Zucchero. Massimo Cotto

Zucchero - Massimo Cotto


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einen Zug mit Schwarz machte, um die Hitparaden schachmatt zu setzen. Im Reservoir in Paris, einer kleinen heidnischen Krypta, versteckt hinter der Bastille, umgeben von einem Wirrwarr von Gassen (das Lokal nebenan heißt nicht zufällig Cashba), wo Zucchero stundenlang den Ritus des Blues zelebrierte, bis irgendein Journalist ihn darauf hinwies, dass man, um zwei Uhr morgens, doch durchaus einen Happen essen gehen könnte. Und dann Dublin, Glasgow und Wien, in der Münchner Olympiahalle und in der Alten Oper von Frankfurt. Aber ich weiß nicht, warum – oder vielleicht weiß ich es sehr wohl –, die einzigen Momente jedenfalls, in denen Zucchero sich der Welt nicht als doppelt verglastes Fenster geöffnet hat, waren jene, in denen der Schauplatz seine Emilia war.

      Ich erinnere mich an einen unglaublichen Abend auf der Antica Corte von Gattatico, wenige Meter von Sant’Ilario d’Enza und wenige Kilometer vom Haus der Brüder Cervi entfernt. Der Geruch der Ställe, die frisch gedüngten Felder, die winterliche Kälte, die nur teilweise durch Glühwein und das Kaminfeuer vertrieben wurde, das Feuer auf der Tenne, wo die Kastanien aus Marola geröstet wurden. Zucchero, der im Che Guevara-T-Shirt auf den Heuboden stieg und unter den Balken und den halbrunden Ziegeln des Daches zu singen begann.

      Oder die Geburtstagsfeiern am Damm des Po, in Canato, auf dem Anwesen von Umbi, ursprünglich ein Kloster aus dem 16. Jahrhundert (derselbe Ort, an dem er 2001 auch Shake der internationalen Presse vorstellen würde und ein riesiger Funky Gallo an der Staatsstraße 16 den Weg dorthin wies), mit unglaublichen, cholesterinreichen Darbietungen bis um zwei Uhr nachts, wobei Zuccheros Mutter die Gäste empfing und sich die Tische im Freien unter tausenden rustikalen Köstlichkeiten bogen (»nach alten Rezepten zubereitet, nicht der Unsinn von heute«), die einem Film von Pupi Avati entsprungen zu sein schienen. Und die Hausdamen, die einem quasi bis zum Auto hinterherliefen: »Versuch noch ein wenig vom Culatello …«

      Oder der letzte, unglaubliche, venezianische Wahnsinn. Der Palazzo Ca’ Vendramin Calergi mit Blick auf die Lagune, ein prächtiger Ort, um die italienische und internationale Presse zu empfangen und Fly vorzustellen. Zucchero betritt spätabends die Bühne, um eine Handvoll neuer Lieder zu singen, verliert aber bald die Lust. Nach einer entzückend zerlumpten und stark alkoholisierten Darbietung von »Diamante« sagt er: »Jetzt ist es genug, machen wir etwas anderes.« Und er stürzt sich fast eine Stunde lang in Coverversionen, von »Everybody’s talking« bis zu »You are so beautiful«, von »Ho difeso il mio amore« von den Nomadi bis zu »Occhi di ragazza« in der Originalversion. Blues und Amerika, Folk und Canzone. Eine Einstellung voller Rock ’n’ Roll. Wer sonst hätte das gemacht?

      Oder die endlosen Abende in Pontremoli, wohin man sich besser nicht alleine begibt, denn die von den Nachbarn errichtete Schutzmauer ist äußerst stabil: »Ruhige und höfliche Leute. Sie bringen mir die Speisen, die sie zubereiten, Wein, Pilze, Gemüsekuchen. Sie sind phantastische Leibwächter. Wenn sie jemand anspricht und fragt, wo Zucchero wohnt, antworten sie: ›Und wer ist Zucchero?‹«

      Hier, an diesen Plätzen, and denen man sich lebendig fühlt, wenn man die Hände in die Erde gräbt, ist Zucchero er selbst: ein geplagter und innerlich gespaltener Mensch, problematisch und widersprüchlich, aber ein Mensch und nicht nur ein Rockstar. Hier ist seine Schüchternheit zart und wird nicht zur Maske, die die Kommunikation mit der Außenwelt erschwert. Warum Zucchero bei jemandem unbeliebt sein könnte, ist leicht zu verstehen. Die Welt der Musik ist von Künstlern bevölkert, die von Heuchelei gegenüber ihrem Kreis von Mitarbeitern leben und einem nur ihre Schokoladenseite anbieten, wobei sie den Managern oder den Pressebeauftragten die Rolle des Wolfshundes zuteilen, der knurrt, Angst einjagt und, schlimmstenfalls, beißt. Bei Zucchero ist das nicht so. Zucchero ist immer Mensch und Tier, Knurren und Streicheln. Ein Tag mit ihm kann eine schöne Erfahrung sein oder eine, die man lieber vermeidet, wenn er ungerechtfertigt provoziert wird (vor allem während der Monate der Songproduktion und der Fertigstellung eines neuen Albums). Aber wenigstens ist er wahrhaftig und kein Surrogat, gebrannter Schnaps und kein Fruchtsaft.

      In diesem Buch steckt allein Zucchero und Zucchero ganz allein. Er spricht von Träumen und Albträumen, Furcht, Liebe, Schmerz und Erinnerungen, Freunden, Feinden, Anekdoten, Depressionen, Liedern, Büchern, Wurzeln, Musik, Unsicherheiten, Ängsten, Freuden, Lachen, Werten, Launen und Lärmen.

      Gute Reise. Gegen den Wind.

      Massimo Cotto

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      MASSIMO COTTO: Fly ist ein Album, das in den Farben der Emilia Romagna leuchtet und klingt wie eine Hammondorgel.

      ZUCCHERO »SUGAR« FORNACIARI: Gäbe es Urheberrechte auf Wurzeln, wären meine Wurzeln außerordentlich reich.

      Ich wollte dieses Album eigentlich Cioca bec nennen. Als ich ein kleiner Junge war, gab es bei uns zu Hause nie viel zu essen. Es herrschte große Harmonie, aber wir hatten wenig Geld. Wir waren arm. Ständig fragte ich meinen Vater: »Was gibt es zu essen?«, und er antwortete: »Cioca bec.« So sagt man im Dialekt von Reggio Emilia zu einem Schnabel, der laut klappert, weil nichts darin ist; er ist leer. Ich aber habe das nicht verstanden und dachte: »Wann gibt er mir nun endlich dieses cioca bec?« Er gab es mir jedoch nie.

      Nun, und die Hammondorgel, sie ist heute mein Altar. Und sie hat mein neues Album gerettet, indem sie ihm eine Richtung gegeben hat. Wie immer, so ist es mir auch dieses Mal schwergefallen, wieder ins Schreiben hineinzufinden. Ich fragte mich: »Und was mache ich jetzt, wovon erzähle ich – nach 13 Alben?« Es gäbe natürlich immer viel zu erzählen, aber der schwierigste Schritt ist der allererste. Aus Prinzip vermeide ich stets, mich zu wiederholen, mein vorhergehendes Werk zu kopieren. Ich habe mich in meine Erinnerungen, meine Plazenta, geflüchtet. Mein Herz schlägt für die Po-Ebene; dort suche ich Trost. So erinnerte ich mich an jene Orgel, die ich in der Kirche spielte, als ich klein war; als ich Messdiener wurde, nur weil ich dann die Möglichkeit hatte, mich an die Orgel zu setzen und meine Hände über ihre Tasten gleiten zu lassen. Gleich darauf kam mir die Hammondorgel in den Sinn, die bis in die achtziger Jahre absoluter Hauptbestandteil erfolgreicher Musik war und die dann, als sich Dance und Disco durchsetzten, in Vergessenheit geraten ist. Und sie fehlte mir. Ich dachte über die verschiedensten Möglichkeiten ihres Einsatzes nach, zum Beispiel bei Procol Harum und Vanilla Fudge in den siebziger Jahren, als Progressive »in« war. Ich dachte auch an den Kontrapunkt von Bach.

      Die Gefahr bestand darin, ein altmodisches Album zu machen. Ich wollte kein »A whiter shade of pale« aufnehmen, ich wollte nur dessen Atmosphäre. Um diese Gefahr zu verringern, arbeitete ich mit jungen und älteren Musikern zusammen, mit Rocklegenden und sehr talentierten, aber unbekannteren Musikern: So sind da Brian Auger und Jim Keltner, Kenny Aronoff und Pino Palladino, Amir Thompson von den Roots und Randy Jackson, Michael Landau und Waddy Watchel zu hören. Ein wunderschönes Durcheinander also.

      Du hast »A salty dog« von Procol Harum neu aufgenommen.

      Ja, aber es ist eher ein neues Lied, das zur Original-Musik geschrieben wurde, als ein Cover. Der Text dazu stammt von mir und Panella, und der Titel lautet »Nel così blu«. Es gibt tausend Songs, die ich gerne geschrieben hätte, aber wenn ich mich für zwei entscheiden müsste, würde ich »A salty dog« und »Everybody’s got to learn sometimes« auswählen. Auch »Imagine« zählt dazu, aber sein Stil unterscheidet sich zu sehr von meinem. Die ersten beiden jedoch hätte ich schreiben können, nur hat dafür bereits jemand anderes vor mir gesorgt.

      Warum hast du das Album in Venedig vorgestellt?

      Ich finde, Venedig ist die ideale Stadt, um jene Harmonie zwischen der Schöpfung und dem menschlichen Wesen wiederzuerlangen, die sonst überall verloren geht. In Venedig ist das alles anders. Man hat ein anderes Zeitgefühl. Man lebt intensiver, weil die Uhren langsamer ticken; zumindest hat man diesen Eindruck.

      Wer sind heute die Truthähne?

      Diejenigen, die uns am Fliegen hindern. Bitte verlange nicht, dass ich Namen nenne; sie sind nicht wichtig. Jeder von uns hat seine eigenen, speziellen Truthähne. Wenn ich von der Sehnsucht vom Fliegen spreche, meine ich nicht nur den Wunsch, mich körperlich in die Lüfte zu erheben, sondern auch durch die Macht der Musik, der Träume, der Ziele. Ich stelle fest, dass dort immer ein oder auch mehrere


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