Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell

Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell


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auf Lord Canning, nahm Fleury eine Zigarre und fuhr nachdenklich mit der Nase daran entlang. Sein Blick fiel auf zwei hübsche, schwitzende Mädchen in der Nähe, als eines von ihnen ausrief: »Ich hasse Männer, die bei der Polka hopsen!« Auf jedem Londoner Ball hätte ihm dieselbe Bemerkung zu Ohren kommen können. Obendrein hatte er gehört, dass in Kalkutta auch reiche indische Gentlemen zu Bällen im zivilisierten europäischen Stil luden, obwohl sie die englischen Ladies zugleich dafür verachteten, mit Männern zu tanzen, als wären sie »nautch girls«*, etwas, was sie ihren eigenen Frauen niemals gestatten würden. Darin schien ein Widerspruch zu liegen. Es war alles sehr kompliziert.

      Der Doktor hatte Fleury am Ellbogen gefasst und führte ihn zum Buffet. Wo Mrs. Lang denn heute Abend sei? Fleury erklärte, Miriam habe es abgelehnt, mitzugehen, nicht, weil sie noch trauere, sondern weil sie es zu heiß fand, um zu tanzen. Miriam habe ihren eigenen Kopf, brummte er.

      »Was für eine vernünftige junge Frau!«, rief der Doktor neidisch, wünschte er sich doch auch für seine Ladies einen eigenen Kopf, der ihnen sagte, wann es zu heiß zum Tanzen war.

      Sie kamen an einer Reihe erhitzter Anstandsdamen am Rand der Tanzfläche vorbei; die ununterbrochene Bewegung ihrer Fächer verlieh diesen Ladies etwas Flatteriges, etwas von Vögeln, die sich ihr Gefieder putzen. Die aus der Blässe schwer gepuderter Gesichter hervortretenden Augen folgten Fleury ausdruckslos, als er vorbeiflanierte. Er dachte: »Wie wahr, dass englische Frauen im indischen Klima nicht gedeihen! Ihr Fleisch fällt ein, es schmilzt dahin und hinterlässt nur Sehnen, Fasern und Falten.«

      Plötzlich herrschte Aufregung im Ballsaal, wie ein Lauffeuer ging die Nachricht um: General Hearsey war eingetroffen! Das Gedränge im vorderen Bereich der Tanzfläche war so groß, dass der Doktor und Fleury nichts sehen konnten, und so stiegen sie ein paar Stufen der weißen Marmortreppe hinauf. Von dort aus gelang es ihnen, einen Blick auf den General zu erhaschen, und der Doktor konnte nicht anders, er wünschte sich, unwillkürlich zu Fleury hinüberschielend, sein Sohn Harry wäre an dessen Stelle da. Harry hätte alles gegeben, um des tapferen Generals ansichtig zu werden, während Fleury mit seinem von Zivilisationstheorien aufgeweichten Gehirn sicher nicht den Wert des Mannes schätzen konnte, der jetzt langsam durch die Menge der Gäste schritt, von denen viele vortraten, um ihn zu begrüßen; andere, die keine Gelegenheit gehabt hatten, seine Bekanntschaft zu machen, erhoben sich aus Respekt und verbeugten sich, als er vorüberging.

      Aber der Doktor tat Fleury Unrecht, denn Fleury war nicht weniger aufgeregt als er. Fleury hatte sich selbst im Verdacht, ein Feigling zu sein, und hier sah er sich dem Mann gegenüber, der vor dem Zeughaus eines zum Aufruhr bereiten Sepoy-Regiments furchtlos auf den Rebellen, der soeben den Adjutanten erschossen hatte, zugeritten war. Auf die Warnung eines Offizierskameraden, die Muskete des Rebellen sei geladen, hatte der General geantwortet, was in ganz Kalkutta schon zum geflügelten Wort geworden war: »Zum Teufel mit seiner Muskete!« Und der Sepoy, überwältigt von der moralischen Präsenz des Generals, war unfähig gewesen, den Abzug zu drücken. Kein Wunder, dass Fleury seine Theorien im Moment vergaß und sich an dem älteren Soldaten weidete, an dem vollen weißen Haar und Schnauzbart des Generals, an dessen mannhaftem Gebaren, das sein Alter von sechsundsechzig Jahren vergessen ließ. Und als der General, der sich ruhig mit einem Freund unterhielt, aber doch einen müden und angestrengten Ausdruck im Gesicht hatte, seine Augen hob und kurz auf Fleury ruhen ließ, schlug Fleurys Herz, als wäre er kein Dichter, sondern ein Husar.

      Erfrischt durch diesen Anblick personifizierten Muts, stiegen Fleury und der Doktor die Marmortreppe weiter hinauf, zu den Galerien. Hier saßen etliche Leute bequem in Nischen, durch Farne und rote Plüschwände voneinander getrennt, mit einem guten Überblick über die Tanzfläche unten. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen von Höflichkeitsbesuchen zwischen diesen Nischen, und hier war der Ort, wo man die nüchternen Tatsachen der Ehe diskutieren konnte, während sich die jungen Leute unten um die gefühlsmäßigen Aspekte kümmerten. Mrs. Dunstaple hatte einen Platz auf einem Sofa unter einer punkah gefunden und redete mit einer anderen Lady, die ebenfalls eine heiratsfähige Tochter hatte, wenngleich um einiges gewöhnlicher als Louise. Als Mrs. Dunstaple Fleury mit ihrem Ehemann näherkommen sah, konnte sie einen Freudenlaut nicht unterdrücken, denn sie hatte ihrer Gefährtin gerade vorgeschwärmt, welche Aufmerksamkeiten Fleury Louise zuteilwerden ließ, und den unangenehmen Eindruck gehabt, dass ihr nicht ganz geglaubt wurde.

      Fleury verbeugte sich, als er vorgestellt wurde, und setzte sich dann, benommen von der Hitze. Die roten Plüschwände um ihn herum vermittelten ihm das Gefühl, in einem Ofen zu sitzen. Er nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich die ölige Stirn ab. Auf der Tanzfläche unten ging ein Walzer zu Ende, und bald würde es Zeit für den galloppe sein. Soeben tauchte Louise auf, eskortiert von den Leutnants Cutter und Stapleton, die Fleury beide unverschämt anstarrten und sich der Aufgabe, ihn wiederzuerkennen, offensichtlich nicht gewachsen fühlten.

      Fleury blickte bewundernd zu Louise auf; er wusste, dass sie nachmittags Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin aus ihrer Kindheit gewesen war. Die beiden Mädchen waren zusammen aufgewachsen, und nun, nachdem sie einander so oft gesagt hatten: »O nein, du wirst die Erste sein!«, war die Freundin die Erste gewesen, weil Louise so lange brauchte, um sich zu entschließen.

      Fleury sah, dass Louise bewegt war von der Erfahrung, Brautjungfer ihrer Freundin gewesen zu sein; ihr Gesicht war verletzlich geworden, wie zwischen Lachen und Weinen. Er fand diese Verletzlichkeit seltsam entwaffnend.

      Und nun, da Louise in dieser Weise aufgebrochen war, kein Wunder, dass sie, zumindest für ein paar Stunden, jeden Mann anschaute, den sie traf, sogar Fleury, und ihn momentan als ihren zukünftigen Ehemann sah. Mrs. Dunstaple sah erst ihre Tochter an und dann Fleury, der insgeheim mit den Zähnen knirschte und sich an den Knöcheln kratzte, wo er gerade von einer Mücke gestochen worden war. Wie schnell das Leben vergeht! Sie seufzte. Die eher gewöhnliche Tochter ihrer Gefährtin litt unter »Hitzepickeln«, wurde ihr anvertraut. Was für eine Schande! Sie redete mitfühlend daher.

      Es war Zeit für den galloppe. Als sie auf der Tanzfläche ihre Haltung einnahmen, blickte Louise auf und sah Fleury forschend an. Aber Fleury träumte vor sich hin, er dachte selbstzufrieden, dass man in London keine Gentlemen mehr in braunen Fräcken gesehen hätte, wie sie hier getragen wurden, und er dachte an die Zivilisation, dass sie mehr sein müsse, als von einem Land ins andere importierte Moden und Gebräuche, dass sie eine höhere Sicht der Menschheit sein müsse, und wie er in seinem schwarzen Frack erstickte, und was für ein strenger Schweißgeruch den Saal hier unten erfüllte, und ob er den bevorstehenden Tanz wohl überleben würde. Dann, endlich, spielte das Orchester mit einer flotten Melodie auf und setzte die Füße der Tänzer in Bewegung, darunter Louises weiße Satinschühchen und Fleurys Lackstiefel, rhythmisch stürmend und drängend, als fände all dies nicht in Indien statt, sondern irgendwo in einem gemäßigten fernen Land.

      III

      Gegen Ende April legte die dak gharry, die alle vierzehn Tage die englische Post ins Landesinnere beförderte, wie gewohnt ihren beschwerlichen Weg durch die große Ebene nach Krishnapur zurück. Sie zog einen Staubschleier hinter sich her, der zu unerhörten Höhen aufstieg und über mehrere Meilen wie eine Regenwolke in der Luft hing. Außer der Post enthielt die gharry auch Miriam, Fleury, Leutnant Harry Dunstaple und eine Spanieldame namens Chloë, welche einen guten Teil der Reise damit zugebracht hatte, ihren Kopf aus dem Fenster zu stecken und voller Verwunderung den Staub zu beobachten, der von den Rädern aufgewirbelt wurde.

      »Was ich gern wüsste, Harry, wenn ich fragen darf, ob das ein Moslem- oder ein Hindu-Friedhof ist?«

      »Die Hindus begraben ihre Toten nicht, also muss er mohammedanisch sein.«

      »Natürlich muss er das, was für ein Dummkopf ich doch bin!« Einen Blick auf Harry werfend, forschte Fleury nach Zeichen des Spotts, den Neuankömmlinge in Indien, beleidigend »Griffins« genannt, von alten Hasen zu erwarten hatten. Aber Harrys freundliches Gesicht verzeichnete nur höfliches Desinteresse an den Bestattungsbräuchen der Eingeborenen.

      Fleury und Miriam waren beim letzten dak bungalow* auf Harry gestoßen; äußerst zuvorkommend war er ihnen zur Begrüßung entgegengeritten, obwohl er den linken Arm in einer


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