Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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man verkehrte, gab es jede Menge Leute, die den Collector auf der Straße gesehen hatten, aber niemand hatte gehört, dass er irgendwo an ein Ziel gelangt wäre.

      Außerdem wurde der Collector jetzt, da die Sonne während der Mittagszeit vom Himmel brannte, oft am Straßenrand im Schatten eines Baumes gesehen (auch Sie hätten ihn dort stehen sehen, wenn Sie damals in Kalkutta gewesen wären), gedankenverloren stand er da (über eine Möglichkeit nachdenkend, kicherten die Leute, die Zivilisation mit der Eisenbahn ins Mofussil* zu bringen, um die Eingeborenen zu beruhigen), wie ein Mann, der auf das Ende eines Regenschauers wartete, obwohl natürlich keine Wolke in Sicht war. Aber welche Gründe auch immer zu den langen Pausen unter Bäumen führten, sie nährten mit Sicherheit den Glauben, der Collector habe seine warnenden Besuche aufgegeben. Nur warum er in diesem Fall nicht einfach zu Hause blieb, konnte keiner erklären.

      Selbstverständlich gab es eine andere Erklärung, die niemand vermutete. Jetzt, da es nicht mehr der neuste Schrei war, vom Collector besucht und gewarnt zu werden (inzwischen fand man es in der Tat eher lächerlich, denn wenn er mit seinem Besuch so lange gewartet hatte, rangierte man offensichtlich nicht sehr weit oben auf seiner Liste einflussreicher Personen), wurde er zweifelsohne von vielen, die er besuchen wollte, mit der Ausrede abgewiesen, sie seien zu beschäftigt.

      Und dann, eines Tages, ziemlich plötzlich, war er verschwunden. Offenbar hatte er beschlossen, Kalkutta seiner Unwissenheit zu überlassen, und war nach Krishnapur zurückgekehrt, um seinen Pflichten nachzugehen. Eine Zeitlang hörte man nichts mehr von ihm.

      Der Friedhof, auf dem Fleurys Mutter begraben lag, ist in Kalkutta immer noch zu sehen, an der Park Street, nicht weit vom Maidan entfernt. Heutzutage ist es ein erstaunlicher, einsamer Ort, verwahrlost und verwildert. Viele der erhabensten viktorianischen Grabsteine stehen schief, andere sind umgefallen oder wurden absichtlich zertrümmert. Sehr oft sind auch die Bleibuchstaben aus den Inschriften geklaubt worden, eine kleine, den Toten von den Lebenden auferlegte Steuer. Nahe dem Tor drängen sich ein paar arme Familien unbehaglich in Hütten, die sie aus Stöcken und Lumpen errichtet haben; kein Wunder, dass sie sich so unwohl fühlen, denn sogar für einen Christen herrscht hier eine unheilvolle Atmosphäre.

      Zu Fleurys Zeiten jedoch war das Gras geschnitten und die Gräber waren gut gepflegt. Abgesehen davon war er, wie man es erwarten mag, ein Liebhaber von Friedhöfen; er liebte es, dort zu sinnieren und seinen Herzensregungen zu lauschen, indem er die abgekürzten Biographien auf sich wirken ließ, die er in die Steine eingemeißelt fand … so beredt, so bündig! Gleichwohl, nachdem er ein oder zwei Stunden am Grab seiner Mutter gegrübelt hatte, beschloss er, es genug sein zu lassen, denn schließlich will man das Herumschleichen auf Friedhöfen ja auch nicht übertreiben.

      Der Entschluss war kein sehr plötzlicher. Seit dem Alter von sechzehn Jahren, als er erstmals begann, sich für Bücher zu interessieren, hatte er, sehr zur Betrübnis seines Vaters, körperliche und sportliche Dinge gering geschätzt. Er war von einer melancholischen und lustlosen Gemütsverfassung gewesen, ein Opfer der Schönheit und Traurigkeit der Welt. Im Lauf der letzten zwei oder drei Jahre jedoch hatte er bemerkt, dass seine düstere und schwindsüchtige Art nicht mehr ganz so wirkte, wie sie einmal gewirkt hatte, insbesondere auf junge Ladies. Sie fanden seine Blässe nicht mehr so interessant, sie wurden ungeduldig mit seiner Melancholie. Die Wirkung, oder die verfehlte Wirkung, die man auf das andere Geschlecht ausübt, ist insofern wichtig, als sie einem verrät, ob man in Fühlung mit dem Zeitgeist steht, dessen Hüter unveränderlich das andere Geschlecht ist. Um die Wahrheit zu sagen, war die Welle der Empfindsamkeit für das Schöne, für Sanftmut und Melancholie allmählich abgeflaut und hatte Fleury zappelnd auf einer Sandbank zurückgelassen. Dieser Tage waren junge Ladies mehr an den Vorzügen von Tennysons »großem, breitschultrigem, leutseligem Engländer« denn an bleichen Dichtern interessiert, dämmerte es Fleury. Louise Dunstaples Vorliebe, mit lustigen Offizieren herumzutollen, die ihn am Tag des Picknicks bestürzt hatte, war keineswegs die erste Abfuhr dieser Art gewesen. Sogar Miriam fragte ihn manchmal laut, warum er so »hündisch« blicke, wo sie einst geschwiegen und »seelenvoll« gedacht hätte.

      Trotzdem, man ändert seinen Charakter nicht über Nacht, nur um ihn der Mode anzupassen, auch nicht, wenn man will. Manche eigensinnige Menschen in Fleurys Dilemma bleiben lieber so, wie sie angefangen haben, und geben sich damit zufrieden, ihre Epoche als philisterhaft oder verweiblicht oder was auch immer sie selbst nicht sind zu betrachten. Ein wirkliches Problem wird es erst, wenn man sich verliebt, wie Fleury, und attraktiv sein will.

      Einen oder zwei Tage lang wurde Fleury ziemlich aktiv. Er musste sein Buch über den Fortschritt der Zivilisation in Indien voranbringen, und das war auch ein Grund, warum er Interesse am Verhalten des Collectors entwickelte. Er stellte viele Fragen und kaufte sich sogar ein Notizbuch, um einschlägige Informationen festzuhalten.

      »Wenn die indischen Völker unter Ihrer Herrschaft glücklicher sind«, fragte er einen Beamten der Schatzkammer, »warum bleiben sie dann in einheimischen Staaten wie Hyderabad, die so miserabel regiert werden, und wandern nicht aus, um hierherzukommen und in Britisch-Indien zu leben?«

      »Die Apathie des Eingeborenen ist allgemein bekannt«, erwiderte der Beamte steif. »Er ist nicht unternehmerisch.« Fleury schrieb »Apathie« in schnörkeliger Handschrift nieder, und dann, nach kurzem Zögern, fügte er »nicht unternehmerisch« hinzu. Unglücklicherweise überlebte dieser Energieausbruch die bleiernen Fakten nicht, die ihm genannt wurden, um die segensreichen Wirkungen der Company zu illustrieren. Als er von den spektakulären Steigerungen der Zoll-, Opium- und Salzeinnahmen hörte, verfiel er in einen Stupor, und nicht lange danach sah man ihn wieder lustlos auf einem Sofa liegen, in einen Gedichtband vertieft.

      Dr. Dunstaple war von Louise und von Mrs. Dunstaple bedrängt worden, ihre Abreise nach Krishnapur zu verschieben, bis der letzte Ball der kühlen Jahreszeit stattgefunden habe. Dann könne Louise noch am selben Nachmittag Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin in der St Paul’s Cathedral sein. Der Doktor seufzte. Wieder waren ein paar glückliche Schweine seinem Spieß entgangen. Er tanzte nicht gern.

      In der Festhalle war die Temperatur weit über neunzig Grad Fahrenheit, die hohen Fenster standen offen und punkahs flatterten wie verwundete Vögel über den Köpfen der Tanzenden. Obwohl Fleury sich nicht vorstellen konnte, wie man bei einer solchen Hitze tanzen sollte, hatte Louise ihre Tanzkarte im Nu gefüllt; als er kam, um sich zu bewerben, war zu seinem Leidwesen nur noch der galloppe frei. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und zog ihn schimmernd, wie mit Olivenöl bestrichen zurück. Auch die Ladies konnten nicht kühl aussehen; noch so viel Reispuder konnte den Glanz ihrer Gesichtszüge nicht mattieren, noch so viel Polsterung konnte feuchte Flecken nicht daran hindern, sich unter ihren Achselhöhlen auszubreiten.

      Ein Wunderwerk nach dem anderen hervorhebend, die Musiker, die prachtvoll livrierten Diener, das köstliche Buffet inmitten der Blumen und Lüster und Topfpalmen, empfahl der Doktor Fleury dringend, diese elegante Szene nicht zu vergessen, wenn es darum ging, Beispiele zivilisierten Verhaltens für sein Buch auszuwählen. Fürwahr, stimmte Fleury zu, dies sei sicher eine Art von Zivilisation, aber irgendwie glaube er, eigentlich werde ein ganz anderer Aspekt gebraucht … ihre spirituelle, ihre mystische Seite, die Seite des Herzens! »Zivilisation, wie sie derzeit ist, denaturiert den Menschen. Denken Sie nur an die Mühlen und die Schmelzöfen … Im Übrigen, Doktor, empfiehlt mir jeder, dem ich in Kalkutta von meinem Buch erzähle, auf dies oder jenes zu achten … einen Kanal, der gebaut worden ist, oder irgendeine grausame Sitte wie Kindstötung oder Witwenverbrennung, die abgeschafft wurde … Das sind natürlich Verbesserungen, gewiss, aber so, wie die Dinge liegen, sind es nur Symptome von etwas, was eine große, heilsame Krankheit sein sollte … Das Problem ist, wissen Sie, dass die Symptome zwar da sind, die Krankheit als solche aber fehlt!«

      »Eine heilsame Krankheit!«, dachte der Doktor, während er einen entsetzten Blick auf Fleurys errötetes Antlitz warf.

      »Hm, das ist alles schön und gut, aber … Hier, nehmen Sie eine von diesen.« Der Doktor bot Fleury sein Zigarrenetui an, wobei er als subtiles Kompliment hinzufügte: »Ich fürchte allerdings, dass sie nicht so gut sind wie Lord Cannings.« Er beobachtete Fleury besorgt. Er hatte gehört, auch wenn es nur ein Gerücht sein mochte, Fleury habe sich im Bengal Club irgendeinen armen Teufel geschnappt


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