Island. Marcel Krueger
Island mit 200 000 Einwohnern und von herausragender Bedeutung für das gesamte kulturelle Leben des Landes. Die nördlichste Hauptstadt der Welt beherbergt alle wichtigen Kulturinstitutionen, verfügt über eine blühende Kunstszene und ist als kreative Stadt mit vielen Festivals und Events global bekannt. Vor allem seit dem Finanzcrash von 2008 haben sich Island und seine Hauptstadt als eines der wichtigsten Touristenziele weltweit neu erfunden, dementsprechend gibt es hier ein breites Angebot für Buchfans.
Buchhandlungen haben in Island einen großen Stellenwert im öffentlichen Leben. Während die meisten Geschäfte um 19 Uhr schließen, haben die Buchhandlungen hier eine Ausnahmegenehmigung und sind unter der Woche stets bis 22 Uhr geöffnet. Buchhandlungen auf Island waren, wie die Tante-Emma-Läden in Deutschland, immer schon Orte der Begegnung und des gesellschaftlichen Lebens, an denen man in Ruhe einen Schwatz halten und die Nachbarn treffen konnte. Und schon lange bevor Hybridläden in New York und Berlin en vogue waren, konnte man in isländischen Buchhandlungen einen Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen. Stellvertretend für diese gemütliche Atmosphäre ist die in einem alten Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert untergebrachte Buchhandlung IÐA Zimsen in Downtown Reykjavík. Gerade im Winter ein perfekter Ort, um eine Stunde mit einem Kaffee und einem Buch zwischen Lichterketten und Kerzen zu sitzen, wenn draußen der Schnee gegen die Scheiben klatscht. Oder auch mit einem geistreichen Getränk – Zimsen verkauft sogar Bier und Wein. In fast allen Buchhandlungen Islands aber gibt es kleine Cafés mit Wohnzimmeratmosphäre, und der Duft von frischem Kaffee und Kuchen passt perfekt zu den Büchern und lädt zum Verweilen und Lesen ein. Auf der Haupteinkaufsstraße Laugavegur befand sich bis Ende 2020 Mál og Menning, die bekannteste Buchhandlung von Reykjavík, die nach 80 Jahren im Geschäft leider der Coronapandemie zum Opfer fiel. 1937 wurde in diesem Haus auch der gleichnamige unabhängige Verlag gegründet, der die Erstausgaben vieler berühmter isländischer Schriftsteller veröffentlichte, zum Beispiel Þórbergur Þórðarson, Svava Jakobsdóttir (1930–2004), Þórarinn Eldjárn (*1949) und Einar Kárason (*1955). Nach dem Finanzcrash 2008 wurde der Verlag zu einer Tochtergesellschaft von Forlagið, dem heute größten Verlag Islands. Noch älter (und größer) als Mál og Menning ist die Filiale der einzigen isländischen Buchhandelskette Eymundsson an der Skólavörðustígur, der Straße, die in Richtung Hallgrímskirkja führt, Islands größter Kirche. Die Buchhandlung wurde 1872 von Sigfús Eymundsson (1837–1911), einem Fotografen und Buchbinder, gegründet. Sigfús war der erste isländische Geschäftsmann, der Schreibmaschinen und Safes importierte, und auch der erste Fotograf, der Postkarten mit seinen eigenen Fotos veröffentlichte und in seinem Geschäft verkaufte. Heute gibt es 15 Filialen mit fast 200 Angestellten in ganz Island, selbst in abgelegenen Orten wie der Hauptstadt der Westfjorde Ísafjörður mit ihren 3000 Einwohnern oder dem kleinen Ort Húsavík an der Nordküste. Die Läden bleiben selbst im Winter bei minus zehn Grad Celsius und zwei Meter Schnee vor der Eingangstür geöffnet und versorgen die Bewohner weiter mit Büchern. Die Lieferungen neuer Bücher erfolgen im Winter übrigens häufig mit dem Flugzeug oder sogar dem Schiff von Reykjavík aus – auf den neuesten Krimi muss man als Leser also manchmal durchaus länger warten. In Reykjavík gibt es insgesamt acht Filialen von Eymundsson, und die in einem Neubau an der Skólavörðustígur hat natürlich auch ein kleines Café. Isländische Buchhändler sehen sich übrigens nicht in erster Linie als Gastronomen, die neben Speisen und Getränken auch Bücher verkaufen, vielmehr gibt es in Island schon länger ein erweitertes Verständnis von Buchhandlungen als wichtigem Treffpunkt ohne Konsumzwang – kein Wunder in einem Land, in dem selbst die abgelegenste Tankstelle schon seit den Anfangstagen des Kalten Kriegs kostenlosen Kaffee anbietet. Es gibt aber auch Buchläden ohne Kaffee wie das Antiquariat Bókavarðan, kurz Bókin genannt, wo sich Tausende alte Bücher und vergilbte Zeitungen bis fast an die Decke stapeln und das der Lieblingsort des amerikanischen Schachweltmeisters Bobby Fischer (1943–2008) war, der auf Island im Exil lebte.
Aufgrund des kleinen Marktes gibt es auf Island noch relativ viele unabhängige kleine, vorwiegend inhabergeführte Buchhandlungen, wo es sich z. B. für Eymundsson nicht lohnt, eine Filiale zu eröffnen, oder es gibt Cafés, die auch Bücher anbieten, oder an Museen angeschlossene Shops, die häufig ein größeres Sortiment an Allgemeinliteratur führen als in Deutschland und bei denen auch die Nachbarn einkaufen. Die Wertschätzung der Literatur sorgt für ein großes Bewusstsein für die Bedeutung des lokalen Buchhandels, auch weil der Onlinehandel in Island über die Buchläden selbst abgewickelt wird. Amazon liefert wie erwähnt nur gegen Extrakosten nach Island, und trotz einer reduzierten Mehrwertsteuer von elf Prozent auf Bücher (normalerweise 24 Prozent) sind Bücher hier im Schnitt immer noch teurer als anderswo. Die Menschen kaufen also die Bücher lieber gezielt bei ihrem Nachbarn. Dabei schwören die Isländer übrigens weiter auf Printware. In Island werden E-Books erst seit 2011 veröffentlicht, und im Jahr 2014 zum Beispiel machte der Verkauf von E-Books weniger als ein Prozent des Gesamtumsatzes auf dem isländischen Buchmarkt aus, vielleicht weil Bücher hier so oft zu Weihnachten verschenkt werden. Aber auch das ändert sich: 2017 hatten die Verkäufe von E-Books schon um über 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen.
Die isländischen Buchhandlungen spielen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Literaturvermittlung durch klassische Formate wie Lesungen, öffentliche Diskussionsrunden oder Signierstunden, sondern sind Kulturzentren im Sinne des Wortes. Was die Kunst in Island auszeichnet, ist das kaum vorhandene Schubladendenken. Schriftsteller arbeiten häufiger und ohne Scheuklappen mit Musikern, Filmemachern und Theaterleuten zusammen als vielleicht sonst irgendwo in Europa. Und so ist es kein Wunder, dass es in den Buchhandlungen auch Kammerkonzerte, Unplugged-Rockshows oder DJ-Sets zu sehen und hören gibt.
Auch die Verlagslandschaft ist in Island außergewöhnlich. Es gibt fast 30 unabhängige Verlage, häufig Familienbetriebe, die seit vielen Jahrzehnten existieren – und das in einem Land, das weniger Einwohner als Bochum zählt! Die meisten Verlage in Island haben ihren Sitz in Reykjavík, und heute ist das Verlagswesen zu einer boomenden Branche geworden. Die außergewöhnliche Bücherliebe der Isländer erlaubt es auch Nischenverlagen mit eher abseitigen Programmen, solide zu wirtschaften, so zum Beispiel dem Kunstbuchverlag Crymogea, der sich auf Naturbücher spezialisiert hat, oder dem Verlag/Kunstprojekt Tunglið, der immer nur 69 Exemplare eines Buchs pro Jahr druckt (und das auch nur bei Vollmond). Das Weihnachtsgeschäft hat überdies Einfluss auf die Planung von Veröffentlichungen, die sehr schnell vom ersten Manuskript zum fertigen Buchprodukt verarbeitet werden: Traditionell schicken die Autoren ihre Manuskripte im September, damit die Verlage schon Anfang Dezember die Bücher in die Läden bringen können. Das größte isländische Verlagshaus ist Forlagið, wurde 2007 gegründet und hat einen Anteil von 50 Prozent am allgemeinen Verlagsmarkt in Island, viermal mehr als der zweitgrößte Verlag, Bjartur & Veröld. Forlagið ist auch der erste isländische Verlag, der von einem ausländischen Unternehmen aufgekauft wurde: Seit 2020 gehören dem schwedischen Hörbuchverlag Storytel 70 Prozent des Unternehmens, eine absolute Novität auf dem isländischen Buchmarkt. Viele Autoren fragen sich, was aus ihren Urheberrechten und zukünftigen Veröffentlichungen wird, und die Geschäftsführerin des isländischen Schriftstellerverbandes Ragnheiður Tryggvadóttir merkte dazu an:
Die Leute sind geschockt, dass ein derart großer Anteil eines isländischen Verlages jetzt einem ausländischen Unternehmen gehört. Weil wir uns fraglos als Wahrer der isländischen Sprache sehen, und die isländische Sprache ist die Basis unserer nationalen Kultur. Unsere erste Reaktion war, dass das überhaupt keinen Sinn hat.
Das ist wenig verwunderlich: Bis heute liegt der gesamte Produktionsablauf isländischer Bücher alleine auf der Insel: Zwei Druckereien in Reykjavík drucken 70 Prozent aller veröffentlichten Bücher, und vom Lektorat bis zur Kasse im Buchhandel liegt alles in isländischer Hand. Das gilt auch für den Lizenzhandel: Neben Einzelauftritten isländischer Verlage auf den großen Buchmessen in London, Frankfurt oder Leipzig wird dieser zentral vom Miðstöð íslenskra bókmennta, dem isländischen Literaturzentrum mit Sitz in der Innenstadt von Reykjavík, angestoßen. Diese vom Staat finanzierte Institution hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein für die isländische Literatur sowohl im Inland als auch im Ausland zu schärfen und ihre Verbreitung zu fördern, und veröffentlicht zweimal pro Jahr eine Übersicht der neuesten Bücher der Insel für ausländische Verlage. Bei Interesse an einer Übersetzung vermittelt sie direkt an den jeweiligen isländischen Verlag. Ausländische Verleger isländischer