Superhelden. Grant Morrison

Superhelden - Grant Morrison


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4 (Ende 1956), präsentierte, landete er damit sofort einen Hit, der wie ein Blitzschlag das Silberne Zeitalter in Gang setzte.

      Barry Allen war der schnellste Mann der Welt. Er rannte schneller als das schnellste Auto, überholte selbst den schnellsten Jet. Er konnte so schnell rennen, dass er problemlos über das Wasser der Ozeane rasen konnte – wie ein raketenbetriebener Jesus. Wenn er mit seiner Spitzengeschwindigkeit unterwegs war, konnte er die Erde sieben Mal in der Sekunde, also mit Lichtgeschwindigkeit, umrunden, und so seine Atome durch feste Objekte hindurch „vibrieren“. Mithilfe seiner wundersamen „kosmischen Tretmühle“, einer Superlaufmaschine, konnte er sogar durch die Zeit reisen. In einen roten Ganzkörperanzug gekleidet, benutzte der Flash seine fantastischen Superkräfte, um die Bürger von Central City und auch gelegentlich anderswo zu beschützen.

      Der androgyne, merkurische, geschmeidige und intelligente Flash war gesegnet mit dem coolsten Kostüm aller Superhelden, das mit seinem klassischen Design eine reibungsarme, eng anliegende Ganzkörperhülle in Ferrari-Rot darstellte. Seine Kapuze zierten zwei dekorative „Kopfhörer“ mit kleinen goldenen Hermes-Flügeln, die an die Ornamente an einem schnittigen Sportwagen erinnerten.

      Auf seiner Brust prangte ein gelber Blitz, der einen weißen Kreis von rechts nach links durchquerte und in der Art des kabbalistischen Blitzes der magischen Erleuchtung in zwei Hälften spaltete. Dieser einteilige Skisprunganzug hatte auch den Effekt, die perfekt geformten Hinterbacken des „Roten Blitzes“ ideal in Szene zu setzen. Seine knallgelben Stiefel hatten robuste Profile und stromlinienförmige Schwingen an den Knöcheln. Dieses so schneidige Kostüm wurde eigentlich nur noch durch jenes seines Sidekick-Neffen Wally West, alias Kid Flash, übertroffen.

      Barrys Anzug war in einen Ring gepresst und schoss heraus, sobald er ihn benötigte und er ihn wie eine zweite Haut über seine Muskulatur streifte. Carmine Infantino zeichnete den Flash als Läufer und nicht so muskelbepackt wie etwa einen Wrestler. Infantino befreite sich vom statischen Zeichenstil der Fünfziger mit einem jazzigen, expressiven Strich und einer ganzen Ladung neuer visueller Effekte, welche die unglaubliche Geschwindigkeit des Helden suggerieren sollten. Er holte sich Inspiration bei Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend sowie den futuristischen Gemälden des Umberto Boccioni und war auf diese Weise in der Lage, dem Flash als vielgliedrige Komposition eines sich durch die Zeit bewegenden Körpers Leben einzuhauchen. Seine Stadtlandschaften wirkten hingegen wie ausbalancierte, zweidimensionale Bühnenbilder, wie aus Karton gefertigte Modelle moderner Wolkenkratzer, Silhouetten, die sich über den Horizont erstreckten.

      Barry Allen war ein umgänglicher Forensiker, der eines Nachts im Labor durch die zufällige Kombination aus Blitzeinschlag und diversen Chemikalien seine Supergeschwindigkeit erlangte. Seine Erzfeinde waren gemeingefährliche Verkörperungen naturwissenschaftlicher Urgewalten: Thermodynamik (Heat Wave, Captain Cold), Optik (Mirror Master), Wetter (Weather Wizard), Schall (Pied Piper), Gyroskopie (The Top), Chemie (Mr. Element). Die Storys drehten sich oft um nur eine simple wissenschaftliche Tatsache. Trotzdem bekam man selten das Gefühl, im Unterricht zu sitzen. Diese wissenschaftlichen Fakten waren genau das, was Jungs der damaligen Zeit, des Silbernen Zeitalters, wissen wollten. Und wer wäre dafür geeigneter gewesen als der Avatar eines unserer ältesten Götter? Chemische Reaktionen wurden zu fesselnden Dramen, während Physikstunden sich zu Träumen aus Geschwindigkeit und Romantik verwandelten.

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      Zu dieser Zeit betrat ich die Bühne des Lebens: geboren am letzten, bitterkalten Tag im Januar 1960. The Flash war immer mein erklärter Liebling unter den Superhelden. Sogar jetzt, wenn ich mich für eine Superkraft entscheiden müsste, würde ich mir seine aussuchen.

      Die Flash-Storys, die mir am besten gefielen, waren von Infantino gezeichnet. Geschrieben wurden meine Favoriten vom ebenfalls bereits erwähnten John Broome, der sah, wohin der Held der Kennedy-Ära strebte. Der bahnbrechende Geist, der Amerikas Jugend Richtung Weltall vorantrieb, löste gleichzeitig eine korrespondierende Kraft, die ins Innere strebte, aus. Zehn Jahre, bevor Stanley Kubrick sich anschickte, Keir Dullea durch das Sternenkaleidoskop des finalen Aktes von 2001: A Space Odyssey zu jagen, beschrieb Broome, dieser elegante Kiffer, bereits die Verbindungsstücke zwischen John Glenn und Dr. Dave Bowman und schickte saubere Helden wie Barry Allen und Hal Jordan (den neuen Green Lantern) jenseits aller Ereignishorizonte, die den jungen Lesern bis dahin geläufig gewesen waren. Während Broome in New York oder in Paris in die Tasten haute, ließ er sich gerne und oft von den aromatischen Rauchschwaden, die ihm um und durch den Kopf zogen, inspirieren – wie hätten da seine Testpiloten, Cops und Astronauten nicht auch high werden sollen?

      Für Barry Allen gehörten die äußeren Grenzbereiche psychedelischer Zustände zum Berufsrisiko. Wie auf die Astronauten, denen er ähnelte, konnte man sich auf Barry verlassen. Etwa darauf, dass er weit über die Grenzen der Vernunft reisen konnte, ohne dabei den Verstand einzubüßen oder gar seinen scharlachfarbenen Anzug zu besudeln. Batman hatte sich zwar mit perfiden Todesfallen herumschlagen müssen, und Superman bekam es schon mal mit außerirdischen Eroberern zu tun, doch Barry Allen, der Forensiker, verbrachte ganze Comic-Ausgaben gefangen in etwas, das schwer an eine ausgewachsene Salvia-Halluzination erinnerte. Er wurde etwa in eine Holzpuppe verwandelt, die hilflos und entmenschlicht an ihren Fäden baumelte. Andere Episoden brachten ihm einen Fluch ein, der ihn nurmehr grün sehen ließ oder ihn zu einem lebenden Pflasterstein plättete, über den alle hinwegliefen, egal, wie sehr er um Hilfe rief. Aber die Glanznummer war wohl „Der Flash vertraut DIR sein Leben an!“ vom August 1966. Es ist eine der ersten Geschichten, die eine durchdringende Wirkung auf meinen jungen Verstand hinterließ. Ich kann viele meiner eigenen Obsessionen und Sorgen, die ich als Vertreter der schreibenden Zunft mit mir herumtrage, auf diese eine bestimmte Wurzel zurückführen.

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      Das Cover zeigte eine Nahaufnahme des Flashs. Der Hintergrund war schwarz, ohne jegliches Detail. Er hielt eine Hand hoch in den Vordergrund, als ob er nur kurz vor einem stünde, und beinahe in Lebensgröße. Er sprach einen quasi direkt an. Er wirkte aufgebracht. Er sah aus wie ein Heiliger, der in die Unendlichkeit starrte. Er war der Flash – der schnellste Mann überhaupt.

      „STOP!“, rief er in großen Lettern. „LASS DIESE AUSGABE NICHT AUS! MEIN LEBEN HÄNGT DAVON AB!“

      Der schnellste Mann der Welt befahl uns stehenzubleiben, wobei er die vierte Wand der zweiten Dimension durchbrach, um uns sein Anliegen mitzuteilen. Dies war das erste Mal, dass ein Superheld aus der Ebene des flachen Bildes in einen höheren Raum, den er nicht sehen, nur fühlen konnte, sprach, um um Hilfe zu bitten. Er schien fast zu wissen, dass er nur eine Figur in einem Comic war. Seine Welt war nicht die unsrige. Dies war Kunst als Produkt, und zwar auf eine Weise, die sich ein Roy Lichtenstein für seine Arbeiten nur hätte wünschen können. Und Infantinos grafische Designs würden sich – nebenbei gesagt – grandios im MoMA oder der Tate Gallery machen.

      Nach hastigem Umblättern ging die Geschichte los. Eines Tages legte sich Flash mit einem Bösewicht an, der eine neue Waffe entwickelt hatte, die diejenigen Menschen, die von ihr getroffen wurden, aus dem Gedächtnis aller anderen Leute löschte. Er testete es an seiner Hauskatze Jessica, die darauf jeder sofort vergaß, was dazu führte, dass das Tier überhaupt verschwand, ähnlich einem Baum, der in einem nicht existierenden Wald nicht umfiel. Der Katze einen Namen zu geben, obwohl sie nur in zwei Panelen auftrat, war ein für Broome typisches Detail. Wir, die Leser, würden uns für immer an Jessica erinnern. Es dauerte nicht lange, bis die Waffe auf den Flash gerichtet wurde. Da sich niemand mehr an ihn erinnern konnte, begann er sich wie ein Rauchring aufzulösen.

      „DA UNSER EIGENER GLAUBE AN UNS SELBST DARAUF BASIERT, WIE ANDERE ÜBER UNS DENKEN, FÄNGST DU SOFORT AN, DEINE IDENTITÄT ZU VERLIEREN!“, informierte der Schurke den schwindenden Superhelden. Ich konnte mir den Schrecken vorstellen. Ich erinnerte mich an Träume, in denen sich mein bleiernen Körper durch Luft, die wie Leim war, bewegte, und konnte mir vorstellen, dass ein schwereloser Körper eine ebenso große Bürde sein konnte.

      Hier war der Flash nun, entrückt und quasi verdampft, jedoch sich seiner selbst gerade noch bewusst, an der Schwelle zur Auflösung. Er konnte nicht


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