Island. Marcel Krueger
geeignet: ein Schiff, das sich durch seine günstige Herstellung und Austauschbarkeit auszeichnet. Auf Reisen nach Norden sind es eben diese Schiffe, die einen regen Handel mit den schottischen Inseln und den Färöern ermöglichten – und wahrscheinlich auch nach Island segelten. Ein Text des römischen Dichters Rufus Avenius aus dem 4. Jahrhundert, Ora Maritima, beschreibt irische Seeleute, deren »Boote frei auf der rauen Meeresfläche segeln«. »Erstaunlicherweise«, fährt Avenius fort, »bauen sie ihre Schiffe, indem sie Häute zusammennähen und mit offenem Leder das Meer überqueren.« Es scheint also gut möglich, dass sich in solchen Booten im 6. Jahrhundert Mönche aus Irland aufmachten und als erste Menschen den Boden der vulkanischen Insel im Nordmeer betraten, die bis dahin bei einigen Gelehrten und Entdeckern als »Thule« bekannt war.
Vor 2000 Jahren tauchen die ersten Beschreibungen einer Insel im Nordmeer auf. In jener Zeit segelte ein griechischer Entdecker namens Pytheas (um 380 – 310 v. Chr.) von seiner Heimat in der damals griechischen Kolonie Massalia (dem heutigen Marseille) bis zu den britischen Inseln und in den Nordatlantik. Er veröffentlichte um 322 v. Chr. einen Reisebericht, dessen Titel vermutlich Über den Ozean (Περὶ τοῦ ᾿Ωκεανοῦ, Perì toũ Okeanoũ) lautete, und beschreibt hier Fjorde, Eisberge und rund um die Uhr anhaltendes Tageslicht. Ob Pytheas tatsächlich bis Island segelte, ist unklar, doch der von ihm gewählte Name Thule wurde bis ins frühe Mittelalter hinein für die Insel verwendet. Pytheas’ Bericht ging verloren, die wenigen Fragmente seines Textes wurden unter anderem von Eratosthenes (276–194 v. Chr.) und Plinius dem Älteren (23/34–79) überliefert, die Pytheas in ihren Werken allerdings auch als Lügner bezeichneten, weil sie seine Reisen für unmöglich hielten oder sich selbst als Kenner der Materie profilieren wollten. Der im 1. Jahrhundert schreibende Gelehrte Geminos verfasste eine Abhandlung über die Phänomene der Astronomie, in der die Lage Thules südlich des Polarkreises erwähnt wird und die das einzige wörtlich bekannte Zitat des Pytheas enthält:
Für die noch nördlicher von der Propontis (Marmarameer) wohnenden Menschen hat der längste Tag 16 Äquinoktialstunden und für die noch weiter nördlich wohnenden 17 und 18. In diesen Gegenden scheint auch Pytheas von Marseille gewesen zu sein. Er sagt jedenfalls in seinem Werk Über das Weltmeer: »Die Barbaren zeigten uns, wo sich die Sonne schlafen legt.« Denn es traf zu, dass in diesen Gegenden die Nacht nur kurz ist, für die einen zwei, für die anderen drei Stunden, so dass die Sonne nach ihrem Untergang nach einer kurzen Zwischenzeit gleich wieder aufgeht.
Wohin auch immer es Pytheas verschlagen hatte, die nächsten Berichte aus dem Nordmeer lassen fast 700 Jahre auf sich warten. Und dazu brauchte es einen irischen Heiligen. Irland war im 6. Jahrhundert n. Chr. das Zentrum einer lebendigen christlichen Kultur mit zahlreichen Klöstern und angeschlossener Infrastruktur wie Schreibstuben, Brauereien und Bauernhöfen, und diese haben durch Lehren und vor allem die Verbreitung von Handschriften die christliche Zivilisation in Nordeuropa nach dem Niedergang des Römischen Reichs zu einem großen Teil bewahrt. Während dieser Zeit wagten sich irische Mönche auf spiritueller Mission oder auf der Suche nach neuen Orten für Klostergründungen in den Nordatlantik und segelten zu den Hebriden, den Orkney- und Shetlandinseln und den Färöern – und auch weiter nach Norden. Einer der bekanntesten Reisenden dieser Zeit ist die halbmythologische Figur des Heiligen Brendan.
Brendan der Reisende wurde 484 n. Chr. in der Nähe von Tralee in der irischen Grafschaft Kerry geboren und reiste nach seiner Priesterweihe im Alter von 28 Jahren unermüdlich durch Irland und die umliegenden Meere, um Klöster zu gründen und zu erweitern. Der Mönch segelte nach Schottland, Wales und in die Bretagne in Nordfrankreich. Seine epischste Reise unternahm Brendan allerdings erst, als er bereits weit über 70 Jahre alt war. 40 Tage lang fastete und betete er auf einem Berg auf der zerklüfteten Dingle-Halbinsel. Er blinzelte auf die Wellen des Atlantischen Ozeans und wunderte sich, was da draußen war, bevor er sich entschied, den sagenumwobenen Garten Eden zu finden.
Brendan fertigte ein traditionelles irisches Curragh an, und zusammen mit einer 18 bis 150 Mann starken Besatzung (hier sind die mittelalterlichen Quellen nicht ganz so genau) stach er in See. Er begegnete hoch aufragenden Kristallsäulen im Ozean, Riesenochsen, Giganten, die das Schiff mit nach faulen Eiern riechenden Feuerbällen bewarfen, und sprechenden Vögeln, die Psalmen sangen. Schließlich landete das Boot auf einer Insel, die die Iren für das Paradies hielten, ein Land voller Blumen, Früchte und bunter Steine. Nach einem 40-tägigen Aufenthalt forderte ein Engel die Männer auf, nach Hause zurückzukehren. Als Brendan nach siebenjähriger Reise dann auf die eigene grüne Insel zurückkehrte, erzählte er allen Ordensbrüdern von den erlebten Abenteuern und prophezeite seinen baldigen Tod. Der später als Schutzpatron der Schiffer verehrte Heilige starb um 577 n. Chr.
Die Erzählung der Reise des Heiligen Brendan wurde mündlich über Generationen in ganz Europa weitergetragen (und ausstaffiert), bis ein irischer Mönch im 9. Jahrhundert ihn schließlich in einem lateinischen Text mit dem Titel Navigatio Sancti Brendani (Die Reise von St. Brendan) zu Papier brachte. Die meisten Gelehrten betrachten die Reise bis heute einfach als religiöse Allegorie. Es gibt aber auch Forscher, die der Meinung sind, dass der Erzählung eine wahre Reise zugrunde liegt, etwa der Historiker und Schriftsteller Tim Severin (1940–2020), der 1977 mit einem nachgebauten Curragh von Irland nach Neufundland gesegelt ist. Die fantastischen Erlebnisse von Brendan lassen sich mit tatsächlichen Zwischenstopps in Irland und Nordamerika auf einer Nordatlantikroute vergleichen: Die Kristallsäulen könnten Eisberge sein, auf den Färöern leben große Schafe und ein Chor kreischender Vögel, und die übelriechenden Feuerbälle könnten auf das Schwefeldioxid anspielen, das von Islands Vulkanen (ohne die Hilfe von Riesen) ausgestoßen wird.
Aber es gibt noch weitere Quellen über eine Insel im Nordmeer, die von der grünen Insel stammen. 825 verfasste der irische Mönch Dicuil, der sich als Astronom und Geograf betätigte, ein Buch namens Liber de Mensura Orbis Terrae (Über die Abmessung des Erdkreises), in dem Thule erneut auftauchte. In seinem Buch berichtet Dicuil von Gesprächen mit anderen irischen Mönchen, die behaupteten, dass sie bis zur Insel Thule gesegelt seien und Pytheas’ Erzählung bestätigten, dass das gefrorene Meer in einer Tagesreise in Richtung Norden von der Insel aus erreichbar sei. In Irland kannte man die Insel also bereits am Ende des 9. Jahrhunderts.
Während Tim Severin 1977 also bewies, dass eine transatlantische Reise zu St. Brendans Zeiten möglich war, wurden keine archäologischen Beweise für eine irische Siedlung in Island gefunden, bevor die Wikinger anfingen, die Insel zu besiedeln. Die Spuren der ersten Menschen auf dem Eiland finden sich (bis jetzt) nur in Geschichten und auf dem Papier wieder – und in den Namen der Orte.
Ein Beispiel ist Papey, eine kleine Insel im Südosten Islands. Die nur zwei Quadratkilometer große Felseninsel ist heute ein Vogelparadies und wird jeden Sommer von mehreren zehntausend Brutpaaren von Papageitauchern besucht, hat ihren Namen aber nicht von den Vögeln, sondern von irischen Einsiedlermönchen, die hier vor der Ankunft der Wikinger gewohnt haben sollen. Der Name leitet sich ab vom isländischen Wort papar, ein Lehnwort aus dem Lateinischen: Papa bedeutet Papst oder Vater und wird zum ersten Mal von Ari Þorgilsson hinn fróði (Ari der Gelehrte, um 1067/1068–1148), Islands erstem Historiker, der in der Landessprache schrieb, in seinem Íslendingabók (Buch der Isländer) von 1125 erwähnt. Nach den gängigen Theorien haben diese papar, dem Vorbild St. Brendans folgend, die irische Küste auf der Suche nach Einsamkeit und Einsiedelei verlassen, doch wie jüngste Untersuchungen zeigen, waren die Atlantikküsten Irlands, Schottlands und Islands in der Vergangenheit nie eine verlassene, von Stürmen gepeitschte Ödnis am Wasser, wie es lange Zeit von Schriftstellern und Historikern dargestellt wurde.
Aber egal, ob nun der Heilige Brendan selbst, andere irische Mönche oder tatsächlich die Wikinger zuerst nach Island kamen, die unbewohnte Insel, die sie vorfanden, war eine der Extreme. In einer Kurzgeschichte in seiner Comicbuchserie Northlanders fängt der amerikanische Autor Brian Wood (*1972) ein, welchen prägenden ersten Eindruck Island auf die Besatzung eines Wikinger-Handelsschiffs gemacht haben könnte. Die Nordmänner sind vom Kurs abgekommen, und just als sie die Insel erreichen, bricht ein Vulkan aus:
Der Wind flaute komplett ab, und die Männer hatten Blasen an den Händen, als sie das Schiff durch Wasser ruderten, das sich dick und zäh anfühlte wie Suppe, bis es wie das