Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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erlaubten ihm zu hören, was über »Fortschritt« gesagt wurde. Dies war allerdings kein Thema, das jeden interessierte. Harry zum Beispiel hatte kaum ein Wort gesagt; genau wie sein Vater am anderen Ende des Tisches war er offensichtlich nicht gut für abstrakte Gespräche zu haben. Armer Harry, wahrscheinlich war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass man auch eine »abenteuerliche« Bemerkung machen konnte (wie er, Fleury, es häufig tat), oder dass es »aufregende« Gespräche gab. Im Moment sah er ziemlich blass aus, sicher quälte ihn sein verstauchtes Handgelenk; er hätte wohl besser nicht zum dak bungalow hinausreiten und sich auf dem Rückweg diesem Gerüttel aussetzen sollen.

      Auch Louise blieb still. Nach Fleurys Ansicht tat sie gut daran, ruhig auf ihrem Platz zu sitzen und zuzuhören, was die Gentlemen zu sagen hatten, denn in Gesellschaft viel zu sprechen, ist keine attraktive Eigenschaft für eine junge Lady. Eine junge Lady mit starken Meinungen ist noch schlimmer. Was könnte einem mehr das Herz zerreißen, als eine Vertreterin des schönen Geschlechts ausrufen zu hören: »Erstens dies … und zweitens das …«, während sie mit ihren Fingern die Luft zerhackt und alles, was man gerade gesagt hat, in Kategorien unterteilt? Nein, das besondere Geschick einer Frau besteht darin, ruhig anzuhören, was der Mann zu sagen hat, und dadurch jene Art Atmosphäre zu schaffen, in der gute Gespräche aufblühen können. So jedenfalls dachte Fleury.

      Mrs. Hampton, die Frau des Padre, wagte gelegentlich eine Meinung, da Rang und Reife sie dazu berechtigten … aber sie nutzte ihr Privileg nur, um die Ansichten ihres Ehemanns zu unterstützen, wogegen niemand etwas einwenden konnte. Von den anderen Ladies waren zwei bemerkenswert geschwätzig, oder wären es gewesen, wenn Mrs. Hampton, die sie streng in Schach hielt, sie nicht eingeschüchtert hätte, indem sie ihnen jedes Mal, wenn eine von ihnen versuchte, eine dumme Rede loszulassen, entschieden ins Wort fiel. Eine der beiden, eine hübsche, jedoch ziemlich vulgäre Person, war Mrs. Rayne, die Frau des Opiumverwalters; die andere, noch redseliger als die erste, war ihre Freundin und Gefährtin, die jüngst verwitwete Mrs. Ross.

      Jetzt, da er gegessen hatte, wartete Fleury nur auf eine Gesprächspause, ehe er seine Meinung zum Thema Fortschritt äußerte. Sie bot sich fast unverzüglich an. »Wenn es in unserem Jahrhundert irgendeinen Fortschritt gegeben hat«, erklärte er selbstbewusst, »dann weniger in materiellen als in geistigen Dingen. Denken Sie an den Fortschritt vom Zynismus und Materialismus unserer Großeltern … von einem Gibbon zu einem Keats, von einem Voltaire zu einem Lamartine!«

      »Da bin ich anderer Meinung«, erwiderte Mr. Rayne mit einem Lächeln. »Man kann nur in praktischen Dingen nach Zeichen des Fortschritts suchen. Ideen sind ständig im Wandel, gewiss, aber wer könnte entscheiden, die eine sei besser als die andere? Es sind die materiellen Dinge, in denen Fortschritt klar zu erkennen ist. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich Opium erwähne, aber weiter braucht man wirklich nicht zu gehen, um ein anschauliches Beispiel für Fortschritt zu finden. Opium ist, sogar mehr als Salz, eine große Einnahmequelle unserer eigenen Schöpfung, und heute ist sie ergiebiger als jede andere, abgesehen von der Grundsteuer. Und wer bezahlt es? Na wer schon? John Chinaman … der unser Opium jedem anderen vorzieht. Das ist es, was ich Fortschritt nenne.«

      Der Collector hatte sich seltsam benommen; abwechselnd mürrisch und redselig, vielleicht aus Müdigkeit oder wegen des Claret*, den er getrunken hatte, war er plötzlich wieder redselig. »Meine lieben Freunde, von einer Aufteilung der Bedeutung des Geistigen und des Praktischen kann überhaupt keine Rede sein. Das eine verleiht dem anderen einen Zweck … Und das andere verschafft dem Ersteren ein unerlässliches Werkzeug! Mr. Rayne, Sie haben vollkommen recht, die Steigerung der Opiumeinnahmen zu erwähnen, aber bedenken Sie einen Moment … wozu das alles? Es geht nicht nur darum, Reichtum zu erlangen, sondern durch den Reichtum diesen überragenden Lebensstil, den wir vage als Zivilisation bezeichnen und der so viele Dinge einschließt, sowohl geistige als auch praktische … und von äußerster Diversität … ein System unparteiischer Rechtsprechung auf der einen Seite, und auf der anderen Kunstwerke von einzigartiger, seit der Antike unübertroffener Schönheit. Die Verbreitung des Evangeliums auf der einen Seite, die Verbreitung der Eisenbahnen auf der anderen. Und doch, wo soll ein solches Phänomen angesiedelt werden wie der gigantische stählerne Segeldampfer, die Great Eastern, die unser verehrter Landsmann, Mr. Brunel, derzeit baut und die bald die sieben Weltmeere bezwingen wird? Ist das nicht ein ungeheurer materieller Triumph und der von Gottes Gnaden leibhaftig gewordene Geist der Menschheit in einem? Mr. Rayne, beide, der Dichter und der Opiumverwalter, sind für unsere Weltanschauung notwendig. Was sagen Sie, Padre? Habe ich recht?«

      Trotz seiner schmächtigen Gestalt war Reverend Hampton in Oxford bei den Ruderern gewesen und hatte aus jenen Tagen ein gesundes und bescheidenes Auftreten bewahrt, erleuchtet von einer ernsthaften Schlichtheit des Glaubens, die durch all seine Worte und Gesten hindurchschien. In der von religiösen Streitigkeiten aufgeheizten Atmosphäre, die damals in Oxford herrschte, tat ein Mann gut daran, sich ans Rudern zu halten; die Angriffe der Traktarianer reichten aus, um den Stärksten zu erschüttern; man sagte, in Oxford habe Dr. Whately, derzeit Erzbischof von Dublin, während seiner Predigt sogar ein Bein von der Kanzel baumeln lassen.* Gleichviel hatte der Padre manchmal eine sorgenvolle Miene; der Grund war, dass er fürchtete, die Aufgaben, zu denen der Herr ihn berufen hatte, könnten seine Kräfte übersteigen.

      »Mr. Hopkins, wie Sie wissen, hatte ich die Ehre, genau wie Sie die Great Exhibition zu besuchen, die fast auf den Tag genau vor sechs Jahren in unserem Heimatland eröffnet wurde. Dort umherzuwandern, in diesem großen Glaspalast, so riesig, dass die darin eingeschlossenen Ulmen wie Weihnachtsbäume aussahen, war eine Wanderung durch ein Wunderland der Schönheit und menschlichen Erfindungskunst … Doch unter all den vielen Wundern, die es enthielt, war eines in der amerikanischen Abteilung, das mich besonders beeindruckt hat, weil es das Geistige und das Praktische so glücklich zu verbinden schien. Ich meine die Schwimmende Kirche für Seeleute aus Philadelphia. Diese ungewöhnliche Konstruktion schwamm auf den gepaarten Schiffsrümpfen von zwei New Yorker Klippern und war ganz im gotischen Stil gehalten, mit Kirchturm und Turmspitze … innen gab es einen Bischofsstuhl; außen war sie wie aus braunem Sandstein gestrichen. Während ich sie betrachtete, dachte ich an alle über die Jahrhunderte von Menschen erbauten Kirchen und sagte mir: ›Dies ist sicher die vollkommenste Verkörperung des Glaubens, die es je gegeben hat.‹«

      »Ein großartiges Beispiel«, stimmte der Collector zu. »Eine sehr glückliche Verbindung von Faktischem und Spirituellem, von Tat und Geist.«

      »Aber nein, Sir! Aber nein, Padre!«, rief Fleury so vehement, dass diejenigen Gäste, deren Gedanken während der vorausgehenden Diskussion abgeschweift waren, aufschreckten. Alle Augen richteten sich auf ihn, und während er sprach, fragte er sich, ob er nicht möglicherweise ein ganz klein wenig betrunken war. »Aber nein, mit Verlaub, das ist es ganz und gar nicht. Bitte bedenken Sie doch, Padre, dass eine Kirche nicht mehr Kirche ist, weil sie schwimmt! Wäre eine Kirche denn eher eine Kirche, wenn wir sie mit tausend Ballons in den Himmel aufsteigen lassen könnten? Nur wer fähig ist, den zärtlichsten Regungen seines Herzens zu lauschen, ist fähig zu dieser luftigen Erhebung, die ihn mit dem Ewigen vereint. Was Ihre größten Ingenieure anbelangt, wenn sie nicht auf die Stimme ihres Herzens hören, werden nicht Tausend, nicht Millionen Ballons in der Lage sein, ihre bleiernen Füße auch nur einen Millimeter von der Erde zu heben …« Fleury unterbrach, die Bestürzung im Gesicht des Doktors gewahrend. Er wagte es nicht, einen Blick auf Louise zu werfen. Irgendwie wusste er, dass sie verstimmt sein würde. Jetzt hätte er sich in den Hintern treten können, diese Sachen mit den »zärtlichsten Regungen des Herzens« so herausposaunt zu haben … das war wirklich der allerletzte Spruch bei einem Mädchen wie Louise, das gern mit Offizieren flirtete. Er hatte nichts davon sagen wollen … er hatte geradeheraus und männlich sein und viel lächeln wollen. Was für ein Tor er war! Während er dasaß, kam ihm ein zufälliger, furchterregender Gedanke in den Sinn: Heute Nacht würde er inmitten schlürfender Schlangen schlafen müssen!

      Derweilen blickte der Padre ausgesprochen beunruhigt drein. Dieser junge Mann hatte eine theologische Hasenjagd eröffnet, die vielleicht schwer zu bremsen war, wenn er sie laufen ließ. Er dachte grimmig an seine Studienzeit zurück, als diese Art theologischer Hatz sehr in Mode gewesen war und am Ende leider mehr als einen jungen Mann zu Fall und um seinen Glauben gebracht hatte. Dabei war der Padre schon genug von Sorgen geplagt; abgesehen


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