Wie ein Regenbogen. Simon Wells

Wie ein Regenbogen - Simon  Wells


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Während der Sommermonate sprangen Anita und ein anderer Kleingärtner manchmal über das kleine Mäuerchen, das den Komplex von der Themse trennte, und genossen ein Sonnenbad am Ufer au naturel, was andere mit höchst erstaunten Blicken honorierten.

      Heute finden sich keine Spuren mehr, die darauf hindeuten, dass dieses einst bunt kultivierte Fleckchen Erde früher im Besitz von Anita Pallenberg war, und auch wenn es sie gäbe, würde wohl niemand aus der Schrebergartenkolonie die Tragweite ihres verblüffenden Lebens ermessen können. Hier lediglich von „Karriere“ zu sprechen, würde ihr nicht gerecht werden. Ähnlich unmöglich wäre es, das Spektrum all ihrer Errungenschaften auf einen einzigen Begriff zu bringen. Schauspielerin, Model, Designerin, Mutter, Muse, Inspiration für andere, Pionierin der offenen Sexualität, der Drogen und des Feminismus – die Liste ihrer Leistungen ist ebenso lang, wie es schwierig ist, das Ausmaß ihres Einflusses auf die Populärkultur exakt einzuschätzen.

      Es ist ein interessantes Paradoxon, dass eine Frau, die daran beteiligt war, die kulturellen Entwicklungsstränge in so vielen Bereichen zu formen, sich in ihren letzten Tagen in einem Londoner Vorort um junge Pflänzchen kümmerte. Aber genau hier findet sich ein weiteres Charakteristikum von Anita Pallenberg: Vielen, die ihr begegneten, war sie ein Rätsel. Sie entstammte einer noch von starkem Nachkriegs-Chauvinismus geprägten Ära und stürzte sich mit einer Hingabe in die Sechziger, wie man sie in der damaligen Zeit so gut wie noch nie erlebt hatte.

      Mit einem seltenen Unabhängigkeitsstreben und einer freigeistigen Grundeinstellung war Anita Pallenberg eine unbeugsame Feministin, die sich mit Aufrichtigkeit und Wagemut durch verschiedene Jahrzehnte kämpfte, was einzigartig in der jüngeren Vergangenheit war. Im Gegensatz zu den Behauptungen vieler suchte Anita keinen Ruhm und war auch nicht das „Rock Chick“ oder ein „Groupie“, wie die Medien sie in den kommenden Jahren verunglimpften. „Sie brauchte nicht das strahlende Rampenlicht“, erzählte mir einer ihrer Freunde erst kürzlich. „Sie war das Rampenlicht!“

      Schon in jungen Jahren in einem vom Krieg zerrissenen Italien war es offensichtlich, dass sie jede Situation dominierte. In ihrer weit verzweigten europäischen Ahnenreihe fanden sich Maler, Träumer, Radikale; sie ignorierte Konventionen und ein angepasstes Verhalten war ihr zuwider. In ihrer DNS lag das Erbgut des Ungewöhnlichen, des Exotischen und des Getriebenen und ihr Leben war schon von den allerersten Schritten an dafür prädestiniert, sich von anderen radikal zu unterscheiden.

      Die bezaubernde Dualität von Anitas Wesen sowie ihre kecke, atemberaubende Schönheit verbanden sich mit einem spitzbübischen Humor, sie suchte die Gefahr und unbegrenzte Möglichkeiten schienen ihr offenzustehen. Darüber hinaus zog sie immer eine hochkarätige Gesellschaft an. Sie hing mit Fellini und seinen Kollegen während der Dolce Vita-Blütezeit 1959 in Rom ab und machte 1963 die Bekanntschaft progressiv ausgerichteter Künstler wie Warhol, Ginsberg, Corso und Ferlinghetti in New York. Noch bevor sie selbst ins Rampenlicht katapultiert wurde, hatte sie die Irrungen und Wirrungen der Celebrity-Kultur schon kennengelernt.

      Es war niemals von ihr beabsichtigt gewesen, doch Anitas bezauberndes Profil und ihr schlanker Körper brachten die weltweit einflussreichsten Fotografen dazu, ihr den Hof zu machen. Als die Sixties sich zu voller Blüte entfalteten, befand sie sich auf einem Höhenflug. Durch ihre Mobilität in ganz Europa traf sie schließlich auf die ähnlich ungezähmten Rolling Stones. In Brian Jones, dem wohl rätselhaftesten Mitglied der Band, spiegelte sich Anitas mysteriöse Anziehungskraft. Sie und dieser komplexe Adonis schmiedeten einen Bund, der in der hermetisch abgeriegelten Gemeinschaft der Rolling Stones letztendlich in eine Sackgasse führte. In einer Ära, in der die „Dolly Birds“ sich mit großem Augenaufschlag scheinbar willig ihren männlichen Begleitern darboten, brachte Anita einen selbstbewussten Feminismus in eine bis dahin für ihren Chauvinismus berüchtigte Welt.

      Im ausschweifenden Privatleben von Brian Jones war zuvor kein Platz für eine konstante Partnerin gewesen, doch in Pallenberg erkannte er seelenverwandte Charakterzüge, woraufhin die beiden zum „Alpha-Paar“ des Swinging London wurden. Jones gab sich als stolzierender Pfau, während sich zugleich Anitas neo-europäische Androgynität zu einem regelrechten Hingucker entwickelte.

      Jones erhielt den größten Teil der Anerkennung für den neuen „Renaissance-Stil“; nur wenige waren sich bewusst, dass es eigentlich Anita war, die den neuen Look ihres Partners beeinflusste und formte. Im Bereich der Mode ließ ihr revolutionärer Stil die Geschlechterrollen verschwimmen – ein Trend, der sich bis in die höheren Riegen der Rock-Gilde fortsetzte und damit auch in die Gesellschaft hinein.

      Wie viele andere in den Sechzigern beteiligte sich Anita lebhaft an der Erkundung der brandaktuellen Drogen. Als 1966 LSD in Londons Straßen Einzug hielt, ließ sie sich leicht von den gravierenden bewusstseinsverändernden Auswirkungen der Substanz überzeugen. Das in der britischen Metropole überall verfügbare Acid intensivierte die Farben, die Formen und die Energie, was sich schon bald in Anitas modischem Gespür niederschlug. Ihr freigeistiger „Gypsy-Look“, verstärkt durch Elemente Nordafrikas, sollte den Kleidungsstil der neuen Boheme in den darauffolgenden Jahren revolutionieren.

      Viel wurde bislang über Anitas „Übergang“ von Brian Jones zu Keith Richards gesagt und geschrieben, doch es gibt so gut wie gar keine Dokumente, die darüber Aufschluss geben, auf welche Art und Weise sie beide Partnerschaften bestimmte. In der Realität hatte Anita nämlich kaum Zeit, sich einem Partner ganz und gar zu verschreiben – egal, wie ihr „Sternenglanz“ auch auf die Außenwelt gewirkt haben mochte. 1968 hatte sie bereits eine erfolgreiche Model-Karriere absolviert und war vor ihrer Rolle in Performance (1970) bereits in vier bedeutenden Filmen aufgetreten.

      Düster, exotisch, erschütternd und befremdlich distanziert, stellte sich Performance als ein radikaler Angriff auf die Befindlichkeiten beinahe jedes Zuschauers heraus. Anitas Rolle als Fan eines einstigen Rockstars hätte eindeutig ausfallen müssen, doch die Unbestimmtheit und Vagheit des Films bedingten, dass sie sich in einem Wirbel unterschiedlichster Emotionen verfing. Eigentlich hätte das Werk Anita in die erste Klasse der Schauspielerei befördern sollen, doch die bei Performance eingebetteten dunklen Elemente wirkten sich letztendlich negativ auf ihre Ambitionen aus.

      Das Ende des Sixties-Traums ging mit einigen Todesfällen einher, doch Anitas stahlharte Konstitution ermöglichte ihr eine Verlängerung der Party bis in die folgende Dekade hinein. Punk war angetreten, auch noch den leisesten Hauch des dekadenten Rock’n’Roll zu zerstören, doch Pallenbergs verwegener Chic brachte ihr Glück. Besonders auf die Frauen, die sich nun auf den Spielplätzen der New Wave austobten, hatte sie einen erkennbaren Einfluss.

      Trotz der Anerkennung, die ihr von der Frontlinie des Punk entgegengebracht wurde, waren die Dämonen, die Anita heimsuchten, niemals weit entfernt. In den Siebzigern hielten verschiedene Suchterkrankungen sie fest in ihren Klauen, und die ständigen Zusammenstöße mit den Behörden wurden auf die Dauer zermürbend.

      Keith Richards’ Verhaftung wegen Heroin-Besitzes in Kanada warf einen dunklen Schatten auf ihre Beziehung, doch weitere Seelenqualen sollten zwei Jahre später folgen, als Anita – nun von der beschützenden Beziehung zu den Stones abgeschnitten – sich in einer niederschmetternden Situation wiederfand: Ein siebzehnjähriger Junge hatte sich in ihrem Haus im Bundesstaat New York erschossen.

      Das Ereignis markierte zwar eine Abkehr von früheren Exzessen, doch ihre Reise in zunehmend finstere Gefilde setzte sich fort. Das Ausmaß des erlebten Traumas führte sie zu einem Rückzug aus dem öffentlichen Leben, und nur wenige wirkliche Freunde blieben ihr in der sich stetig verändernden Welt, in der sie einst gelebt hatte. Nachdem Keith Richards eine neue Beziehung eingegangen war, konzentrierte sich Anita nunmehr ganz auf sich selbst. Mitte der Achtziger überstand sie einen brutalen Entzug, doch die vielen Jahre, die sie auf Messers Schneide gelebt hatte, erforderten eine grundlegende Neuorientierung.

      In ihren dunkelsten Stunden zog Anita Kraft aus der Motivation, die sie in ihren frühsten Jahren angetrieben hatte. Sie kämpfte sich ihren Weg aus körperlicher Gebrechlichkeit und seelischen Schmerzen und machte die ersten Schritte einer beeindruckenden Verwandlung. Es war eine Metamorphose, die zu einer Neubewertung ihres außergewöhnlichen Einflusses auf die Popkultur kommender Generationen führte.

      Die Siebziger hatten sich für Anita zu


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