Island. Marcel Krueger

Island - Marcel Krueger


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sind in Island geschriebene (und stattfindende) Kriminalgeschichten, insbesondere im englisch- und deutschsprachigen Raum, und es gibt hier einen extrem hohen Anteil an Krimiautoren, deren Werke auch in anderen Medien wie geschnitten Brot verkauft werden. Kino- oder TV-Krimis, die auf den Werken internationaler Literaturstars wie Yrsa Sigurðardóttir (*1963) oder Ragnar Jónasson (*1945; s. Kap. 11), basieren, sind global so erfolgreich wie ihre Bücher. Island mag also ein Beweis dafür sein, dass eine feindliche und gnadenlose Natur, so gruselig sie auch erscheinen mag, nicht immer das Schlimmste im Menschen und seine innersten Dämonen hervorruft –, sondern stattdessen die Fantasie seiner Bewohner sprießen lässt.

      Die isländische Natur spielt eine entscheidende Rolle in der Literatur und ist ebenfalls mit den Sagas verknüpft: Die Erfahrungen der kleinen und unbedeutenden Menschen im Angesicht der harten Natur der gnadenlosen Vulkaninsel bilden den Rahmen fast aller Erzählungen. Es an einem solchen gnadenlosen Ort, wo das reine Überleben schon schwierig genug war, auch noch zustande zu bringen, Bücher zu schreiben und darin Geschichten zu erzählen, die die Menschen bis heute inspirieren, ist wirklich beeindruckend. Die Geschichten der Sagas sind fiktiv, aber nie unrealistisch und immer in der Landschaft der Insel verankert. Wie die Liebe zum Spiel mit Sprache ist die Wahrnehmung der dramatischen Natur mit ihren Lavafeldern, Lawinen und Schneestürmen eine der Triebfedern für den isländischen Drang zum Geschichtenerzählen, zum Schreiben und Lesen von Büchern. In anderen Ländern gibt es römische Tempel und Amphitheater, Raubritterburgen und Kathedralen, die an die Vergangenheit erinnern. In Island gab es lange Zeit: nichts. Anstatt auf Ruinen oder auf altertümliche Bauwerke können die Isländer nur auf einen Fluss oder Gletscher zeigen und sagen: Hier haben sich diese und jene Geschichten abgespielt, und deswegen heißt der Ort jetzt soundso. Isländische Geschichte und Geschichten sind immer fest in der Natur der Vulkaninsel verankert, und viele der Künstler und Autoren sind von ihrer Heimat inspiriert. Aber niemals idealisierend oder verniedlichend und immer mit dem Blick nach außen.

      Die Faszination von unbarmherziger Natur und einer 800-jährigen Tradition des Romans hat isländische Literatur immer schon für andere spannend gemacht. Spätestens seitdem Island 2011 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war und durch neue Übersetzungen und eine breite Präsenz in den Medien viele neue Leser gefunden hat, ist die Lust auf Bücher aus dem Norden in Deutschland ungebrochen und sind isländische Autoren gern gesehene Gäste auf literarischen Veranstaltungen im ganzen Land. Deutschland ist nach Großbritannien und Frankreich der größte Absatzmarkt für Autoren und Verlage aus Island, und dieses Interesse zeigt sich auch in den Veröffentlichungen: Alleine seit 2017 wurden mehr als 50 Bücher aus dem Isländischen ins Deutsche übersetzt und in Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlicht. Diese Verbindung wirkt natürlich auch andersherum, und deutschsprachige Künstler reisen gerne nach Island, um sich vom Land inspirieren zu lassen (s. Kap. 7). Ein Teil dieser Faszination ist sicherlich eine kindliche, eskapistische Begeisterung für Geschichten über magische Schwerter, Thors Hammer und den Blutadler; ein anderer Teil jedoch ist ein beständiges Interesse an Menschen, Landschaften und Literatur am Rand; an Kulturen, die sich der Zerbrechlichkeit der irdischen Existenz bewusst sind und deren plötzliches und gewalttätiges Ende an dunklen und kalten Orten nicht nur in den Nachrichten vorkommt, sondern Teil des täglichen Lebens ist. Das harsche Vulkaneiland der Wikinger, so unwirtlich es auch war, hat immer wieder Fremde angesprochen, und die dramatische Landschaft und einzigartige Kultur haben ein beeindruckendes Nordland-Œuvre von Autoren aus der ganzen Welt beeinflusst. Von Jules Verne (1828–1905), der 1864 den Eingang zur Reise zum Mittelpunkt der Erde im Snæfellsjökull-Krater verortete, über die Sagen und Volksmärchen über Elfen, die Wilhelm Grimm (1786–1859) schon 1811 in seinen Altdänischen Heldenliedern, Balladen und Märchen übersetzte und die J. R. R. Tolkiens (1892–1973) Der Hobbit (1937) und Der Herr der Ringe (1954) bis hin zu den Thor-Comics aus dem Marvel-Verlag und Neil Gaimans (*1960) Nordische Mythen und Sagen (2017): Island und seine Literatur inspirieren Künstler auf der ganzen Welt schon lange.

      Genau wie seine Bewohner weist dieser Ort eine Vielzahl von Identitäten auf: Island ist vermutlich der letzte Ort in Europa, der besiedelt wurde. Das Land war eine vernachlässigte Kolonie unter Fremdherrschaft, deren Bevölkerung durch Naturkatastrophen fast ausgerottet wurde. Nach den beiden Weltkriegen wandelte Island sich zu einer fortschrittlichen nordischen Demokratie und entwickelte sich schließlich von einem der ärmsten Mitglieder der Europäischen Zentralbank zu einem globalen Finanzakteur, um nur wenig später, 2008, einen spektakulären Staatsbankrott zu erleiden. Island ist heute eines der beliebtesten Reiseziele der Welt und das Interesse an seinen Kulturerzeugnissen ungebrochen. Die faszinierende Insel im Nordmeer ist außerdem vor allem eines: ein Paradies für Buchliebhaber und Geschichtenerzähler. Die Autoren der Insel schreiben sowohl über aktuelle gesellschaftliche Missstände als auch historische Ereignisse, verfassen spannende Krimis, aber auch absurd-komische Werke mit einem Hang zum Grotesken und schaffen es dabei immer, literarische Stile und Themen der Vergangenheit und Gegenwart geschickt miteinander zu verbinden.

      In den folgenden Kapiteln gehe ich anhand der historischen Entwicklung der isländischen Literatur der Frage nach, warum Bücher auf dieser kalten, vom Atlantik umbrandeteten und von Winterstürmen gepeitschten Insel seit jeher derart beliebt sind und warum die Literatur für Island überlebensnotwendig ist, stelle die wichtigsten Schriftsteller der Vergangenheit und Gegenwart und ihre Werke vor und zeige, wie die Verbindung von Geschichte, Natur und Sprache die Literatur zur wichtigsten Kunstform gemacht hat. Wie keine andere ist sie in der isländischen Gesellschaft verbreitet und demokratisch verankert.

      2. Berichte aus dem Nordmeer

       Hass und Hinterlist

       des Althing, Lügen und Weiber,

       Frieden genannte Erschöpfung,

       Erinnern, gefärbt von vergossnem Blut.

      Seamus Heaney

      Lange bevor die ersten Menschen die Insel im Nordmeer bewohnten, übte das außergewöhnliche Landschaftsbild mit seinen feuerspeienden Vulkanen und riesigen Gletschern eine unendliche Faszination auf europäische Autoren der Antike und des frühen Mittelalters aus. Die spärlichen Berichte der ersten Entdecker ließen die Fantasie nur so sprießen – und zogen andere Seeleute an, so sehr, dass diese sich ebenfalls auf Expedition in das eisige Nordmeer begaben. Die ersten Siedler nahmen dann nicht nur die Insel in Beschlag, sondern hielten als begabte PR-Manager ihre eigenen Legenden in der Skaldendichtung fest. Sie verbreiteten sich in ganz Skandinavien und bildeten schließlich die Grundlage für die Sagas und die gesamte Literatur der Insel. Werfen wir einen Blick auf diese Geschichtenerzähler.

       Das Boot wird von den Wellen auf- und abgeworfen. Die Männer in seinem dünnen Rumpf aus Stöcken und Rindsleder rudern um ihr Leben, in der verzweifelten Hoffnung, die kleine Bucht zu erreichen, die sie hinter den Wellenkämmen sehen können. Links und rechts der Bucht donnern die Wellen weißgischtig gegen Steilklippen, und über alldem thronen dunkle, feindselig aussehende Berge. Ist das jenes neue Land, das zu erreichen sie zu Gott gebetet hatten? Eine neue Insel nördlich all der Orte, auf denen sie bisher ihre Klöster gebaut und das Loblied des Herren gesungen hatten?

      Der irische Bootstyp Curragh sieht nicht besonders hochseetüchtig oder vertrauenserweckend aus. Die kleinen Boote werden seit der Steinzeit auf irischen Flüssen, Seen und dem Meer benutzt und sind bis heute im Einsatz. Mit Eichenrinde gehärtete Tierhäute werden über ein Skelett aus Holz gespannt, oft leichtes, aber dünnes Material wie Haselnuss, und die Nähte mit Teer versiegelt. In der Mitte des Schiffs kann ein Mast mit Segel aufgestellt werden, und je nach Größe können in einem Curragh bis zu 30 Personen befördert werden.

      Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen in einem offenen Boot, das von den Wellen an der Mündung eines natürlichen Hafens am westlichen Rand Irlands herumgeworfen wird und von Regen und Brandung durchnässt ist. Das Einzige, was Sie vor dem Ertrinken schützt, ist die dünne aufgespannte Haut einer toten Kuh. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde ein solches Boot benutzen, um sich auf hohe See zu wagen. Aber die verrückten Iren praktizierten es damals, als man zum ersten Mal von »Thule« hörte, schon jahrhundertelang.

      Ein Curragh ist


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