Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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Unterredung mit dem gefallenen Mädchen im dak bungalow gehabt und es immer noch so berauscht gefunden hatte, dass es der Stimme des Gewissens nicht zugänglich war. Doch er hatte noch eine größere Sorge als das, denn mit der englischen Post, die am selben Nachmittag von der dak gharry geliefert worden war, war eine Nummer der Illustrated London News mit einem starken Leitartikel wider eine Gefahr gekommen, derer er sich noch nicht einmal bewusst gewesen war … das Vorhaben einer neuen Bibelübersetzung. Es bedurfte nicht des Leitartikels, um ihm das Ausmaß der Gefahr, die da über der christlichen Welt schwebte, klarzumachen. Die Bibel war heilig, und der Padre wusste, dass man etwas Heiliges nicht verändern darf. Menschen schickten sich an, heilige Worte verbessern zu wollen! In ihrem Wahn und ihrem Stolz machten sie sich daran, den göttlichen Urheber zu bearbeiten.

      Doch zugleich konnte er nicht verstehen, warum es hatte sein sollen, dass die Bibel überhaupt, auch das erste Mal, übersetzt werden musste … warum sie auf Hebräisch und auf Griechisch geschrieben wurde, obwohl Englisch doch die nächstliegende Sprache war, denn außerhalb einer entlegenen Ecke der Welt konnte kaum jemand Hebräisch verstehen, während Englisch in jeder Ecke jedes Kontinents gesprochen wurde. Der Allmächtige hatte, wohl wahr, nachträglich eine wunderbare Übersetzung erlaubt, als hätte er seinen Irrtum bemerkt … aber natürlich, der Allmächtige konnte nicht irren, so ein Gedanke war absurd. Hier merkte der Padre, dass er in Angelegenheiten von äußerster theologischer Komplexität eindrang, die sein Gehirn verblendete. Es war so heiß, und man durfte sich nicht wie ein Widder in der Hecke der Sophisterei verfangen. Er versuchte sich zu sammeln, und sagte milde, aber fest: »Ich stimme Ihnen zu, Mr. Fleury, dass eine Kirche ein Haus Gottes ist, in welcher Gestalt auch immer. Mit der Schwimmenden Kirche habe ich ein Beispiel von Menschen angeführt, die Gott einen Erfindungsgeist höchsten Ranges weihen.«

      Armer Fleury, er hatte sich überstürzt zu weit in den Sumpf der Disputation gewagt. Sein Stolz stand auf dem Spiel, und er konnte nicht mehr zurück. Er konnte nur noch vorwärts, obwohl jeder saugende Schritt, den er nach vorne tat, Louises Verachtung unvermeidlich steigern musste.

      »Aber ich glaube, weihen ist nicht genug. Wir rechnen, wir folgern, wir beobachten, wir bauen, wo wir fühlen sollten! Wir tun all diese Dinge, statt zu fühlen.«

      Harry Dunstaple rutschte ungeduldig auf seinem Platz herum, bleicher denn je; er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was das sollte, so viel Gerede um nichts.

      Die strengen Züge des Collectors hatten einen Ausdruck gut gelaunter Ungeduld angenommen; während Fleury sprach, hatte er einen der Träger etwas holen geschickt, und gerade kehrte der Mann mit drei Lederbänden zurück. »Dieses unser Universum folgt Gesetzen, die wir in unserer bescheidenen Unwissenheit kaum wahrzunehmen vermögen, geschweige denn verstehen. Doch wenn Gottes Güte uns erlaubt, einige wenige seiner Wunder zu erforschen, ist es nur recht, dass wir es tun. Nein, Mr. Fleury, jede Erfindung ist ein Gebet zu Gott. Jede Erfindung, noch so groß, noch so klein, ist eine bescheidene Nachahmung der größten aller Erfindungen, des Universums. Lassen Sie mich nur aufs Geratewohl aus dem Katalog jener Ausstellung zitieren, die der Padre eben erwähnt hat, der Great Exhibition, die ich Sie bitte, als ein gemeinsames Gebet aller zivilisierten Nationen zu betrachten … Lassen Sie mich sehen, hier, Nummer 382: Gerät, um die Blinden schreiben zu lehren. Modell einer Luftmaschine und eines lenkbaren Ballons. Feuervernichter von R. Weare aus Plumstead Common. Ein Haustelegraph mit nur einer Glocke für beliebig viele Räume. Ein ausziehbares Pianoforte für Yachten und so weiter. Künstliche Zähne, aus Nilpferdelfenbein geschnitzt, von Sinclair und Hockley aus Soho; ein Universalbohrer zur Entfernung von Zahnfäule. Ein Kieferhebel, um Tieren die Mäuler aufzusperren. Verbessertes Doppel-Bruchband für Leistenbrüche, erfunden von einem Arbeiter … Der Erfindungsgeist der Menschheit scheint unerschöpflich zu sein, und ich könnte endlos fortfahren, Beispiele zu zitieren. Aber ich bitte Sie nur, diese bescheidenen Kunstwerke der gottgegebenen Fähigkeit des Menschen, zu beobachten und zu berechnen, als winzige Fortschritte der Menschheit im Streben nach Vereinigung mit jenem höchsten Wesen zu betrachten, in dem alles Wissen ist und ewig sein wird.«

      »Amen«, murmelte der Padre automatisch. Aber hatte eine leise kleine Stimme gerade versucht, ihm etwas zuzuflüstern?

      Der Collector hatte im Ton einer Autorität gesprochen, der die Diskussion beendete. Einen Augenblick war Fleury versucht, eine letzte hitzige Tirade loszulassen … aber nein, das kam nicht infrage. Fleury blieb stumm, ein Hauch von Blamage haftete ihm an.

      Es war schon hell, als Fleury erwachte. Ringsum herrschte ein tiefes und bedrückendes Schweigen, als wäre der Bungalow verlassen; die punkah, die während der ganzen Nacht rhythmisch geflattert hatte, hing jetzt reglos herunter; in der stehenden Luft klebte sein Nachthemd an der Haut. Doch als er auf die Veranda hinausblickte, war alles normal. Der punkah-wallah* war einfach eingenickt; er hockte dort auf der Veranda, immer noch das Seil haltend, das zu einem Loch hoch oben in der Wand führte. Neben ihm butterte der khansamah einen Frühstückstoast mit dem fettigen Flügel eines Federviehs; als er Fleury sah, weckte er den punkah-wallah mit einem Tritt, und ohne ein Wort zu sagen nahm der Mann das rhythmische Ziehen an dem Seil genauso wieder auf, wie er es die ganze Nacht hindurch getan hatte.

      Fleury zog sich rasch an, dankbar, den trinkenden Schlangen in der Nacht nicht zum Opfer gefallen zu sein, und frühstückte dann mit Miriam, die bereits aufgestanden war. Sie verbrachten den Vormittag zusammen, bis Miriam sich für einen Besuch bei den Dunstaple-Ladies ankleiden musste. Die Stunden schleppten sich dahin. Fleury fand es zu heiß, um nach draußen zu gehen. Er versuchte ein Buch zu lesen. Miriam war noch nicht zurück, als Rayne, der Opiumverwalter, gegen vier Uhr einen seiner Diener hinüberschickte, um Fleury zum Tee einzuladen. Im Schatten der Veranda beobachtete Fleury Raynes Diener unter einem schwarzen Schirm aus den Tiefen des Anwesens zu ihm heraufhasten; auf der Veranda angelangt, schüttelte er den Schirm heftig aus, wie um Sonnentropfen abzuschütteln.

      Am Vortag war Fleury nicht zu Rayne gegangen, doch nun war seine Langeweile so akut, dass er beschloss, die Einladung anzunehmen. Unter dem Schirm des Dieners machte er sich auf den Weg, begleitet von Chloë, die den ganzen Tag geschlafen hatte und voller Energie war. Raynes Anwesen, stellte sich heraus, war nur durch ein paar leerstehende Bungalows von dem des Joint Magistrate getrennt. Die beiden jungen Beamten waren enge Freunde gewesen und hatten sich so daran gewöhnt, einander formlose Besuche abzustatten, ohne über die Straße zu gehen, dass ein Trampelpfad durch den Dschungel entstanden war, zu dem sich die verwahrlosten Gärten der Nachbarschaft ausgewachsen hatten … kein richtiger Pfad eigentlich, denn an manchen Stellen war das Blattwerk in der Hitze schon verdorrt und es gab keine Spur von einem Pfad. Raynes Träger führte ihn an einem verlassenen Bungalow mit Löchern in dem strohgedeckten Dach und einer absackenden Veranda vorbei; an der Seite, auf einem kleinen Hügel, lag das von Würmern wimmelnde Gerippe eines Fahnenmasts, während nach vorn heraus ein Albtraum knalliger Geranien wucherte. Als sie sich von dem Bungalow entfernten, gab es plötzlich ein raufendes Geräusch, dann Stille.

      »Was war das?«

      »Schakal, Sahib.«

      Sie kletterten über eine niedrige Lehmmauer, durch eine Masse wilder Rosen, noch in Blüte, und krochen durch ein schattenloses Dickicht. Auf einmal blieb Fleury wie angewurzelt stehen, jemand lauerte ganz nahe im Gestrüpp, beobachtete ihn. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass dort ein Bildnis stand, ein kleiner, dicker Mann mit schwarzem Gesicht und sechs Armen. Ein Pfad führte zu ihm hin; es war ein Schrein. Fleury trat näher, begleitet von dem Träger, der ihm den Schirm über den Kopf hielt. »Lord Bhairava«, erklärte er.

      Lord Bhairavas Augen stachen weiß aus einem schwarzen Gesicht hervor, und er schien Fleury boshaft und belustigt anzusehen. Einer der sechs Arme hielt einen Dreizack, ein anderer ein Schwert, der dritte schwenkte einen abgetrennten Unterarm, der vierte hielt eine Schale, während der fünfte eine Handvoll abgeschlagener Köpfe an den Haaren hielt: Die Gesichter der Köpfe hatten dünne Schnurrbärte und drückten Verwunderung aus. Die sechste Hand, leer, hielt die drei Mittelfinger hoch. Bei näherer Betrachtung sah Fleury, dass Besucher Münzen und Essen in der Schale hinterlassen hatten und dass noch mehr Essen an Lord Bhairavas kichernden Lippen klebte, die außerdem voller Purpur waren, wie mit Blut beschmiert. Fleury wandte sich schnell ab, erschrocken ob der unerwarteten Begegnung


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