Eure Liebe. Sylke Richter
der Schmerz nicht aufhört
Vorwort
»Und dann habe ich dir eines Tages geschrieben, dass es sich schöner lebt mit dir im Leben, und wir wurden beide, ich weiß, ganz traurig, so froh zu sein.«
Roger Willemsen (2006)
In den vielen Jahren als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin bin ich den unterschiedlichsten Lebens- und Liebesgeschichten begegnet. Nicht selten dachte ich: Wahnsinn, was die Seele so schafft. Verrückt, dass die beiden zusammenbleiben. Schade, dass sich das Paar nun doch trennt. Und immer wieder bin ich beruhigt und auch gelassen, wenn ich erlebe, wie gut die Menschen in ihrem tiefsten Inneren wissen, was sie im Leben brauchen, um sich wohlzufühlen, und was nicht mehr. Alles hat seine Zeit. Alles braucht seine Zeit.
Wenn ich als junge Therapeutin noch dachte, dass meine Aufgabe wäre, Beziehungen zu retten, weiß ich heute, dass wir Paartherapeuten möglicherweise viel bewegen, aber keine Beziehungen retten können.
Wir können die Paare begleiten, ihnen Brücken bauen, über die sie vielleicht gehen werden. Wir können geschützte Räume öffnen und sie einladen, ehrlich miteinander zu reden. Wir können Übungen anbieten, die sie bestenfalls wieder in Kontakt bringen. Manchmal moderieren oder übersetzen wir lediglich und manchmal streuen wir neue Impulse und erzählen von den Erfahrungen und Lösungsideen anderer Paare. Manchmal klären wir auf, sortieren gemeinsam Themen und Lebensphasen, und nicht selten begleiten wir auch die Trennung des Paares.
Das alles bieten wir an, aber wir können niemanden und niemandes Beziehung retten. Das müssen die Klienten schon selbst tun.
Für die eigene therapeutische Grundhaltung schadet es nicht, große Portionen von Gelassenheit, Optimismus und Humor mitzubringen. Ebenso nützlich sind Wertschätzung und Respekt für die vielen unterschiedlichen Arten zu leben und zu lieben. Wir müssen auch nicht immer alles von Grund auf verstehen. Ich erinnere mich an ein Paar, das dabei war, seinen Paar-Raum, sein Wir neu zu definieren. Hitzig diskutierten sie, was dort passieren soll und was nicht. Und wann? Wann wollen sie sich überhaupt treffen? Ich saß abseits und ließ sie miteinander reden. Selten habe ich so wenig verstanden wie bei diesen beiden. Doch ich beobachtete ihren Kontakt, ihr einvernehmliches Nicken, ihre leuchtenden Augen, ihr Einverständnis. Sie schienen genau zu wissen, worüber sie sprachen.
Erleichtert dachte ich: Ja, es ist ihre Liebe, ihr Kontrakt, ihr Leben. Ich muss nicht alles verstehen. Diese Erkenntnis war sehr erhellend und inspirierte mich zu dem Buchtitel: Eure Liebe.
Mein Dasein als systemische Therapeutin findet an verschiedenen Orten statt. Einmal als Lehrende bei der Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung (GST) in Berlin, zusätzlich in einer Gemeinschaftspraxis in Berlin und zukünftig auch in Nordfriesland, Husum. Die letzten sechs Jahre verbrachte ich mit meinem Partner in Südeuropa, und während ich das schreibe, leben wir noch in Italien, doch der Umzug steht schon in den Startlöchern. Auf der Insel Kreta und in der Toskana bot sich die Möglichkeit an, den Paaren ein Paket Urlaub plus Beratung zu schnüren, was sehr gut angenommen wurde. Durch das Urlaubsfeeling, den Ortswechsel und das Gefühl, viel Zeit zu haben, befanden wir in einer optimalen Situation, um an Paarthemen zu arbeiten. Es gab keine gehetzten Termine nach der Arbeit, kein schnell mal noch … Nein. Alle Begegnungen fanden in dem gemächlichen Tempo der südeuropäischen Gelassenheit statt.
Wenn ich Nordfriesland ausreichend kennengelernt habe, werde ich das erprobte südeuropäische Paket auch im Norden schnüren.
Sylke Richter Husum, im Oktober 2020
Einleitung
Wenn zwei Menschen sich ineinander verlieben, leuchtet es. Zwischen ihnen, um sie herum, hinein in den Alltag, und alles, wirklich alles scheint möglich zu sein. Der Anfang kann leise sein, ein zartes Kribbeln oder laut wie ein Paukenschlag, der zum Innehalten verdonnert. Oder auch ganz vernünftig, abwägend, mit leisen Stimmen, die flüstern: Das passt. Behalt den oder die im Auge.
Für die, denen es gerade passiert, dreht sich die Welt entweder eine Spur schneller oder sie bleibt stehen – vor lauter Wonne, lauter Glückstaumel. Liebestrunken werden die beiden immer wieder in Aufruhr versetzt, geraten in einen Überschwang aus Sehnsucht und Verlangen. Fühlen sich nur in der Nähe des geliebten Menschen vollständig und begegnen durch dessen Augen der schönsten Version ihrer selbst. Genießen das Zerfließen der Grenzen von Du und Ich, das Verschmelzen zu einer symbiotischen Einheit. Einem Ganzen. Du bist ich. Ich bin du. Alles ist gut.
Doch eine ewige Symbiose würde jegliche Entwicklung verhindern und die aufkeimende Liebe sofort wieder ersticken. Es ist nur natürlich und folgerichtig, nach intensiver Nähe und Zweisamkeit wieder einen Schritt zurückzutreten. Durchzuatmen und sich in seinen individuellen Lebensraum zu begeben, um dann erneut Nähe zulassen zu können.
Das Paradoxon dieser widersprüchlichen Bedürfnisse, nach Autonomie und Freiheit bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Verbundenheit und Geborgenheit, bringt viele Paare an die Grenzen des Machbaren. Der Freiheitswunsch des einen löst möglicherweise die Verlustangst des anderen aus und der Nähewunsch des anderen könnte als Einengung erlebt werden.
Jedes Paar, das beabsichtigt, länger zusammenzubleiben, wird einige Klippen umschiffen und fünf Entwicklungsstufen durchleben müssen. Diese verlaufen nicht unbedingt so nacheinander, wie es hier steht, sondern wechseln sich ab. Mal ist die eine Phase im Vordergrund, mal die andere. Bunt durcheinander:
1)Du bist ich.
2)Du bist anders.
3)Du bist nicht richtig.
4)Ich bin ich.
5)Du und ich sind wir.
Nach der Zeit der Verschmelzung sehen die Verliebten wieder klarer, erkennen das Anderssein des geliebten Menschen, denken das erste »Ach, guck an, was macht sie morgens für einen Stress? Ich mag es doch viel langsamer«. Oder »Wieso muss er plötzlich so viel arbeiten? War das vor einem halben Jahr auch schon so?«. Und dann beginnt die Zeit der Kompromisse, des Angleichens, des Umerziehens, des Feststeckens. Manche ruckeln sich fast leise zurecht, andere bleiben jahrelang in einer Art Umerziehungsphase oder im Vorwurf hängen: Wenn du anders wärst, wäre ich glücklicher! Wärst du mehr wie ich, wäre alles leichter. Und wieder andere trennen sich zügig, weil sie keine Lust auf den vorhersehbaren Stress haben.
Liebesgeschichten sind die ältesten Geschichten der Welt und werden gern erzählt. Im Film, in Büchern, auf der Bühne, in Songtexten, den Freundinnen, den Kindern und Enkeln. Wie hat es angefangen? Und dann? Und dann? Werden die Hürden genommen, die Prüfungen