich entwickelt, was dazu führt, dass einem stattdessen eine unterschiedlich ausgeprägte, knorpelig-deformierte Masse wächst. Ich hatte nur ein kleines Rudiment auf der rechten Seite meines Kopfes. Das hatte zur Folge, dass ich nicht bestimmen konnte, aus welcher Richtung ein Geräusch kam, und dass es mir sehr schwer fiel, Menschen akustisch zu verstehen, wenn irgendwelche Hintergrundgeräusche die jeweilige Stimme überlagerten. Das führte so weit, dass ich instinktiv solche Situationen mied.

      In meiner frühesten Erinnerung sehe ich mich mit meinen Eltern in unserem abgedunkelten Wohnzimmer sitzen. Die Rollläden waren heruntergezogen, als ob die Unterhaltung, die wir führten, ein Geheimnis gewesen wäre: „Wenn dich je wer fragt, was mit deinem Ohr los ist, erzählst du, dass du so geboren wurdest.“

      Meine Eltern schienen zu glauben, dass die Angelegenheit nicht existieren würde, wenn sie sie ignorierten. Diese Philosophie bestimmte unseren häuslichen Alltag und somit mein Leben über große Teile meiner Kindheit hinweg. Ich bekam simple Antworten auf komplexe Fragen. Aber wenn meine Eltern meine Problematik auch gerne ignorierten – außer ihnen tat das leider niemand. Die Kinder schienen mich auf meine Fehlbildung zu reduzieren. Ich war für sie ein Objekt und kein kleiner Junge. Jedoch waren Kinder nicht die einzigen, die mich anstarrten – auch Erwachsene taten es, was sogar noch schlimmer war. Eines Tages auf einem Markt an der 207th Street, einen Katzensprung von unserer Wohnung entfernt, fiel mir auf, dass ein Erwachsener, der in der Schlange stand, mich angaffte, als wäre ich ein Ding und kein Mensch. Ich wünschte mir nur, dass er aufhören würde. Wenn dich jemand anstarrt, ist die Situation nicht nur auf dich und diese Person beschränkt. Ein solches Verhalten zieht Aufmerksamkeit auf sich – und im Mittelpunkt zu stehen, war der Horror für mich. Ich fand die musternden Blicke und das gnadenlose Interesse sogar noch übler als


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