Superhelden. Grant Morrison

Superhelden - Grant Morrison


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DC-Helden oder in der Marvel-Family dienten. Diese Umstände ließen ihn aber dafür umso vertrauter wirken.

      Das erste Mal begegnete man Peter Parker – er sprang weder durch die Luft, noch machte er Schurken dingfest –, als er, isoliert und in respektvollem Abstand, neben einer Gruppe lästernder Jugendlicher stand. Die physische und emotionale Distanz schien unüberwindbar. Der personifizierte Bücherwurm, mit hängenden Schultern, abgetragenen Klamotten und großen, runden Brillen, starrte hinüber zu den beliebten Kids, die über die absurde Idee, Peter zum Tanz einzuladen, kicherten. In einer Hand hielt der seine Schulhefte. Es war eine Szene, wie sie auf jedem Schulhof zu sehen ist, und viele von Spider-Mans jungen Lesern projizierten sich sofort auf den ruhigen, zurückhaltenden Peter Parker. Doch da war etwas Spezielles, Seltsames und Wunderbares an Peter. Anders als an Peter Pan haftete an ihm ein Schatten. Tatsächlich schien er in der Cover-Illustration einen dreigeteilten Schatten zu werfen: Man sah einen stolzen, muskulösen Mann mit in die Hüften gestemmten Händen, im Zentrum eines Spinnennetzes, die Umrisse einer riesigen Spinne über seinem Kopf. Offensichtlich war mehr an dem scheuen Mauerblümchen als mit bloßem Auge zu erkennen war. Das Bild war bereits atmosphärisch, aber Lee hatte gerade erst begonnen.

      Lees begleitende Bildtexte repräsentierten keine leidenschaftslose Autorenstimme, sondern versprühten einen kumpelhaften Geist, der einen fühlen ließ, dass er, der Autor, bei seinem Leser wäre, mit ihm zusammen den Comic lesen und vor denselben schlimmen Situationen erschaudern würde. Der Comic selbst wurde zum Kumpel. Lee injizierte seine eigene Persönlichkeit in kleine Fußnoten, die Verbindungen zwischen Storys herstellten und die Leser an auffällige Fakten erinnerten – und das alles in Stans augenzwinkerndem „Hey-wie-geht’s-Kumpel?“-Stil. Und dann kam „Stan’s Soapbox“, eine regelmäßig erscheinende Bulletin-Kolumne, in der Stan rauslassen konnte, was ihn gerade bewegte. Meistens promotete er neue Marvel-Comics in leicht überspitztem Stil, nicht ohne eine gewissen ironische Distanz zu halten, doch oft ließ er seinen Gefühlen bezüglich Bürgerrechten und Weltfrieden freien Lauf.

      Manchmal sprach er sogar darüber, welche Lichtgestalten der Nouvelle Vague den Büros von Marvel einen Besuch abstatteten: Federico Fellini, Alain Resnais und Jean-Luc Godard. Meist waren es „abgefahrene Franzosen“, wie Lee es ausdrücken würde, die die Comics schon lange in den Kanon ihrer Kultur, und zwar in Form von teuer gebundenen Dessinées oder Fumettis, aufgenommen hatten. Clevere und innovative Comic-Künstler, wie sie in Lees Crew saßen, mussten sich den französischen Autorenfilmern nicht beweisen, wohingegen der amerikanische Mainstream kaum Notiz nahm vom Artwork, der Sprache oder den radikal neuen Erzählstrukturen ihrer Arbeiten. Nicht vielen war die neue Underground-Mythologie überhaupt ein Begriff. Innerhalb von zehn Jahren sollte das Marvel-Universum jenes von DC als erfolgreichstes, sowohl bei den Verkaufszahlen als auch bei der Zustimmung der Fans, überflügeln.

      Ab 1965, mit einem erfolgreichen Stall voller neuer und unkonventioneller Superhelden, darunter der Hulk, Daredevil, Iron Man, Thor und Giant Man, ließ Lee auf jede neue Ausgabe das Banner „A MARVEL POP ART PRODUCTION“ drucken. Einerseits, um sich von seinen biederen Mitbewerbern bei DC (er nannte sie liebevoll „Brand Echh“) abzuheben, andererseits, um sich mit der Popkultur im Allgemeinen zu assoziieren. Stan stachelte eine erbitterte Rivalität zwischen Marvel und DC an, doch der Gigant schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Aber die neuen Helden aus dem Hause Marvel strahlten eine so hohe Originalität und so viel Persönlichkeit aus, dass sie DCs Produkte daneben alt aussehen ließen und sie dazu zwangen, sich zu verändern, um noch mithalten zu können.

      Die allerersten Worte in den Spider-Man-Comics signalisierten die neue Nähe zwischen dem Leser und den Comic-Machern, die zu Marvels Markenzeichen wurde. „MAGST DU VERKLEIDETE HELDEN?“, fragte Lee, obwohl wir das ja wohl mussten, wenn wir das Heft gekauft hatten. Es war selten, dass die Leser so direkt nach dem Produkt in ihren Händen gefragt wurden. Dann ließ er uns an ein paar Geschäftsgeheimnissen teilhaben, um unser Vertrauen zu gewinnen: „IM VERTRAUEN, WIR IM COMIC-BUSINESS NENNEN SIE STRUMPFHOSEN-CHARAKTERE! UND WIE IHR WISST, GIBT ES SIE WIE SAND AM MEER! ABER WIR GLAUBEN, DASS IHR UNSEREN SPIDERMAN EIN BISSCHEN … ANDERS … FINDEN WERDET!“

      Mit einem kurzen Bildtext wurde Lee zu einem Freund, einem Vertrauten. Er erinnerte uns gleich zu Beginn, dass wir eine erfundene Geschichte lesen würden, dann schuf er mit Ditko eine Story, die so unwiderstehlich war, dass sie einen in sich hineinsaugte, und das, obwohl sie ja nur fiktiv war. Was für eine große selbstdarstellerische Leistung. Die Story war perfekt aufgebaut, und das auf gerade mal elf Seiten. Als Brian Michael Bendis im Jahr 2000 beauftragt wurde, den Ursprung Spider-Mans für eine neue Generation von Lesern neu zu erzählen, brauchte es sechs 22-seitige Ausgaben, um dieselbe Geschichte im „dekomprimierten“ Drehbuchstil der Comics des 21. Jahrhunderts wiederzugeben.

      Peter lebte wohlbehütet bei seinen ältlichen Beschützern, Tante May und Onkel Ben, wurde aber von jedem Mädchen, das er traf, zurückgewiesen.

      „EINES TAGES WERD ICH ES IHNEN NOCH ZEIGEN! [Schluchz] EINES TAGES WIRD ES IHNEN LEID TUN – LEID TUN, DASS SIE MICH AUSGELACHT HABEN.“

      Zum Glück für unseren Helden sollte „eines Tages“ schon wenige Minuten später eintreffen, als Peter von einer Spinne gebissen wurde, welche versehentlich eine ungewöhnlich hohe Strahlendosis während eines wissenschaftlichen Versuchs abbekommen hatte. In der realen Welt wäre Peter an der Strahlenkrankheit erkrankt und in verwirrter Agonie und ohne Haare und Zähne nach wochenlangem Siechtum gestorben. Jedoch befand er sich im Marvel-Universum, das seine eigenen Regeln hatte. Im Marvel-Universum war radioaktive Strahlung so etwas wie Feenstaub: bestäube damit einen Wissenschaftler, und – voilà! – ein Superheld ward geboren. Strahlung war verantwortlich für die Ursprünge der Fantastic Four, Spider-Mans, des Hulks, der X-Men, Daredevils und vieler weiterer früher Marvel-Charaktere, für die sich die gefürchteten Isoptope in wunderbare Brennstäbe der ungeahnten Möglichkeiten verwandelten. Lee stahl der Bombe ihre verheerende Strahlung und nutzte sie, um die Dunkelheit für Kinder wie mich – die im eisigen Schatten der Bombe aufwuchsen – mit außergewöhnlichen Helden zu beleuchten.

      Es lag in der Tradition der Superhelden, sich in der Verbrechensbekämpfung zu engagieren, sobald sie mit einem peinlichen Kostüm und einem lächerlichen Namen aufwarten konnten. Die mysteriösen Helden des Goldenen Zeitalters hatten sich gegen das Verbrechen gewandt, weil man das eben so machte. Und DCs Wissenschaftler-Helden des Silbernen Zeitalters taten es, weil sie darüber in Comics des Goldenen Zeitalters gelesen hatten. Man musste weder ihre Welten zerstören noch ihre Eltern meucheln. Sie setzten ihre neuen Fähigkeiten gegen das Verbrechen ein, weil sie am Wohl der Allgemeinheit interessiert waren. Stan Lee berief sich auf das ursprüngliche Prinzip. Im Marvel-Universum brauchten Helden Motive und Begründungen. Nachdem er seine Kräfte erhalten hatte, war Peter Parkers erste Wahl, nicht etwa Kriminelle zu jagen, sondern Geld zu machen. Er benützte seine Spinnenkraft für einen Wrestling-Kampf. Dies brachte ihm die Aufmerksamkeit eines Fernsehpromoters ein, der ihm einen Haufen Kohle anbot, damit er in der Ed-Sullivan-Show auftreten würde. Peter nahm an und entwarf sein Kostüm – nicht um Kriminelle zu ängstigen oder sein Wappentier zu repräsentieren, sondern damit er im Fernsehen gut aussehen würde. Das war für 1962 ein komplett neuer Ansatz. Hier gab es einen Helden, der die Promikultur vorwegnahm. Innerhalb weniger Tage war Spider-Man die „SENSATION DER NATION“, doch Lee und Ditko waren noch nicht fertig mit uns. Sie mussten diesen leicht unsympathischen, größenwahnsinnigen Nerd noch in einen Superhelden verwandeln, was ihnen mit einer klassischen Sequenz gelingen sollte. Spider-Man hatte gerade die Medienmeute abgehängt und war bereit, sich leise davonzumachen, als er die Rufe eines Polizisten vernahm, der ihn um Hilfe rief, um einen fliehenden Gangster dingfest machen zu können.

      Spider-Man ignorierte eigensinnig die Rufe des Cops, der Dieb entwischte in den Aufzug und konnte so entkommen. Dieser war erleichtert: „ZUM GLÜCK HAT MICH DIESER KOSTÜMIERTE FREAK NICHT AUFGEHALTEN!“

      Als der Cop Spider-Man abmahnte, hatte der Noch-Nicht-Held bereits eine abschätzige Antwort für ihn parat: „SORRY, KUMPEL! DAS IST DEIN JOB! ICH LASS MICH NICHT LÄNGER HERUMSTOSSEN – VON NIEMANDEM! VON NUN AN KÜMMERE ICH MICH NURMEHR UM DIE NUMMER EINS – DAS HEISST – MICH!“

      Es war leicht vorherzusehen, dass eine Tragödie unmittelbar bevorstand, als


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