Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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gestaltetes Möbelstück, das in häuslichen Notlagen, welche Fleury niemals zu erleben hoffte, als Wasch- und Schreibpult in einem dienen konnte. Nach einer kurzen Diskussion auf Hindustani wurden seine Bücher auf den Tisch, und dessen Beine in irdene, mit Wasser gefüllte Untersetzer gestellt. Dadurch sollten sie vor Ameisen geschützt werden, erklärte Harry. Fleury nickte ruhig, aber ihm kam ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Schlangen zum Trinken an die Untersetzer kröchen, während er schlafend im Bett lag? Etwas warnte ihn jedoch, diese Angst Harry gegenüber zu erwähnen. Harry würde es nicht verstehen. Dann, als er sich in der zunehmenden Dunkelheit genauer umsah, bemerkte Fleury, dass nicht nur die Tischbeine, sondern auch die Schränke und sogar das Bett selbst in randvoll mit Wasser gefüllten Untersetzern standen.

      Bis Fleury die Residenz erreichte, war es viel zu dunkel, als dass er die wütenden Löwenmäulchen, die die Beete neben der Einfahrt bewachten, hätte sehen können, aber er roch den schweren Duft der Rosen … der Geruch störte ihn; wie Weihrauchduft war er stärker, als ein Engländer gewohnt ist. In diesem Moment, müde und entmutigt, hätte er viel darum gegeben, die frische Brise der Sussex-Downs zu riechen. Das sagte er zu Harry Dunstaple.

      »Ja, ich sehe, was Sie meinen«, stimmte Harry vorsichtig zu.

      »Und das, was ist das alles hier?«

      Bei ihrer Annäherung an das Tor waren zwei bedrohlich aufragende Erdwälle aus der Dunkelheit hervorgetreten und hatten sie wie eine Flutwelle verschlungen.

      »Entwässerungsgräben«, sagte Harry steif.

      »Entwässerungsgräben!«

      »Nun ja, eigentlich nicht wirklich zur Entwässerung. Es sind Befestigungsanlagen für den Fall, dass die Residenz verteidigt werden müsste. Eine Idee des Collectors, wissen Sie.« Harry klang missbilligend. Das Militär in Captainganj sah die Erdarbeiten des Collectors gar nicht gerne, eine Sicht, die Harry teilte. Manche, wusste Harry, hätten es unverblümter ausgedrückt und gesagt, der Collector sei verrückt geworden. Jeder in Captainganj glaubte, es bestehe selbstverständlich überhaupt keine Gefahr, doch das, was an Gefahr bestehe, werde durch die zur Schau gestellte Ängstlichkeit des Collectors maßlos geschürt. Gleichwohl, der Collector hatte die höchste Gewalt in Krishnapur inne, noch höher als die General Jacksons. Der General konnte in Captainganj tun und lassen, was er wollte, aber das war die Grenze seines Reichs; seine Autorität war ringsum eingebettet in die des Collectors, dessen Herrschaft sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Aus Harrys Sicht hatte die Autorität des Collectors Ähnlichkeit mit der eines römischen Kaisers, so fehlbar ein Collector als Mensch auch sein mochte, als Repräsentant der Company gebot er Respekt. Es lag in der Natur der Dinge, dass ein römischer Kaiser oder ein Collector gelegentlich verrückt wurde, darauf bestand, sein Pferd zum General zu befördern, und man ihn bei Laune halten musste; so etwas droht in jeder starren Hierarchie. Aber in Captainganj herrschte die Meinung, dass es zu keinem schlechteren Zeitpunkt hätte passieren können; das Militär wurde lächerlich gemacht. Die Kunde vom Verhalten des Collectors in Kalkutta hatte die Kasernen schon erreicht, zusammen mit spöttischen Kommentaren von Offizierskameraden anderer Standorte. Niemand mag Gespött, auch nicht verdientermaßen, aber für einen Soldaten ist es wie ein Teppich aus glühenden Kohlen. Die Residenz war nicht ihr Zuständigkeitsbereich, aber die Leute würden es glauben oder so tun, als glaubten sie es; die Leute würden sagen, sie »unkten«! Das ängstliche Verhalten des Collectors würde auf sie abfärben.

      Und doch, obwohl Harry all das dachte, brachte er es nicht über sich, es auszusprechen … jedenfalls nicht gegenüber Fleury; unter vier Augen mit einem Offizierskameraden würde er sich vielleicht erlauben, über den Collector zu lästern, aber gegenüber einem Fremden, auch wenn es fast ein Vetter war, hätte es sein Ehrgefühl verletzt. So war ein missbilligender Tonfall das Äußerste, was er sich bezüglich der Entwässerungsgräben erlauben konnte … wie auch immer, inzwischen hatten sie die Gräben hinter sich gelassen und ihre Stiefel klackten auf den Stufen des Portikus.

      Die Residenz war um diese Abendzeit von Lampen erleuchtet. Die Marmortreppe, die sich Fleurys Blick gleich am Eingang darbot, vermittelte ihm das köstliche Gefühl, ein heimatlich zivilisiertes Haus zu betreten; seine Augen, ausgehungert nach solcher Nahrung, seit er Kalkutta verlassen hatte, folgten gierig dem geschwungenen Geländer, bis es sich unten wie das Horn eines Widders einrollte. Nicht nur Fleury, auch andere Europäer hatten sich an dieser Treppe ergötzt; in Kalkutta wäre sie einem wohl nicht besonders aufgefallen, aber hier, im Kantonnement von Krishnapur, waren alle anderen Häuser einstöckig; die Möglichkeit, nach oben zu gehen, war ein Luxus, in dessen Genuss nur der Collector und seine Gäste kamen. Tatsächlich war der einzige sonstige Wohnsitz in der näheren Umgebung, der sich einer Treppe rühmen konnte, der Palast des Maharaja von Krishnapur; nicht, dass dies der Gemeinschaft der Engländer viel genutzt hätte, denn der alte Maharaja hatte zwar einen wohlgeratenen Sohn, der in Kalkutta von englischen Privatlehrern erzogen worden war, aber er selbst war exzentrisch, lüstern und sprach kein Englisch.

      Zwei Kronleuchter hingen über dem langen Esstisch aus Walnussholz, und ihr schillerndes Glitzern spiegelte sich in der polierten Oberfläche. Fleurys Lebensgeister waren unverzüglich wieder erwacht, teils dank der zivilisierten Atmosphäre in der Residenz, teils dank den »Entwässerungsgräben« des Collectors, die ihn daran erinnert hatten, was für ein unterhaltsamer Charakter sein Gastgeber war. Er begann, sich eifrig nach weiteren Zeichen von Extravaganz umzusehen. Zugleich versuchte er, die Namen all der Personen, denen er eben vorgestellt worden war, zu erinnern. Er war herzlich von Dr. und Mrs. Dunstaple begrüßt worden, und unhörbar von Louise, die jetzt ein bisschen abseits des Tisches stand, hold und bleich, ihre langen goldenen Locken wie eine Bugwelle vom Scheitel ihres Kopfes herabfließend, die schlanken Finger in geistesabwesender Ruhe auf … also ja, auf was wie irgendeine Maschine aussah. »Hallo, was haben wir denn hier?«, frohlockte Fleury insgeheim. »Eine Maschine im Esszimmer, wie verteufelt sonderlich!« Er schaute genauer hin, was Louise veranlasste, ihre zarten Finger von dem Ding zu lösen und sich, ihn ignorierend, zu entfernen. Es war ein rechteckiger Metallkasten mit einem Trichter an einem Ende und Zahnrädern zu beiden Seiten. Ein leichter Duft von Zitronenverbena schlich sich hinter seinem Rücken an. Als er sich umwandte, war es der Collector, der ihn mürrisch beobachtete.

      »Das ist eine Ginsterpresse«, erklärte er gewichtig, ehe Fleury auch nur fragen konnte. »Wozu die gut ist? Damit Ginster an das Vieh verfüttert werden kann. Die Idee dabei ist, die harten Spitzen der Dornen aufzuweichen, in denen die nahrhaften Säfte enthalten sind. Es heißt, dass Ginster, wenn er einmal durch diese Maschine gegangen ist, von jedem Pflanzenfresser gierig verschlungen wird.«

      In dem Bewusstsein, vom Collector beobachtet zu werden, musterte Fleury das Gerät mit einem höflichen, wissbegierigen Ausdruck.

      »Ah, da kommt der Padre, um das Tischgebet zu sprechen.«

      Kaum hatte das Mahl begonnen, als Gespräche der zivilisiertesten Art rund um den Tisch zu fließen begannen. Fleury schien sich an dem Gespräch zu beteiligen: Er nickte weise, runzelte die Stirn, lächelte und strich sich ab und an bedächtig übers Kinn, aber er war so hungrig, dass sein Geist an nichts denken konnte als an die Speisen, die eine nach der anderen über den Tisch wanderten … den in Backteig frittierten, wie Malzzucker glänzenden Fisch, das Currygeflügel, gewürzt mit Limonensaft, Koriander, Kreuzkümmel und Knoblauch, den zarten Zickleinbraten und die Minzsauce. Während ihm all diese Speisen vorgesetzt wurden, stiegen gelegentlich unzusammenhängende Gesprächsfetzen durch den Nebel seiner Schlemmerei zu ihm auf, starrten ihn wie Fremde an, und verschwanden wieder.

      »Humani generis progressus … Ich zitiere den offiziellen Katalog der Exhibition«, ertönte gespenstisch die Stimme des Collectors. »Doch ich fürchte, Doktor, für diesen Ihren Sohn, der sich eher mit Gewehren und Pferden beschäftigt hat als mit seinen Büchern, muss ich wohl übersetzen … ›Der Fortschritt der Menschheit, der sich aus der Arbeit aller Menschen ergibt, sollte das höchste Ziel der Anstrengung jedes Einzelnen sein.‹«

      Aber Fleurys Natur flüsterte ihm zu, dass es Zeiten gibt, in denen ein Mensch die Probleme der Welt eine Weile sich selbst überlassen muss, bis er erfrischt bereit ist, wieder einzuschreiten und sich ihrer anzunehmen. Und so aß er erbarmungslos weiter.

      Erst


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