Nirvana. Michael Azerrad
zusammen, dabei stellte sich heraus, dass er absolut keine musikalische Begabung hatte“, schwang immer noch die Enttäuschung in Kurts Stimme. „Er konnte nicht einmal ,Louie, Louie‘ spielen.“
Kurt bekam bald einen Job als Hausmeister an der Aberdeen Highschool. Die meiste Zeit verbrachte er mit dem Abkratzen von Kaugummis von der Unterseite der Tische. Es war das Letzte. Eines Tages schmuggelte er einen Karton mit Rasierschaum nach Hause und verzierte damit eine Puppe, bis sie aussah, als wäre sie dem Film Der Exorzist entstiegen. Er ließ die Puppe am Hals aus dem Fenster baumeln, das auf den Gehsteig hinausging, um die Passanten zu erschrecken.
„Die Wohnung war in typischer Punk-Manier dekoriert, mit blutüberströmten erhängten Baby-Puppen an den Wänden und Bier, Erbrochenem und Blut auf dem Teppich. Der Mist stapelte sich monatelang, und ich wusch nie ab. Jesse und ich kochten ungefähr eine Woche lang und setzten dann das fettige Geschirr unter Wasser, und dort blieb es die ganzen fünf Monate.“ Außerdem gab es andauernd Partys, die immer in Rasierschaumschlachten gipfelten.
Am Rande der Proben der Melvins hatte sich Kurt mit Chris Novoselic angefreundet. Chris hatte erwähnt, dass er Gitarre spielte, sie hörten Musik, tranken und machten kleine Super-8-Filme mit Chris’ Kamera. Manchmal kam auch die Freundin von Chris, Shelli, in die Wohnung. Sie waren Ausgestoßene, aber sie waren es wenigstens miteinander. „Wir hatten so viel gemeinsam“, sagte Shelli. „Das Motto war: Wir gegen den Rest der Welt. Es war toll, wir bildeten eine verschworene Gemeinschaft, und nichts konnte uns etwas anhaben. Wir waren viel offener und toleranter als die anderen. Es war wirklich schön.“
Nach drei Monaten zog Jesse Reed aus und ging zur Navy.
Eines Tages hatte Kurt zusammen mit einem Freund, der mit einem Motorroller gekommen war, Acid genommen. Als der Freund etwas von seinem Roller holen wollte, fiel Kurts spießiger Nachbar über ihn her und schlug auf ihn ein, weil der Roller auf seinem Grund abgestellt war. Kurt hörte die Aufregung, lief hinunter und sah seinen Freund flüchten. Der Nachbar schnappte sich Kurt und stieß ihn zurück in die Wohnung, wo er ihn zwei Stunden lang prügelte und misshandelte wie in einem Katz-und-Maus-Spiel. Als er endlich damit aufhörte, sah er erst die verstümmelten Barbie-Puppen, die Zeichnungen der dreiköpfigen Babys, die Graffiti und den ganzen Schmutz und Abfall. Ein Schatten von Angst und Verwirrung kam über sein Gesicht. „Er begann mich auszufragen“, sagte Kurt, „warum ich das alles in meinem Zimmer hätte.“ Wieder malträtierte er Kurt, und der schrie, bis die Vermieterin aus dem unteren Stockwerk lauthals mit der Polizei drohte. Der Kerl verschwand. Die Polizei riet Kurt, es sich nicht gerichtlich mit ihm anzulegen.
Kurt bekam seine Rache. Den ganzen nächsten Monat lang terrorisierten er und seine Freunde den Nachbarn. Sie hämmerten gegen seine Wände, bedrohten ihn mit dem Tod, und der Kerl verkroch sich in seiner Wohnung. Kurt erzählte, dass sie kleine Geschenke an seiner Eingangstür hinterließen, wie eine Sechserpackung Bier mit LSD versetzt oder die Zeichnung eines erhängten Rednecks.
Kurt blieb noch ein paar Monate, nachdem Jesse ausgezogen war. Es gelang ihm zunächst, die Vermieterin dazu zu bringen, ihm die Miete zu stunden, doch bald bemerkte sie, in welchem Zustand sich das Appartement befand. Das ganze Stiegenhaus war voll mit den Graffiti seiner Freunde, die Wohnung selbst war ein Schlachtfeld.
Kurt konnte die Miete nicht mehr zahlen und zog letztendlich mit einigen Monaten Rückstand im Herbst 1985 aus. Er war arbeitslos, besaß praktisch keinen Pfennig und verbrachte den Winter in der öffentlichen Bibliothek, wo er las und Gedichte schrieb. Am Abend kaufte er eine Packung Bier und ging zu einem Freund, wo sie sich betranken und er dann auf der Couch übernachtete. Manchmal schlief er auch in einem Karton an Dale Crovers Hintereingang, manchmal im Kombi von Chris und Shelli, oder er schlich sich ins Haus seiner Mutter, während sie bei der Arbeit war, und versteckte sich am Dachboden, um dort zu schlafen. Manchmal übernachtete er sogar unter der North Aberdeen Bridge, die in der Nähe von Wendys Haus über den Wishkah River führte.
Als Alleinstehendem standen Kurt Essensmarken im Wert von 40 Dollar pro Monat zu, aber er verwendete sie nur selten für den Kauf von Lebensmitteln. Er und seine Freunde schwärmten in der Stadt aus, kauften überall ein paar Süßigkeiten, und verwendeten das Restgeld für Bier. So eine Operation war die Arbeit eines ganzen Tages.
Er war ziemlich stolz darauf, ohne Arbeit und ohne Zuhause überleben zu können. Seine einzige Beschäftigung war es, Lebensmittel zu stehlen, Fische aus dem Fluß zu fangen, sich Essensmarken zu besorgen und von Zeit zu Zeit von seinen Freunden Makkaroni und Käse zu schnorren. „Ich lebte die Aberdeen-Version eines Punkrockers aus“, sagte Kurt. „Es war ganz einfach. Es war gar nichts im Vergleich dazu, was auf die Kids zukam, die in die Großstadt flüchteten. Es gab auch nie eine bedrohliche Situation, niemals.“ Kurt hätte es gereizt, nach Seattle zu ziehen, aber er traute sich nicht alleine in die große Stadt (schließlich war er bisher kaum über die Gegend Aberdeen-Montesano hinausgekommen), und niemand außer ihm war mutig genug mitzutun.
Manchmal besuchte er Wendy, sie machte ihm dann ein Essen. Sie sagte: „Wegen meiner Schuldgefühle – dass ich ihn verstoßen und zu seinem Vater geschickt habe – habe ich ihn immer verwöhnt. Er kam, und ich kochte schon. Weil ich mich schuldig fühlte, schrecklich schuldig.“
Wendy wurde wieder schwanger und war sehr verzweifelt, weil sie sah, was aus Kurt geworden war. „Ich habe mein erstes Kind komplett verpfuscht, was soll ich also mit einem zweiten?“, erinnerte sie sich an ihre Gedanken. „Und eines Tages, als ich schon hochschwanger war und gerade weinte, kam er und fragte mich, was los wäre, und ich erzählte ihm von dem fürchterlichen Gefühl, ein Kind in mir drinnen und eines draußen auf der Straße zu haben, und er kniete sich einfach hin, umarmte mich und sagte, dass es ihm gut ginge und ich mir keine Sorgen machen müsste und alles gut werden würde.“
In diesem Winter tat sich Kurt mit Dale Crover am Bass und Greg Hokanson am Schlagzeug zusammen, und sie probten ein paar seiner Sachen. Einmal trat das Trio, das Kurt Fecal Matter getauft hatte, im Vorprogramm der Melvins auf in der Spot Tavern von Moclips, einer abgelegenen Kleinstadt an der Küste. Nach einer Weile trennten sie sich von Hokanson, den sie ohnedies nicht sehr gemocht hatten. Die beiden begannen intensiv zu proben, sie wollten ein Demoband aufnehmen. Matt Luk in saß am Steuer des blauen Impala, mit dem sie nach Seattle zu Kurts Tante Mary – der Musikerin – fuhren, denn die hatte schließlich ein Vierspur-Tonbandgerät.
Mary war verblüfft über die Aggressivität in Kurts Gesang. „Sie hatte nie geahnt, dass ich so ein zorniger Mensch war“, sagte Kurt. Er nahm die Gitarren direkt in das Vierspur-Gerät auf – eine klassische Low-Budget-Technik des Punkrock, die er Jahre später bei „Territorial Pissings“ auf Nevermincl wiederverwendete. Sie nahmen sieben Nummern auf mit Titeln wie „Sound of Dentage“, „Bambi Slaughter“ oder „Laminated Effect“ (klanglich ein Mittelding zwischen Neverminds „Stay Away“ und dem MTV-Thema), aber auch eine verlangsamte Instrumentalversion von „Downer“, einer Nummer, die sich später auf dem Album Bleach fand. Das Fecal-Matter-Band enthielt einige der Zutaten, die Kurts spätere Musik auszeichneten – vor allem die ultraharten Gitarrenriffs, aber auch die atemberaubenden Tempi und die eigenartig knorrige und griesgrämige Art, einen Song aufzubauen – mit Anleihen sowohl bei den Melvins als auch bei Metallica. Man konnte noch nicht gerade von starken Melodien sprechen, und Kurts Gesang wechselte zwischen einem rauen Bellen und einem Gekreische, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Später probte Kurt das Fecal-Matter-Material mit Buzz Osborne am Bass und dem früheren Melvins-Schlagzeuger Mike Dillard, doch dann verlor Dillard das Interesse, und das endgültige Aus für das Projekt kam, als, so Osborne, „Kurt nicht mehr wollte, weil ich mich weigerte, eine Bassverstärkeranlage zu kaufen, und er mir daraufhin vorwarf, dass es mir nicht wichtig genug wäre.“
Kurt hatte in der Aberdeen Highschool einen Hardcore-Partygänger namens Steve Shillinger kennengelernt, dessen Vater dort Englischlehrer war. Shillinger war Kurt erstmals aufgefallen, weil er „Motorhead“ auf seine Mappe geschrieben hatte. Shillinger erinnerte sich an die Aufnahmen von Kurt mit Titeln wie „Suicide Samurai“ als „wirklich miese Heavy-Metal-Songs“. Bei ihrer ersten gemeinsamen Unternehmung – einem Metal-Church-Konzert – ließ ihn Shillinger sitzen, weil „es nicht genug zu saufen gab und ich ihn nicht so gut kannte.“