Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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sich den Reisenden in der unbequemen gharry hinzugesellt, einem Gefährt, das große Ähnlichkeit mit einem länglichen Kasten auf vier Rädern ohne Federung besaß; sie hatten schon fast zwei Tage in diesem Transportmittel verbracht und ihre weichen Körper schrien nach Bequemlichkeit. Miriam hatte die meiste Zeit der Reise ihre Nase in ein Taschentuch vergraben, während schmierige Tränen aus ihren Augen flossen, nicht wegen einer erneuten Aufwallung ihres Kummers um Captain Lang, sondern wegen des erstickenden Staubs, der ihre Augäpfel reizte. Was Fleury anbelangt, so wurde seine Erregung bei der Aussicht auf ein Wiedersehen mit Louise durch Zweifel gedämpft, als was für ein Ort sich dieses Krishnapur erweisen würde. Die ausgedörrte Ebene, die sie durchquerten, war wenig verheißungsvoll. Sehr wahrscheinlich gab es dort nur Unbequemlichkeit und Schlangen. Unter solchen Umständen, fürchtete er, würde er nicht glänzen.

      Harry hatte ihn mit einer Mischung aus Wohlwollen und Vorsicht begrüßt, und eine Weile hatten sie hoffnungsvoll, allerdings vergeblich versucht, ein gemeinsames Interesse zu finden. Der Joint Magistrate sei erkrankt und zur Heilung in die Berge gegangen, von wo er, so befürchte man, nicht zurückkehren werde, hatte Harry erklärt, darum wolle man ihnen, solange er nicht da war, seinen Bungalow zur Verfügung stellen.

      Chloë, überwältigt von der Hitze, hatte sich hechelnd auf Fleurys Schoß geworfen und war dort eingeschlafen. Er versuchte, sie herunterzuschubsen, aber ein Hund, der nicht von seinem Platz bewegt werden will, kann sich in der Tat sehr schwer machen, und so musste er sie wohl oder übel liegenlassen. Fleury selbst war nicht gerade vernarrt in Hunde, aber er wusste, dass junge Ladies es in aller Regel waren. Er hatte Chloë, deren goldene Locken ihn an Louise erinnerten, einem jungen Offizier abgekauft, der sich beim Pferderennen ruiniert hatte. Zu dieser Zeit hatte er Chloë als ein feinsinniges Geschenk gedacht; ihre goldenen Locken hatten sich in seinem Geist mit der Vorstellung von hündischer Treue und Ergebenheit vermischt. Er wollte Chloë als eine erste Salve im Werben um Louises Zuneigung benutzen. Aber inzwischen fand er sie nur lästig.

      Als sie sich Krishnapur näherten, sahen sie auf der Straße ein paar Reisende, auch einige Sepoys, die sehr schmuck aussahen in ihren roten Röcken und schwarzen Hosen. Als sie an ihnen vorbeifuhren, salutierten die Sepoys der Bleiche der Gesichter, die sie im trüben Inneren der Kutsche gewahrten (ganz zu schweigen von Chloës goldenen Locken). Nur Harry bemerkte stirnrunzelnd, dass einer oder zwei von ihnen mit der linken Hand salutiert hatten; wäre er allein gewesen, hätte er angehalten und sie wegen einer so vorsätzlichen Respektlosigkeit gemaßregelt; doch unter den gegebenen Umständen musste er so tun, als hätte er es nicht bemerkt. Sie fuhren schwerfällig an einem Kamel vorbei, das als Zugtier vor einen Karren gespannt war, und Fleury starrte zweifelnd auf den Gurt um seinen ballonartig aufgeblähten Bauch … all diese fremden Anblicke ließen ihn wieder melancholisch werden, ein einsamer Wanderer auf Erden. Alte Männer saßen auf ihren Fersen gegen die Wand des Wohnsitzes eines Nabob* gelehnt, und neben ihnen, an die Wand gekettet, saß ein staubiger Löwe. Als Nächstes passierten sie eine bis auf Lampen aus buntem Glas leere Moschee und ratterten über eine Eisenbrücke. Eine Familie gelbgrüner Affen starrte feindselig zu ihnen hinauf, die Augen wie polierte Klumpen Jade.

      Und dann tauchten sie in den Basar ein, massenhaft bevölkert mit Menschen in weißem Musselin. Wo mochten sie nur alle leben? Ein unpassendes Bild von hundertfünfzig zusammengekauerten Menschen auf dem Fußboden des Gesellschaftszimmers seiner Tante in Torquay kam Fleury in den Sinn. Plötzlich schlingerte die gharry und bog in ein Tor ein. Sie waren angekommen. Ihn verließ der Mut.

      Aber sie waren nicht angekommen. Harry war ausgestiegen und stritt mit einem Mann, der rufend neben der Kutsche hergelaufen war und sie veranlasst hatte, in diese Einfahrt einzubiegen, die, wie sich herausstellte, zum dak bungalow gehörte. Harry schien ziemlich wütend zu sein; hier hatte er absolut nicht halten wollen. Es folgte eine mühsame Verhandlung, da sich Harrys Sprachvermögen auf ein paar häusliche und militärische Befehle beschränkte. Er geriet außer sich und begann zu schreien; Soldaten sind bekannt für ihre Reizbarkeit, wenn man sich ihrem Willen widersetzt. Doch obwohl der Mann bei jedem neuen Ausbruch leicht zusammenzuckte, blieb er standhaft. Sie hätten noch eine Weile so weitermachen können, Harry schreiend, der Eingeborene zuckend, wäre nicht ein anderer Mann aufgetaucht, der, älter und sehr dick, aus der Richtung des Bungalows herbeieilte. Als er zu sprechen begann, sah Fleury, dass sein Mund vom Betelkauen erstaunlich orangerot gefärbt war. Wie hypnotisiert starrte er in diese glühende Höhle, aus der Englisch kam, wenngleich nicht von der Sorte, die er verstand. Dieser Mann sei der khansamah des dak bungalow, erklärte Harry Fleury, und was er sagen wolle, sei … warten Sie!

      Ein Ausdruck des Schreckens trat in Harrys Gesicht, und ohne weitere Worte abzuwarten, rannte er zu dem Bungalow, die Treppe hinauf, und verschwand im Inneren. Fleury wäre ihm gefolgt, hätte Chloë nicht just diesen Moment gewählt, um sich seinem Griff zu entwinden und in den verführerischen grünen Dschungel des Anwesens abzutauchen. Ohne seine Rufe zu beachten, raste sie, die Nase am Boden, davon. Er verfolgte sie verzweifelt und fand sie nach einer langen Jagd versuchsweise den braunen Bauch eines Babys leckend, das sie ziemlich weit entfernt bei den Hütten der Dienerschaft im Dreck spielend aufgestöbert hatte. Unter Schlägen und Schimpfen schleifte er sie zurück. Harry war wieder da.

      »Was war eigentlich los?«

      »Ich dachte, Sie hätten es gehört. Der khansamah sagte, eine Frau versuche sich umzubringen.« Harry legte eine Pause ein, er sah erschüttert aus. »Anscheinend ist sie … also ja, ich glaube, man würde ›betrunken‹ sagen, um es nicht zu beschönigen.«

      »Eine Hindu?«, riskierte Fleury mittelmäßig sicher. Er hatte sich erinnert, dass Mohammedaner nicht trinken.

      »Also, das ist es ja. Sie scheint Engländerin zu sein, fürchte ich. Das heißt, ich wollte sagen, sie ist tatsächlich Engländerin. Ich habe früher schon mal von ihr gehört. Wie es scheint …« Harry räusperte sich gekünstelt. Seine bereits geröteten Wangen wurden röter, und er warf einen verlegenen Blick in Richtung Miriam. »Anscheinend hat ihr irgendein Offizier ihre Tugend geraubt. Dann hat er sie natürlich verlassen, sonst hätte er Ärger mit seinem Oberst bekommen. Sie hat das schon einmal gemacht, wissen Sie. Ich meine, einen Selbstmordversuch. Man weiß wirklich nicht so richtig, was man tun soll.«

      Die Sonne ging unter, als Fleury und Miriam zum Bungalow des Joint Magistrate gelangten. Er erwies sich als ein gelb verputztes Gebäude, umgeben von einer Veranda und um der Kühle willen strohgedeckt. Träger tauchten aus der Dämmerung auf, um sich mit ihren Kisten abzumühen, während sie in die Innenräume spähten. Es gab zwei Schlafzimmer, jedes mit direktem Zugang zu einem eigenen Bad, und zwei weitere Räume, die statt Türen durch Stücke roten Baumwolltuchs voneinander getrennt waren. Miriam, die sagte, sie sei müde, verschwand alsbald mit ihren Kisten im leersten der beiden Schlafzimmer, während sie Fleury sich selbst überließ. Er nahm es ihr übel, ihn so abrupt an diesem unbekannten Ort allein zu lassen; so war sie seit dem Tod ihres Ehemanns.

      Melancholie überkam ihn beim Gedanken an den einsamen Abend, der vor ihm lag. Obgleich der Joint Magistrate fortgegangen war, um in den Bergen zu sterben, hatte er es nicht für angebracht gehalten, seine Sachen mitzunehmen. Einer der Räume hatte als Büro gedient; überall waren Papiere angehäuft. Fleury stieß mit der Spitze seines Stiefels an einen Stapel von Schriftstücken, der ins Rutschen kam und Staub ausdünstend umfiel; das Licht war gerade noch hell genug, um zu erkennen, dass es eine Sammlung der mit dem morschen, ausgeblichenen roten Band des offiziellen Indien-Handels gebündelten Salzberichte war. Es gab auch Blaubücher, Kodizes und zahllose Briefe, manche geordnet, andere wahllos gestapelt. Es schien unvermeidlich, dass niemand je aus den Bergen zurückkehren würde, um diese Masse an amtlichen Papieren zu sortieren. Von der Wand aus starrte ihn missfällig der Kopf eines sehr kleinen Tigers an; zumindest glaubte er, es müsse ein Tiger sein, obwohl er eher einer gewöhnlichen Hauskatze glich.

      Inzwischen war der größte Teil seines Gepäcks in sein Schlafzimmer gebracht worden und wurde unter den Augen des khansamah ausgepackt, wobei dieser seinerseits von Harry überwacht wurde, der hilfsbereit wieder aufgetaucht war und eine Einladung zum Abendessen in der Residenz mitgebracht hatte. Nach und nach wurde der Inhalt seiner Kisten ausgeleert: Bücher und Kleidung, Havannas, Brown Windsor Seife, Konfitüren und Konserven in wundersamerweise unzerbrochenen


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