Island. Marcel Krueger

Island - Marcel Krueger


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      Marcel Krueger

      Island. Eine Insel und ihre Bücher

      Reclam

      Für Magnús Gísli Arnarson

      1980–2020

      2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung

      Coverabbildung: Jen Leem-Bruggen

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961879-1

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011314-1

       www.reclam.de

      Vorwort

       Þar er landið mitt

       vafið náttkyrri værð

       steypt í stálkaldan ís

       Dort ist mein Land

       Umhüllt von stiller Nacht

       Begraben unter Eis, kalt wie Stahl

      Gerður Kristný (*1970)

      Reykjavík ist fast wie ausgestorben, und Leifur Eiríksson ignoriert mich. Als ich im Schatten der raketenwerferförmigen Hallgrímskirkja, der größten lutherischen Kirche des Landes, an seiner Statue vorbeigehe, starrt er auf den Horizont im Westen, wo sich jetzt, um zehn Uhr morgens, gerade die Dämmerung lichtet. Vielleicht ist sein Blick auf Grönland gerichtet oder die Flugzeuge, die in diesem Moment mit einer neuen Ladung von Touristen durch den Wind in Richtung Flughafen Keflavík trudeln. Die beiden Raben, die auf Leifurs Schultern sitzen, krächzen mich jedoch laut an, es klingt fast höhnisch. Vielleicht sind sie es nicht gewohnt, einen verkaterten Touristen zu sehen, der keine bunte Outdoorjacke trägt oder einen Selfiestick schwingt. Mein Schädel dröhnt, und wäre nicht die Verabredung mit einem Freund gewesen, ich hätte mein Hotelbett nicht verlassen.

      Die einzigen anderen Menschen, die ich auf dem Weg zum Frühstück mit dem isländischen Autor und Sagaforscher Arngrímur Vídalín treffe, sind andere Touristen. Ich höre chinesische, deutsche, französische Wortfetzen auf meinem Weg entlang des Laugavegur, der Prachstraße von Reykjavík. Normalerweise schieben sich hier Touristengruppen und shoppende Isländer aneinander vorbei, und Donnerstag- bis Samstagabend tuckern langsam die SUVs, Jeeps und tiefergelegten Autos der jungen Isländer auf dem Weg zur Rúntur entlang, den traditionellen Kneipentouren in der isländischen Hauptstadt, begleitet vom Geräusch der hochhackigen Schuhe der Gruppen von Isländerinnen, die auf den Bürgersteigen entlangflanieren. Aber die jungen Isländer sind gerade auf dem wackeligen Rückweg von den Hauspartys, zu denen man nach der Sperrstunde um fünf Uhr morgens aufbricht, liegen noch auf den Sofas oder Böden ihrer Gastgeber oder schon in ihren eigenen warmen Betten. Das einzige Geräusch, was ich im Moment hier neben den Gesprächen der Touristen vernehme, ist das Rascheln ihrer Goretex-Jacken und -Hosen. Wie immer sind die Deutschen auf alles vorbereitet, wenn auch die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen Schneesturms in der Altstadt von Reykjavík mit ihren beheizten Gehwegen sehr selten ist. Langsam öffnen die Geschäfte und Cafés und stellen Werbeschilder vor die Fenster, die Papageitaucher-Spielzeuge, Wikinger aus Plastik und Polarlichter- und Eishöhlen-Touren anpreisen. Vieles, was ich an Konsumangeboten auf dem kurzen Stück den Laugavegur entlang sehe, ist auch ein Indiz für das widersprüchliche Islandverständnis der Besucher. Auf der einen Seite lockt die Vorstellung der wilden Vulkaninsel im Nordatlantik, mit fauchenden Geysiren und Vulkanen, die den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegen, mit unwirtlichem und menschenfeindlichem Hochland; und auf der anderen Seite lassen sich viele Touristen jede eigenständige Entdeckung abnehmen und sich alle Informationen in Plastik verpackt schon im Vorfeld der Reise zuschicken. Es ist also kein Wunder, dass Besucher die Natur hier oft unterschätzen und mit zu kleinen Mietwagen in Gebirgsflüssen stecken bleiben, von Strömungen vom Strand gerissen werden und auf Eisschollen abtreiben. Ich komme am ehemals besten Café der Stadt vorbei, dem Tíu Dropar, seit 2016 ein Outdoorladen (natürlich), und muss einen großen Ausfallschritt auf die Straße machen, um der Gruppe asiatischer Touristen auszuweichen, die aus einem Hauseingang kommen und mehr auf die Smartphones am Ende ihrer Selfiesticks fokussiert sind als auf ihre direkte Umwelt. Die Dokumentation des eigenen Ich scheint wichtiger als die Tatsache, dass man sich in einer Stadt befindet, die von den Wikingern gegründet wurde. Ich drücke die Tür des Cafés im Haus daneben auf. Vielleicht wird mit isländischem Kaffee und Rührei meine Laune wieder besser.

      Der Süden als Himmelsrichtung hat mich nie angesprochen. Ich habe immer die gegenüberliegende Seite des Kompasses bevorzugt, aber lange konnte ich nicht wirklich sagen, warum. Sicher nicht, weil ich familiäre Bindungen dazu habe – im Gegenteil. Ich komme aus der kleinen Stadt Solingen im Westen Deutschlands, die nächste Küste 200 Kilometer und die nächsten Berge über 300 Kilometer entfernt. Und doch, seit ich als kleines Kind Geschichten erzählt bekam und dann später selbst las, inspirierte mich keine Himmelsrichtung so sehr wie der Norden. Ich war Stubenhocker und Bücherwurm und verschlang (und tue es immer noch) mit Vorliebe Geschichten über Regen, der hart auf Moore prasselt, über Schiffe in Not und scharfe Klippen in kochendem Meer, über Männer mit Schwertern, die durch dunkle Wälder stapfen, und heulende Schneestürme, die Schnee auf große Holzhallen häufen, während drinnen Feuer lodern und Männer und Frauen lachen und reichlich dunkles, starkes Bier schlucken. Ich bewunderte und verschlang alle Bücher, die ich bekommen konnte und die auch nur im Entferntesten etwas mit dem Norden zu tun haben. So wuchs ich mit den irischen Elfenmärchen der Gebrüder Grimm auf, in der Gemeinschaft des Tolkien’schen Rings und auf Ursula K. Le Guins (1929–2018) Winterplanet (1974). Wo im Norden diese Geschichten stattfanden, ob auf unserem Planeten oder sonst wo, spielte keine Rolle – Hauptsache, es war kalt und stürmisch. Ich liebte irische Folklore genauso wie Geschichten über Thor und Loki oder die Geschichte von Alan Breck Stewart und David Balfour, die Robert Louis Stevenson (1850–1894) in Die Entführung erzählte – und eine ZDF-Weihnachtsserie namens Nonni und Manni (1988).

      Die Sonne des Südens scheint mir fast ein falsches Versprechen zu sein, als streichelte dir jemand über den Kopf, wiegte dich mit Weißwein bei singenden Zikaden in Sicherheit und erzählte dir in der Abenddämmerung am Strand, dass alles gut enden wird. Aber das ist eine Lüge. Die globale Erwärmung macht den Winter im Norden noch extremer: Die Stürme, Überschwemmungen und der Schnee kommen immer früher, und eines Tages fahren wir alle in die Grube. Die Menschen im Norden wussten das schon immer und werden jedes Jahr aufs Neue daran erinnert, wenn die ersten Stürme des Winters Fährüberfahrten unmöglich machen und die Straßen gesperrt werden müssen. All das sind Gründe für meine Nordland-Faszination. Ich bin allerdings kein schroffer Naturliebhaber: Während ich im Herbst und Winter gerne wandere, liebe ich hinterher einen offenen Kamin und schäumendes Bier in der Kneipe umso mehr. Für mich ging es immer um die Reise in den Norden selbst und darum, an einem Ort zu sein, der meine Faszination immer wieder nährt, in der Realität und auf dem Papier. Vielleicht ist es deshalb kein Wunder, dass mich meine Faszination für die Bücher des Nordens, als ich älter wurde, relativ schnell nach Island führte. Und wie ich feststellte, war ich nicht der einzige Bewohner südlicher Gefilde, der vom harschen Vulkaneiland der Wikinger, seiner einzigartigen Literatur und seiner Geschichte inspiriert wurde.

      Das erste Mal besuchte ich Island 2010. Damals war ich mehr am Island der Gegenwart interessiert, an der faszinierenden Musikszene, von der so bekannte Künstler wie Björk (*1965) oder Sigur Rós nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellen. Auf Island existiert wenig Schubladendenken zwischen den Kunstsparten, es gibt kaum Scheuklappen, und hier sind Autoren auch Musiker, Dichter bildende Künstler und Verleger oder andersherum. Die Insel ist ein veritabler Spielplatz der Künste, wenn auch mit denselben Problemen, die freiberufliche Künstler weltweit haben, wie z. B. geringe Honorare, überteuerte Mieten für Studios und Ateliers.

      Die


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