Island. Marcel Krueger
und Organisatoren können sich um finanzielle Unterstützung für Auslandsreisen und entsprechende Literaturveranstaltungen bewerben.
Wie beliebt Bücher in Island sind, zeigt sich nicht zuletzt auch in der Geschäftigkeit der öffentlichen Bibliotheken: Die moderne Stadtbibliothek in Reykjavík zum Beispiel, seit dem Jahr 2000 in einem großen Gebäude in Downtown untergebracht, ist die größte öffentliche Bibliothek Islands mit über 700 000 Besuchern im Jahr – und das in einer Stadt mit 200 000 Einwohnern. Pro Jahr werden alleine hier 1,2 Millionen Bücher ausgeliehen. Insgesamt gibt es in Island 78 öffentliche Bibliotheken, so dass jede der 75 Gemeinden des Landes mindestens eine Bibliothek besitzt, und diese haben einen Buchbestand von über zwei Millionen Exemplaren – also sechs Bücher für jeden einzelnen Einwohner der Insel. Und wie die Buchhandlungen sind auch die öffentlichen Bibliotheken wahrhaftige Kulturzentren und bieten zahlreiche Aktivitäten wie Vorträge, Schreibworkshops oder Vorlesestunden für Kinder an. Die Stadtbibliothek in Reykjavík organisiert im Sommer literarische Stadttouren durch die Nachbarschaft. Außerdem hat sie ein Büchermobil mit dem Namen ›Der Chef‹ (bókabíllinn Höfðingi) und ein Geschichtenmobil mit dem Namen ›Der Narr‹ (Æringi). Das Büchermobil, übrigens das einzige auf Island und mit einer dicken Couch im Heck, besucht unter der Woche fast 40 Orte in ganz Reykjavík und das Geschichtenmobil zur selben Zeit Vor- und Nachschulkindergärten. Überhaupt sind öffentliche Bibliotheken in ganz Island besondere Orte: In der Hafenstadt Akranes im Westen der Insel zum Beispiel liegt die Bibliothek direkt neben der örtlichen Filiale von Eymundsson, ohne dass man sich Konkurrenz macht. Menschen kaufen Bücher, die sie vorher in der Bibliothek gelesen haben, oder sie leihen sich Bücher aus, die sie dann als Geschenke in der Buchhandlung kaufen. Die Bibliothek von Ísafjörður in den Westfjorden ist Teil des Kulturhauses Eyrartuni, das im ehemaligen städtischen Krankenhaus von 1925 untergebracht ist und auch eine Ausstellung zur Geschichte des Hauses und ein Archiv beherbergt. Die älteste und kleinste öffentliche Bibliothek Islands findet man in einem kleinen Holzhaus auf der Insel Flatey im Breiðafjörður, erbaut 1864 und einst Aufbewahrungsort der wichtigen mittelalterlichen Chronik und Sagasammlung Flateyjarbók. Die außergewöhnlichste Bibliothek Islands ist allerdings keine städtische: In Stykkishólmur auf der Snæfellsnes-Halbinsel befindet sich die faszinierende ›Bibliothek des Wassers‹ (Vatnasafn). Dieses 2007 ins Leben gerufene Projekt wurde von der amerikanischen Künstlerin Roni Horn (*1955) initiiert und ist in der ehemaligen öffentlichen Bibliothek untergebracht, allerdings ohne viele Bücher. Die Sammlungen bestehen aus 24 Glassäulen mit Wasser aus Eis von den wichtigsten isländischen Gletschern, und in einem Nebenraum können die Besucher in Roni Horns fortlaufender Buchreihe über Island stöbern. Das untere Stockwerk der Wasserbibliothek ist ein privates Atelier, in das jedes Jahr Schriftsteller zu einem Arbeitsaufenthalt eingeladen werden. Die Residenzen werden abwechselnd von in Island ansässigen und ausländischen Schriftstellern genutzt, darunter die isländische Schriftstellerin Guðrún Eva Mínervudóttir (*1976), die amerikanische Autorin Rebecca Solnit (*1961) sowie die kanadische Dichterin Anne Carson (*1950).
Neben den größten Buchhandlungen des Landes, schrulligen Antiquariaten, der Zentralbibliothek und fast allen wichtigen Literaturinstitutionen des Landes gibt es in Reykjavík das Alþjóðlega bókmenntahátíðin, das Internationale Literaturfestival, das seit 1985 alle zwei Jahre stattfindet. In der Vergangenheit haben weltbekannte Autoren wie Günter Grass (1927–2015), Isabel Allende (*1942), J. M. Coetzee (*1940), Margaret Atwood (*1939), Paul Auster (*1947) und Swetlana Alexijewitsch (*1948) daran teilgenommen. Es gibt das Mýrin Bókmenntahátíð, das Internationale Kinderliteraturfestival, das seit 2001 alle zwei Jahre stattfindet, und Literatur ist immer auch wichtiger Teil des Programms des Reykjavík Arts Festival, das ebenfalls im Zweijahresrhythmus stattfindet. Da ein großer Teil der Künstler in Island multidisziplinär und kollaborativ arbeitet, ist das jährliche Iceland-Airwaves-Musikfestival ein ebenso wichtiges Event im Kulturkalender, bei dem Musiker gemeinsam mit Schriftstellern auftreten.
Im Jahr 2011 wurde Reykjavík als erste nichtenglischsprachige Stadt zur UNESCO-Literaturstadt ernannt, als insgesamt fünfte Stadt der Welt, die diesen Ehrentitel erhielt – mittlerweile gibt es 39 solcher Literatur-Weltstädte. Um diesen Titel zu würdigen und zu fördern, hat die Stadt als Unterabteilung des Kulturamtes die Reykjavík Bókmenntaborg UNESCO & Bókmenntavefur ins Leben gerufen, die Reykjavík UNESCO Literaturstadt & Literaturnetz. Diese Institution betreibt neben ihrem Programm und ihrer Residenz die Website bokmenntaborgin.is, ein fantastisches Repositorium an Informationen, Leseproben und Bibliografien fast aller isländischen Schriftsteller der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart mit Bezug zu Reykjavík. Die englischsprachige Version der Website richtet sich gezielt an ein internationales Publikum und präsentiert auch Auszüge aus bislang noch nicht übersetzten Klassikern oder neuen Veröffentlichungen als Appetithappen. Für Autoren selbst ist der isländische Schriftstellerverband oder Rithöfundasamband Íslands (RSÍ) die wichtigste Institution. Er wurde 1974 gegründet und ging als eigenständige Organisation aus dem Schriftstellerverband des isländischen Künstlerverbands hervor. Ziel der Organisation ist es, die Interessen und Rechte der Schriftsteller zu schützen, eine allgemeine Unterstützungsstruktur für isländische Autoren zu schaffen und die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Heute hat der Verband rund 500 Mitglieder, darunter Lyriker, Romanschriftsteller, Drehbuchautoren, Dramatiker, Akademiker und Übersetzer.
Die Freude am Lesen und Schreiben begleitet die Einwohner Islands von klein auf. Jede weiterführende Schule, auch die Fach- und Berufsschulen, hat eine Bibliothek, die neben Werken zum jeweiligen Schwerpunkt der Schule einen umfassenden Bestand an Allgemeinliteratur bereitstellt. Der jeweilige Schulbibliothekar unterbreitet den Lehrern proaktiv zu jedem Schuljahr die für die jeweiligen Stufen passenden Angebote. Die Bibliotheken sind aber auch nicht nur reine Orte der Ausbildung und des Lernens, sondern werden aktiv als Freizeit- und Rückzugsorte für die Schüler beworben. Und natürlich stehen die Klassiker der isländischen Literatur wie die Sagas oder die Werke von Halldór Laxness seit Jahrzehnten auf dem Lehrplan. Aber nicht alle isländischen Schüler werden begeisterte Literaten. 2019 hat das isländische Radio Schüler nach ihrer Leselust befragt, und ein Gymnasiallehrer gab an, vor 20 Jahren mit den Schülern drei Laxness-Romane gelesen zu haben, heute sei es aber nur noch einer.
Die Insel ist und bleibt aber dennoch ein Land der Leseratten. Isländer bezeichnen sich als bókaþjóð, als Buchnation, und der Begriff wird nicht im übertragenen Sinn verwendet: Es gibt im Isländischen dieses Wort nur in Bezug auf Island selbst und nie auf ein anderes Land. Island ist die Buchnation, und die Menschen hier lesen und schreiben wie kaum sonst jemand auf der Welt. Jeder Zehnte geht hier durch die Straßen und sammelt Eindrücke und Geschichten, um diese weiterzuspinnen und in Buchform zu erzählen, und wenn sich die auf den ersten Blick schroffen Isländer einmal warmgeredet haben, hat jeder hier eine Geschichte (oder vier) zu erzählen. Die Zahl derjenigen, die hauptberuflich als Schriftsteller arbeiten, ist allerdings mit der in Deutschland vergleichbar: In einer Umfrage des Schriftstellerverbandes RSÍ im Jahr 2017 gaben nur 34 Prozent der Mitglieder an, vom Schreiben leben zu können.
Island kann also ohne Übertreibung als eine Kultur des Wortes bezeichnet werden, besonders weil die mittelalterlichen Handschriften bis in die Gegenwart identitätsstiftend bleiben. Durch die Texte konnten die Isländer über Jahrhunderte dänischer Kolonialherrschaft ihre kulturelle Identität bewahren, denn die Sagas handeln zum großen Teil nicht von irgendwelchen fernen Königen, sondern von Bauern, Fischern und Naturgewalten. Die Themen der isländischen Literatur haben sich in den letzten 70 Jahren aber deutlich geändert, doch erst ab den 2000er Jahren konnte die neueste Generation von Autoren aus dem übermächtigen Schatten Laxness’ heraustreten und eine moderne isländische Literatur schaffen. Die zeitgenössischen Schriftsteller behandeln vor allem Themen der Gegenwart, die sie in der ganzen Welt finden, und sind nicht mehr nur auf die Insel beschränkt. Isländische Literatur ist einerseits kritisch heimatverbunden, andererseits weltoffen, kosmopolitisch. Die Wertschätzung des geschriebenen Wortes und die Betonung des kulturellen Fortschritts haben dazu geführt, dass Künstler auf Island einen sehr hohen Status in der Gesellschaft innehaben. Vertreter der kreativen Künste gelten heute nicht nur als das sprichwörtliche Gewissen des Landes, sondern werden auch mehr als in anderen Ländern zu Aktivisten und Politikern – wie zum Beispiel der Schriftsteller Andri Snær Magnason (*1973;