Nirvana. Michael Azerrad

Nirvana - Michael  Azerrad


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in einem der zahlreichen Sägewerke der Stadt.

      Im Vergleich zum sonnigen Kalifornien mochte Chris Aberdeen überhaupt nicht. „Alles sprach dagegen,“ sagte er. „Dauernd Wolken und Regen, und die Straßen sind voller Dreck von den LKWs. Die Häuser sind alle schmutzig. Es ähnelt irgendwie einer ostdeutschen Stadt. Alles ist so feucht, dass sogar das Holz weich und morsch wird und alles auseinanderfällt.“

      Wie Kurt hatte es auch Chris in der Schule nicht leicht, denn auch er passte nicht dazu. Das Klischee, das man mit Kalifornien verbindet, erwies sich als richtig – dort war wirklich alles lockerer gewesen. „Ich war verblüfft über diese unheimlich verdrehte Gesellschaft in Aberdeen“, sagte Novoselic. „Alle kamen mir viel verschlossener und strenger vor.“

      Die Aberdonians trugen lederne Tennisschuhe und Glockenhosen, aber Chris trug geschlossene Schuhe und gerade geschnittene Levi’s. Wer gerade geschnittene Hosen trug, galt als Idiot. „Drei Jahre später trugen sie dann alle gerade Hosen, und ich hatte unnötig dafür gelitten“, sagte Chris.

      Außerdem war er sehr groß – als er aus der Highschool kam, schon knapp über zwei Meter. Seine Eltern hofften, dass aus ihm ein Basketballspieler werden würde, aber seine Größe machte ihn nur linkisch. „Ich war einfach daneben, mehr als alles andere“, sagte Chris. „Ich war wirklich deprimiert, als ich nach Aberdeen kam. Ich kam mit niemandem aus. Ich verschlief den ganzen Nachmittag oder hörte alleine Musik, weil ich mit den anderen Kids nicht klarkam. Sie waren Arschlöcher. Sie behandelten mich wirklich mies. Ich verstand es nicht. Aber sie waren einfach nicht cool.“

      Während Chris auf Bands wie Led Zeppelin, Devo, Black Sabbath oder Aerosmith stand, hörten die Gleichaltrigen nur Top Forty – wahrscheinlich, weil die örtliche Radiostation sonst nichts anderes sendete. Chris musste sich im Schulbus immer Top Forty anhören, zum Beispiel Kenny Rogers, der „Coward of the County“ trällerte. Immer und immer wieder.

      Zum Glück war wenigstens die Geographie gnädig zu Chris Novoselic. Das Haus der Famile stand auf dem Think-of-Me-Hill (der Hügel hieß so, weil es um die Jahrhundertwende dort ein großes Werbeschild für Think-of-Me-Tabak gegeben hatte). Er war die höchste Erhebung in Aberdeen, daher war der Radioempfang außerordentlich gut – an klaren Tagen konnte er sogar Portland, Oregon, hereinbekommen. So lag er in seiner Depression in seinem Zimmer und hörte sich stundenlang die Rock-Sender aus Seattle an.

      Im Juni 1980 machten sich seine Eltern wegen seiner Depressionen so große Sorgen, dass sie ihn zu Verwandten nach Kroatien schickten. Chris hatte schon vorher ein bisschen Kroatisch aufgeschnappt und spricht immer noch fließend. Er liebte das Leben dort – er schloss viele Freundschaften, die Schule war ausgezeichnet. Und er bekam etwas zu Ohren, das sich „Punkrock“ nannte: Er entdeckte die Sex Pistols, die Ramones und sogar ein paar jugoslawische Punk-Bands. Aber es prägte sich nicht allzu stark ein. „Für mich war es einfach Musik“, erinnerte sich Chris. „Es hatte keine tiefere Bedeutung – es war einfach Musik, die ich mochte.“ Nach einem Jahr holten ihn seine Eltern wieder zurück.

      „Es war die Hölle“, sagte Chris. Er begann, stark zu trinken und Unmengen von Pot zu rauchen. „Ich war immer schon ein großer Säufer,“ sagte er. „Wenn ich einmal anfange, höre ich nicht mehr auf. Ich mag es deshalb so gerne, weil man in so eine Art Comic-Land kommt, in dem alles möglich ist. Du nimmst alles wie durch einen Nebel wahr, und gleichzeitig macht alles und nichts einen Sinn. Es ist verrückt. Es ist eine andere Wirklichkeit und eine andere Bewusstseinsstufe.“

      Chris wurde ein berühmter Partygänger. „Auf den Parties begrüßten sie ihn immer mit ,Hey, Novie!‘“ sagte Matt Lukin. „Er war bekannt als der große durchgeknallte Kerl, der immer für eine ausgeflippte Aktion gut war. Sie hielten ihn einfach für ulkig. Er ging auf die Partys und führte sich auf.“

      Er hatte zwar einige Bekannte, mit denen er meistens zusammensteckte, aber man konnte sie nicht wirklich Freunde nennen. „Ich war mit ihnen zusammen, weil ich keine andere Möglichkeit hatte“, sagte Chris. „Die Atmosphäre war eigenartig und ungemütlich.“ Später bekam er einen Job bei Taco Bell in der Stadt und stürzte sich in die Arbeit. Er arbeitete jeden Tag, ging nie aus und legte das gesamte Geld auf die Seite. Im letzten Jahr auf der Highschool besaß er ein Auto, Stereolautsprecher und eine Gitarre. Zusammen mit seinem Bruder Robert nahm er Gitarreunterricht und erzählte seinem Lehrer Warren Mason (der auch Kurts Lehrer gewesen war), dass er den echten Blues spielen wollte. Nach ein paar Monaten hörte er mit dem Unterricht auf und übte stundenlang in seinem Zimmer — er und sein Bruder versuchten, alte B. B. King-Platten Ton für Ton nachzuspielen.

      Dann lernte er Buzz Osborne kennen.

      Chris hatte bei Taco Bell einen Arbeitskollegen namens Bill Hull, dessen Ruhm sich vor allem darauf gründete, aus der Aberdeen Highschool hinausgeworfen worden zu sein, weil er im Glashaus eine Rohrbombe gelegt hatte. Als Hull auf die Montesano High kam, machte er dort die Bekanntschaft von Buzz und Matt Lukin. Eines Tages besuchten die beiden Hull bei Taco Bell. „Und dieser lange, dämliche Kerl sang dort laut zu den Weihnachtsliedern, die als Hintergrundmusik liefen“, erinnerte sich Lukin. Chris erwähnte beiläufig, dass er Gitarre spielte, und kurz darauf lud ihn Osborne nach Montesano ein.

      Sie sprachen über Weltanschauungen, und Osborne begeisterte ihn für die neue Musik – von den Vibrators, Sex Pistols, Flipper, Black Flag und den Circle Jerks. „Es war wie ein Wunder: Wow, Punkrock!“, sagte Novoselic mit noch immer glänzenden Augen. „Ich vergaß sofort die ganze stupide Metallmusik – Ozzy Osbourne, Judas Priest, Def Leppard, alles Mist. Ich konnte es einfach nicht mehr hören. Es war Scheiße, es hatte jede Anziehungskraft verloren. Sammy Hagar, Iran Maiden, ich mochte das Zeug nicht mehr. Das Einzige, was überblieb, waren Sachen wie Led Zeppelin oder Aerosmith.“ – Es hatte übrigens auch eine Prog-Rock-Phase in seinem Leben gegeben – ja, Emerson, Lake and Palmer und anderes von der Sorte –, aber, um Chris’ Lieblingsworte zu verwenden: „Ich sprang nie darauf an.“

      Wie bei Kurt kam auch bei Chris die Reaktion auf Punkrock mit Verzögerung. „Es erwischte mich nicht gleich, weil es so live klang,“ sagt Chris. „Es dauerte ungefähr eine Woche, bis es mich voll traf. Ich hörte mir Generic Flipper an, und das Album bewegte mich. Es war so etwas wie Kunst. Es war ein Kunstwerk. Es war so echt. Viele bewundern Led Zeppelin IV oder das Weiße Album, aber das da stand auf der gleichen Stufe. Es hat mein Leben umgekrempelt.“

      Er begann, Punkfanzines wie Maximumrocknroll zu verschlingen, entdeckte politische Hardcore-Bands wie MDC und las alles, was er in die Finger kriegen konnte, über Themen von Anarchismus bis zu den Rechten der Tiere. Er entdeckte Bands wie die Butthole Surfers, Minor Threat und Hüsker Dü. Er quetschte sich mit einem Haufen Freunde in Matt Lukins riesigen blauen Impala, um zu Punkrock-Konzerten nach Seattle zu fahren – zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Aus Scheu vor der Großstadt blieben sie immer unter sich. Etwa um diese Zeit brachte Chris’ Bruder Robert seinen Freund Kurt Cobain in das Haus der Novoselics. Als Kurt sich nach dem Lärm erkundigte, der von oben zu hören war, antwortete Robert: „Oh, das ist mein Bruder Chris. Er steht auf Punkrock.“ Kurt hielt das für sehr cool und speicherte die Information.

      1983 wurde Chris mit der Schule fertig. Bald darauf ließen sich seine Ekern scheiden. Das war an sich schon schlimm genug, aber dazu kam noch, dass Chris eine Gesichtsoperation über sich ergehen lassen musste – die Ärzte schnitten ein Stück Knochen aus seinem Kiefer und rückten ein paar Zähne nach vorne, um seinen schweren Unterbiss zu korrigieren („Ich sah aus wie Jay Leno“, sagt er).

      Lukin erinnerte sich, dass er ihn mit Osborne am Tag der Operation besucht hatte. Sie läuteten und läuteten, aber niemand machte auf Dann warfen sie Kieselsteine gegen sein Fenster. „Als wir gerade aufgeben wollten, öffnete sich das Fenster, und wir sahen seinen riesigen, total verschwollenen Kopf – er sah aus wie ein fettes orientalisches Kind, wie ein Elefantenmensch, der aus dem Fenster schaut.“ Chris war zornig, weil sie ihn aus dem Narkoseschlaf geweckt hatten. Seine Kiefer wurden mit Drähten zusammengehalten, aber irgendwie schaffte er es, seinen Freunden etwas mitzuteilen: „Ihr Ärsche!“ schrie er.

      Die Drähte blieben sechs Wochen lang in Chris’ Kiefer. Trotzdem ging er auf Partys wie immer, mit dem einzigen Unterschied, dass er eine Drahtschere


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