Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell
nächsten ab, sodass er, benebelt von der Hitze und der Anspannung, den Eindruck hatte, durch ein unbekanntes, sinnliches Element zu taumeln. Gegenwärtig kam ein anderer verlassener Bungalow in Sicht, noch verlorener als der letzte, fast ohne Dach, mit riesigen Disteln, die aus den Fenstern heraus in die Höhe wuchsen. Eine ausgemergelte Kuh, die Hörner grün angemalt, weidete auf ein paar vertrockneten Grasbüscheln, die einst ein Rasen gewesen waren. Dann kletterten sie über eine andere Lehmmauer in ein ebenso dürres, aber besser gepflegtes Anwesen. Als sie sich Raynes Bungalow näherten, durchdrangen Stimmen und Gelächter die Stille und Hitze des späten Nachmittags.
Nach dem blendenden Licht im Freien schien auf der Veranda mitternächtliche Finsternis zu herrschen. Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit und schüttelte Fleury die Hand, indem sie ihn lauthals in Tönen, die er als Raynes erkannte, willkommen hieß. Eine andere Gestalt zeichnete sich ab, verbeugte sich und schlug die Hacken zusammen: Das war Burlton, der die Schatzkammer betreute. Er schien ein empfindlicher junger Mann zu sein, einer, der gefallen wolle und maßlos über alles lache, sagte Rayne. Drinnen war noch ein Mann, bisher nur schemenhaft wahrgenommen, der von seinem Sessel aus eine sich verbeugende Bewegung machte, als er Fleury vorgestellt wurde; zugleich lachte er sardonisch; sein Name war Ford, einer der Eisenbahningenieure. »Immer erfreut, einen Griff zu treffen«, sagte er gedehnt.
»Wir haben Ford und seinesgleichen, aber hol mich der Henker, wenn die Eisenbahn je Krishnapur erreicht«, spottete Rayne, der offenbar einigermaßen betrunken war. »Wo ist denn der verdammte Träger? Ram, bring dem Sahib was zu trinken … Simkin! Das bedeutet Champagner, alter Knabe. Wir trinken keinen Tee in diesem Haus.«
Fleury tastete sich zu einem Sessel durch und nahm Platz. Einen Augenblick verfiel Rayne in Schweigen und das einzige Geräusch war sein ziemlich schweres Atmen. Als der Träger mit einem Glas Champagner für Fleury zurückkehrte, sagte Rayne laut: »Wir nennen diesen Kerl ›Ram‹. Das ist nicht sein wirklicher Name. Sein wirklicher Name ist Akbar oder Mohammed oder so was in der Art. Wir nennen ihn Hammel, weil er aussieht wie ein Hammel. Und das ist Monkey«, fügte er hinzu, als ein anderer Diener mit einem Teller Feingebäck hereinkam. Monkey hob nicht den Blick. Er hatte sehr lange Arme, fürwahr, und eine ziemlich affenartige Erscheinung.
»Wo sind die Mems*?«, wollte Ford wissen, aber es kam keine Antwort.
»Bald ist es kühl genug für einen Kanter.«
»Sollen wir nicht solange Karten spielen?«
Aber niemand rührte sich. Fleury schlürfte seinen Champagner, der unangenehm sauer schmeckte. Er hörte Chloë auf der Terrasse jaulen, wo einer der Diener sie angebunden hatte. Im Moment kam ein anderer Diener mit einer Kiste Stumpen herein; er war älter und würdevoll, aber außerordentlich klein, fast ein Zwerg.
»Wie würden Sie diesen Wicht nennen?«, fragte Burlton.
»Ant«, sagte Rayne.
Burlton schlug sich auf den Schenkel und lachte hemmungslos.
»Ich würde gern wissen, was Mr. Fleury von dieser Meerut-Geschichte hält«, sagte Fort. »Was? Ist das zu fassen? Verdamm mich, wenn er überhaupt davon gehört hat! Wo waren Sie den ganzen Tag?« Und entzückt machte er sich daran, Fleury zu erzählen, was als ein größtenteils erfundener Bericht über einen grauenhaften Aufstand irgendwelcher Sepoys erschien, lauter »pummelige junge Griffins, ungefähr so alt wie Sie«, die »im besten Mannesalter in Stücke gehackt« worden seien. Fleury merkte, dass er zum Besten gehalten wurde, war aber trotzdem alarmiert.
»Keine Sorge«, sagte Burlton herablassend; er war schon fast ein Jahr in Indien und nicht mehr ganz so ein Griffin wie Fleury. »Jack Sepoy mag in der Lage sein, wehrlose Leute niederzumetzeln, aber richtigem Schneid hält er nicht stand.«
»Wann war das alles?«
»Was haben wir heute? Dienstag. Es war Sonntagabend.«
Ford hatte derweilen das Interesse an Meerut verloren, aber von Burlton konnte Fleury in etwa erfahren, was geschehen war. Zwei Eingeborenenregimenter der Infanterie hatten ihre Offiziere erschossen und offen revoltiert; bald hatten sich die badmashes* aus dem Basar hinzugesellt und waren plündernd über das britische Kantonnement hergefallen. Während des Ausbruchs der Unruhen waren die britischen Truppen zur Kirchenparade gewesen. Am Ende hatten sie den Aufstand niederschlagen können, aber die Meuterer waren mit den Feuerwaffen entflohen. Die Telegraphendrähte waren gekappt worden, kaum dass die erste Nachricht von den Ereignissen eingetroffen war, aber es kursierten alle möglichen grausigen Gerüchte. Krishnapur lag fast fünfhundert Meilen von den Unruhen entfernt. Dennoch, Nachrichten verbreiteten sich in Indien auch ohne Telegraphen in Windeseile … man brauchte nur an die Geschwindigkeit zu denken, mit der sich die Chapatis verbreitet hatten. Was niemand wusste, war, ob die in Captainganj stationierten Sepoys dem Beispiel folgen und das Kantonnement von Krishnapur angreifen würden.
»Ant! Monkey! Simkin her, aber dalli!«
»Natürlich wissen sie es schon, kann gar nicht anders sein«, sagte Burlton. »Es haut mich um, Rayne, wie diese verflixten Eingeborenen eher davon hören konnten als ich. Heute Morgen habe ich mitgehört, wie die Babus* im Büro des Magistrate über Meerut redeten. Sie sagten, die rebellierenden Sepoys seien auf dem Marsch nach Delhi, und bald würde das Mogulreich wiederauferstehen.«
»Wers glaubt, wird selig! Die Leute wissen, wo es ihnen gut geht. Das würden sie nicht zulassen.«
»Nun ja, sie schienen zu glauben, dass es so kommen kann. Sie wollten wissen, wer die zweiundfünfzig Rajas sind, die sich versammeln würden, um den Kaiser auf den Thron zu heben.«
Aber Rayne und Ford waren an Burltons Hirngespinsten nicht interessiert, und Ford sagte vernichtend: »Das Erste, was man in Indien lernt, Burlton, ist, nicht auf den verdammten Unsinn zu hören, den die Eingeborenen immer verzapfen.« Woraufhin der arme Burlton vor Scham errötete und Fleurys Blick mied.
Inzwischen hatte sich Fleury an die Dunkelheit gewöhnt und konnte erkennen, dass Ford ein Mann mit groben Gesichtszügen um die vierzig war; trotz seines geringeren gesellschaftlichen Status als Ingenieur hatte er Rayne und Burlton eindeutig im Griff. Ford sagte unangenehm: »Vielleicht wird Mr. Fleury uns erzählen, was er darüber denkt, wo er doch so viele Busenfreunde unter den ›hohen Tieren‹ in Fort William hat.«
»Also, was ich denke, ist Folgendes«, begann Fleury … doch was er dachte, wurde nie enthüllt, denn in diesem Moment sprangen seine Gesprächspartner plötzlich auf. Vor Schreck sprang auch Fleury auf; nach dem ganzen Gerede über Meuterei lagen seine Nerven blank. Aber es waren nur die beiden Ladies, die den Raum betraten.
»Was für ein widerwärtiges Geschöpf!«, rief Mrs. Rayne aus, ein reizendes Lächeln auf dem Gesicht.
»Wie bitte?«
»Oh, Burlton. Würde es Ihnen etwas ausmachen, dem kleinen Wichtelmann zu sagen, dass er frischen simkin für die Ladies bringen soll?«
»Haben Sie nicht von der Frau im dak bungalow gehört, Mr. Fleury, eine Engländerin, die sich schändlich benommen hat? Wie ich höre, war der Padre schon mehrfach draußen, um sie zur Vernunft zu bringen.«
»Kann man dieses liederliche Mädchen nicht wegschicken?«, fragte Mrs. Ross. »Sie kann doch nicht ewig im dak bungalow bleiben. Und das Recht, in der Gesellschaft tugendhafter Frauen zu leben, hat sie endgültig verwirkt.«
»Ist es denn wahr, Sophie«, stichelte Ford, »dass
›… alles Leid ein Recht auf Tränen hat im Lande,
nur nicht der gefehlten Schwester Schande‹?«*
Ford hatte seinen Sessel näher an den von Mrs. Ross gezogen und seine lethargische Haltung aufgegeben.
»Wie sehr wünschte ich mir, Florence hätte ein Klavier«, jammerte Mrs. Ross, abrupt das Thema wechselnd. »Meine Finger brennen regelrecht darauf, zu spielen. Ich fürchte, Mr. Fleury wird in Krishnapur gar wenig von den Annehmlichkeiten der Zivilisation finden, habe ich recht?« Mit weit geöffneten Augen sah sie Fleury fragend an.
»Also«, begann