Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell
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James Gordon Farrell
Die Belagerung von Krishnapur
James Gordon Farrell
DIE BELAGERUNG
VON KRISHNAPUR
Roman
Aus dem Englischen
von Grete Osterwald
Mit einem Nachwort
von Pankaj Mishra
Für W. F. F.
I
Jeder, der noch nie in Krishnapur war und sich von Osten nähert, wird sich wohl ein paar Meilen früher als erwartet am Ende seiner Reise wähnen. Noch ein ganzes Stück von Krishnapur entfernt, führt der Weg eine leichte Anhöhe hinauf. Von hier aus wird er sehen, was in der hitzeflimmernden Ferne als eine Stadt erscheint. Er wird das weiße Schimmern von Mauern sehen, und Dächer, und eine schöne Baumgruppe, vielleicht sogar die Kuppel von etwas, was ein Tempel sein könnte. Rundherum nichts als die endlose Ebene, immer noch genauso wie seit vielen Meilen, ein eintöniges Meer kahler Erde, in dessen unendlicher Weite ein gelegentliches Feld mit Zuckerrohr oder Senfpflanzen vollkommen verloren wirkt.
Das Überraschende ist, dass diese Ebene nicht gänzlich verlassen ist, wie man erwarten könnte. Während er sie zu den weißen Mauern in der Ferne hin durchquert, gewahrt der Reisende hin und wieder eine Gestalt, die von irgendwo zwischen der Straße und dem Horizont auftaucht, einen Mann, der mit einer Last auf dem Kopf in diese oder jene Richtung geht … obwohl es, zumindest für das Auge eines Fremden, innerhalb der Grenzen des Horizonts nichts zu geben scheint, wo es sich hinzugehen lohnt, außer vielleicht zu jener fernen Stadt, die er erblickt hat; ob hier oder dort, alles sieht ziemlich gleich aus. Aber wenn man genau hinschaut und die Augen gegen das gleißende Licht abschirmt, entdeckt man hin und wieder kleine Dörfer, schwer zu erkennen, weil sie aus derselben Erde bestehen wie die Ebene, der sie entsprungen sind, und in deren Schoß sie während der Regenzeit unvermeidlich zurückkehren, da es in diesen Landstrichen keinen Kalk gibt, keinen Ton oder Schiefer, nichts, was sich zu Ziegeln brennen ließe, keine Substanz, die fest genug wäre, um den Jahreszeiten dauerhaft zu widerstehen.
Manchmal duckt sich das Dorf in einen Bambushain und besitzt einen fürchterlichen Tümpel mit ein oder zwei Wasserbüffeln; meistens aber gibt es nur einen Brunnen, aus dem tagein, tagaus, vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, dieselben zwei Männern und zwei Ochsen Wasser ziehen, bis ans Ende ihres Lebens. Doch ob es einen Tümpel gibt oder nicht, ist für den Reisenden kaum von Belang; so oder so gibt es hier keine Bequemlichkeit, nichts, was ein Europäer als Zivilisation erkennen könnte. Umso mehr Grund für ihn, weiterzueilen, hin zu den fernen weißen Mauern, die offensichtlich aus Backsteinen bestehen. Backsteine sind zweifellos ein wesentlicher Bestandteil der Zivilisation; ohne sie gelangt man nirgendwohin.
Doch sobald er näherkommt, wird der Reisende sehen, dass die vermeintliche Stadt hoffnungslos verlassen ist, kaum mehr als eine melancholische Ansammlung weißer Kuppeln und Flächen, die von ein paar Bäumen umgeben sind. Keine Menschenseele weit und breit. Alles liegt vollkommen still. Noch näher herangekommen, sieht er natürlich, dass es gar keine Stadt ist, sondern einer jener alten Friedhöfe, »Städte der Ruhenden« genannt, auf die man gelegentlich im Norden Indiens stößt. Ein seltener Reisender wird vielleicht von der Straße abbiegen, um im Schatten der Mangobäume, die sich zwischen den weißen Gräbern und einer verfallenen Moschee erheben, zu rasten; manchmal findet man auch etwas Weihrauch, der von unsichtbarer Hand auf einem Tonuntersatz schwelend zurückgelassen wurde. Aber sonst ist hier kein Leben; sogar die raschelnden Blätter machen ein totes Geräusch.
Krishnapur selbst war einst das Zentrum der Zivilverwaltung eines großen Distrikts gewesen. Zu jener Zeit waren in verschwenderischem Ausmaß europäische Bungalows gebaut worden, sogar kleine Paläste auf mehreren Morgen Land zur Unterbringung der damaligen Repräsentanten der Company*, die ein prunkvolles Leben führten und manchmal sogar, um es den eingeborenen Fürsten gleichzutun, Tiger und Mätressen und weiß der Himmel, was sonst noch alles, hielten. Aber dann verlor Krishnapur an Bedeutung und die prunksüchtigen Beamten zogen anderswohin. Ihre herrlichen Bungalows blieben leer und verrammelt zurück; ihre Gärten verwilderten während der Regenzeit und trockneten den Rest des Jahres zu Wüsten aus, über deren gebackenem Boden Staubteufel wie geisterhafte Tänzer hin und her huschten.
Jetzt, mit dem Knarren loser Fensterläden und dem Seufzen des Windes im hohen Gras, gleicht das Kantonnement einem Ort aus einem melancholischen Traum; ein Besucher mag sich durchaus an die »Stadt der Ruhenden« erinnert fühlen, an der er auf dem Weg nach Krishnapur vorbeigekommen ist.
Das erste Zeichen von Unruhen in Krishnapur kam mit einer mysteriösen Verteilung von Chapatis, aus grobem Mehl gebacken und ungefähr so groß und dick wie Kekse; gegen Ende Februar 1857 überschwemmten sie das Land wie eine Seuche.
Eines Abends, in dem Raum, den er als Studierzimmer benutzte, öffnete der Collector*, Mr. Hopkins, eine Gesandtschaftstruhe, doch anstelle der erwarteten Dokumente fand er vier Chapatis. Nach einem Augenblick der Überraschung rief er verärgert den khansamah*, einen älteren Mann, der seit mehreren Jahren in seinen Diensten war und dem er vertraute. Er zeigte ihm die geöffnete Truhe und die Chapatis darin. Auf dem normalerweise reglosen Gesicht des khansamah zeigte sich Schrecken. Offensichtlich war er nicht weniger verblüfft als der Collector selbst. Er starrte eine Weile auf die purpurrote Truhe, ehe er die Chapatis hochachtungsvoll herausnahm, als besäße die Truhe eine eigene, persönliche Würde, in der sie womöglich gekränkt worden sei. Der Collector bedeutete ihm mit gerunzelter Stirn, die elenden Dinger zu entfernen. Etwas später hörte er den khansamah die Träger schelten, offenbar überzeugt, dass sie sich einen dreisten Scherz geleistet hätten.
Der Collector war dieser Tage sehr beschäftigt. Außer den Pflichten seines Amtes, die wegen der Krankheit des Joint Magistrate* zahlreicher und komplizierter geworden waren, hatte er allerhand häusliche Sorgen im Kopf; auch seine Frau war seit einigen Monaten bei schlechter Gesundheit und musste nun vor der großen Hitze nach Hause geschickt werden.
Es ist unwahrscheinlich, dass der Collector, derart mit anderen Dingen beschäftigt, den zweiten Stapel Chapatis überhaupt bemerkt hätte, wäre sein Blick nicht von einer Ameisenstraße dorthin gelenkt worden; die Ameisen krochen aus einem Spalt zwischen zwei Bodenplatten hervor, und ihre dünne Kolonne bewegte sich um Haaresbreite an seinen Schuhen vorbei zu den Chapatis hin. Die Chapatis sahen schmutzig und verkohlt aus; wieder waren es vier, und sie lagen auf der obersten Stufe des Backsteinportikus vor dem Haupteingang der Residenz. Der Collector war auf den Portikus hinausgetreten, um ein wenig Luft zu schnappen. Er zögerte einen Moment, im Begriff, abermals den khansamah zu rufen, doch dann bemerkte er den Mann, der nicht weit entfernt draußen kehrte; er schaute ihm eine Zeit lang bei der Arbeit zu, auf den Fersen sitzend und ziemlich wahllos fegend, mit einem Bündel Zweige statt eines Besens. Kein Zweifel, dass die Chapatis auf dem Portikus ihm gehörten. Der Collector ging wieder hinein und schlug sich die Sache aus dem Sinn.
Am folgenden Nachmittag jedoch fand er vier weitere Chapatis. Diesmal nicht im Studierzimmer, sondern auf dem Schreibtisch seines Büros, säuberlich angeordnet neben einigen Papieren. Obwohl sie immer noch nichts sehr Bedrohliches an sich hatten, war ihm, sobald er sie sah, zweifelsfrei klar, dass es Unruhen geben würde. Er untersuchte sie sorgfältig, aber das sagte ihm nichts, außer dass sie ziemlich schmutzig waren.
Der Collector war ein stattlicher und schöner Mann. Er trug halblange, sorgfältig gestutzte Koteletten, die aber trotzdem steif hervorsprossen wie die Halskrause einer Katze. Er kleidete sich wählerisch: Die hohen Kragen, die er gewöhnlich trug, waren an einem ländlichen Standort wie Krishnapur ungewöhnlich genug, um auf alle, die ihn sahen, tiefen Eindruck zu machen. Außerdem war er ein in Amt und Würden ziemlich hochgestellter Mann mit einem ausgeprägten, aber unberechenbaren Sinn für gesellschaftlichen Anstand. Kein Wunder, dass die Gemeinschaft der Europäer