Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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hatte guten Grund, sich über diese Freundschaft zu freuen, denn es war Sir Herbert Fleury zu danken, dass dem jungen Harry eine Kadettenstelle in Addiscombe, an der Militärschule der Ostindien-Kompanie, gewährt worden war; es lag bei den Direktoren, die Kadettenstellen zu vergeben.

      Im Lauf ihres Briefwechsels hatte der ältere Fleury oft seinen Sohn, George, erwähnt, mitten unter den Sumpfhühnern, den Fasanen und den Füchsen … George studierte in Oxford und sollte zu gegebener Zeit vielleicht nach Indien kommen. Aber die Jahre vergingen, ohne ein Zeichen vom jungen Fleury. Auch in den Briefen seines Vaters wurde er nicht mehr erwähnt. Irgendeine häusliche Tragödie ahnend, hatte der Doktor seine Briefe taktvoll aufs Sauspießen und Ortolane beschränkt. Weitere zwei oder drei Jahre waren vergangen, und nun, plötzlich, als der Doktor es nicht mehr erwartete, war der junge Fleury wieder aufgetaucht unter den Füchsen. Wie es schien, kam er nach Indien, um das Grab seiner Mutter zu besuchen (zwanzig Jahre zuvor, während Sir Herbert persönlich in Indien weilte, war seine junge Frau gestorben und hatte ihn mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen); gleichzeitig hatte das Direktorium ihn beauftragt, ein Büchlein abzufassen, in dem er beschreiben sollte, welche Fortschritte die Zivilisation unter der Herrschaft der Company in Indien gemacht hatte. Aber das waren nur die vorgeschobenen Gründe seines Besuchs … der wahre Grund, warum der junge Fleury nach Indien kam, war das Bedürfnis, seine jüngst verwitwete Schwester Miriam, deren Ehemann, Captain Lang, vor Sewastopol getötet worden war, ein wenig abzulenken.

      Nun waren George Fleury und seine Schwester in Kalkutta eingetroffen, und Mrs. Dunstaple hatte gehört, dass er ziemlichen Eindruck machte. Sogar seine Kleidung, nach der allerneusten Mode, wie es hieß, war Stadtgespräch. Anscheinend hatte man ihn etwas tragen sehen, was definitiv die erste »Tweedside«-Loungingjacke war, die in der Präsidentschaft Bengalen in Erscheinung trat; dieses Kleidungsstück, waghalsig untailliert, hing gerade herunter wie ein Kartoffelsack und erregte den Neid jedes Beau auf der Chowringhee Road. Auf Geheiß seiner Frau setzte sich der Doktor unverzüglich hin und schrieb eine warmherzige Einladung an Fleury und Miriam, den Dunstaples bei einem Familienpicknick, das sie im Botanischen Garten einzunehmen planten, Gesellschaft zu leisten. Aber selbst als er den Brief versiegelte, kam Dr. Dunstaple nicht umhin, sich zu fragen, ob Fleury sich wirklich als das erweisen würde, was seine Frau erwartete. Tatsache war, dass Harry während seiner Zeit in Addiscombe einmal ein paar Tage bei den Fleurys auf dem Land gewesen war und seinem Vater später davon erzählt hatte. Im Lauf seines Aufenthalts hatte Harry den jungen George nur selten zu Gesicht bekommen, aber eines Abends, als er zu Bett ging, angenehm müde, nachdem er den ganzen Tag mit dem älteren Fleury auf der Jagd gewesen war, hatte er der schwirrenden, mondhellen Nacht sein Fenster geöffnet und, sehr schwach, die Klänge einer Geige gehört. Er war sicher, es müsse George gewesen sein. Am nächsten Morgen hatte er die besagte Geige, ein paar taufeuchte Notenblätter auf einem Musikpult sowie einen hohen, mittelalterlichen Kandelaber entdeckt … und das alles in einer »zerfallenen« Pagode am Ende des Rosengartens.

      Dem Doktor kam dies wie ein Beweis der häuslichen Tragödie vor, die er für seinen Freund befürchtet hatte. Vielleicht war George verrückt? Jedenfalls schien es beunruhigend, dass er nicht mit Harry auf die Jagd gegangen war. Und dann, Geige spielen für die Eulen, die aus dem Sternenhimmel stoßen, nun ja, das schien auch nicht ganz normal.

      Am nächsten Morgen spähten die Ladies diskret aus einem der oberen Fenster, als eine ziemlich verdreckte gharry* vor dem Haus der Dunstaples in Alipore hielt. Sogar Louise spähte hinaus, obwohl sie leugnete, an der Art von Kreatur, die da herauskommen mochte, auch nur im Geringsten interessiert zu sein. Wenn sie zufällig am Fenster stand, dann nur, weil Fanny auch dort stand und sie versuchte, Fannys Haar zu kämmen.

      »O Liebes, lass dich nur nicht blicken, was würde er denn denken!«, stöhnte Mrs. Dunstaple. »Sei vorsichtig.« Aber sie selbst starrte begieriger hinaus als alle anderen.

      »Da ist er!«, schrie Fanny, als ein ziemlich zerknittert aussehender junger Mann aus der gharry kletterte und sich benommen umsah. »Sieh doch, wie dick er ist!«

      »Fanny!«, schalt Mrs. Dunstaple, allerdings etwas halbherzig, denn es stimmte, er sah ziemlich dick aus; aber seine Schwester sah schön aus, und ihre schlichte Eleganz ließ den Ladies kleine Seufzer entfahren.

      Während die Frauen von ihrem ersten Blick auf Fleury ein wenig enttäuscht waren, war der Doktor eindeutig erfreut. Seine Befürchtungen hatten über Nacht zugenommen, sodass er sich nun, da Fleury sich als ein relativ normaler junger Mann erwies, darauf einstellte, dem Sohn seines Freundes mit vorsichtigem Optimismus zu begegnen. Doch im Nu wich die Vorsicht unverhohlener Befriedigung, und er fühlte sich so erleichtert und zuversichtlich, so dankbar, dass Fleury nicht das verweiblichte Individuum war, welches er erwartet hatte, dass er sogar begann, Fleury auf die männlichen Lustbarkeiten hinzuweisen, die er in Kalkutta finden könne … Junge Männer müssen sich die Hörner abstoßen, wie er sehr wohl aus seinen eigenen wilden Zeiten wusste … und er begann, die Vergnügungen der Stadt aufzuzählen: die Pferderennen, die Bälle, die schönen Frauen, die Tafelgesellschaften und guten Kameradschaften und anderes mehr. Er selbst, deutete er an, vergessend, dass Fleurys Schwester Witwe war, habe als junger Mann viele glückliche Stunden in der Gesellschaft lustiger junger Witwen und dergleichen verbracht.

      »Aber nicht mit Eingeborenen«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. »Die hab ich nie angerührt, nicht mal als junger Draufgänger.«

      Bestürzt, den Freund seines Vaters in Person dieses jovialen Libertin zu finden, tat Fleury sein Bestes, um zu antworten, wünschte sich aber insgeheim, Miriam wäre dabei, um das Gespräch auf einem allgemeineren Niveau zu halten. Miriam jedoch wurde von den Ladies oben empfangen. Allem Anschein nach waren sie noch nicht fertig mit dem Ankleiden.

      Der Doktor erklärte unterdessen, während sie im Gesellschaftszimmer auf und ab spazierten, leider würden er und seine Familie demnächst wieder nach Krishnapur abreisen … was allerdings, genau genommen, eher für die Ladies zum Verzweifeln sei als für ihn, weil die Jagdsaison fürs Sauspießen schon seit Februar lief und nur bis Juli dauerte … in der Tat sei das Beste schon vorbei, denn bald würde es zu heiß sein, um auch nur einen Finger zu heben. Abgesehen davon müsse er zurück, um das Kantonnement vor den Behandlungen eines neumodischen Arztes namens McNab zu bewahren, den sie der Militärgarnison von Captainganj unlängst aufgezwungen hätten. Seine Miene verdüsterte sich etwas beim Gedanken an McNab, und er begann, wie geistesabwesend mit den Fingern zu knacken. »Was Louise und ihre Anwärter betrifft«, fügte er vertraulich hinzu, vergessend, dass auch Fleurys Name genannt worden war, »wenn sie so schwer zufriedenzustellen ist, soll sie es eben nächstes Jahr nochmal versuchen.« Fleury geriet durch diese Information irgendwie in Verlegenheit, und um weitere Vertraulichkeiten zu vermeiden, erkundigte er sich, ob es in Kalkutta viele weiße Ameisen gebe.

      »Weiße Ameisen?« Der Doktor erschrak einen Augenblick, in Erinnerung an die Geigen und die Eulen. »Nein, ich glaube nicht. Zumindest, nun ja, es mag wohl welche geben, irgendwo –«

      »Ich habe eine Menge Bücher mitgebracht. Darum habe ich mich nur gefragt, ob ich Vorkehrungen treffen sollte, um sie zu schützen.«

      »Oh, ich verstehe, was Sie meinen«, rief der Doktor erleichtert aus. »Ich glaube, darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. In Krishnapur, vielleicht, aber nicht hier.« Da hatte er sich einen solchen Schrecken eingejagt, wegen nichts und wieder nichts! Es hätte ihn kaum mehr durcheinanderbringen können, wenn Fleury ihn geradewegs nach gedünsteten weißen Ameisen in einer Pastete gefragt hätte! Was für ein alter Trottel er doch wurde, aber wirklich.

      Jetzt endlich hörte man die Ladies herunterkommen, und der Doktor und Fleury bewegten sich auf die Tür zu, um sie zu begrüßen. Dabei streifte der Ärmel des Doktors eine Vase, die auf einem kleinen Tisch stand und am Boden zerschellte. Die Ladies traten unter Jammergeschrei und erregten Rufen über den Anblick der beiden Scherben auflesenden Gentlemen ein.

      »Mein junger Freund«, sagte der Doktor tröstend zu Fleury. »Bitte, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war ganz und gar nicht Ihre Schuld, und im Übrigen war es kein wertvolles Stück.« Er lächelte Fleury gütig an, der verdutzt zurückstarrte. Was zum Teufel meinte der Doktor? Natürlich war es nicht seine Schuld. Wie sollte es?

      Dieses


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